Pruning – gezielte Optimierung
Schon bald nach der Geburt ist die Höchstzahl der Nervenzellen im Gehirn erreicht (ca. 60 Milliarden). Es fehlen nun noch größtenteils die verbindenden Synapsen. Die Zahl der in den ersten Lebensjahren entstehenden Synapsen erreicht mehrere Billionen und bildet mit den Zellen ein dichtes Netzwerk (vgl. Böttger 2016: 63). Es repräsentiert anatomisch die ungeheure Lernfähigkeit dieser frühen Altersspanne, die die Aufnahme von unzähligen Eindrücken und Impulsen ermöglicht. Dies geht zu Lasten von Konzentrationsfähigkeit und präziser Handlungseffizienz, die erst mit der EntwicklungEntwicklung in der PubertätPubertät erreicht werden können. Im Alter von etwa zehn Jahren wird die steile Synapsenentwicklung eingebremst. Die Atrophie ungenutzter ZellverbindungenZellverbindungen, die gegenüber der bisherigen Entwicklung nicht auffallend war und jetzt ein Gleichgewicht erreicht hat, nimmt schlagartig zu: Die Dysbalance kehrt sich um, die Entwicklung schaltet nun von Quantität auf Qualität und zwar nutzungsabhängig.
Use it or lose it heißt das neue Prinzip der HirnentwicklungHirnentwicklung, also Benützen oder Verlieren von neuronalen Verbindungen – Letzteres wird auch Pruning (engl., von Zurückschneiden, Stutzen) genannt. 30000 Nervenverbindungen werden pro Sekunde während der PubertätPubertät rückgebaut, umgerechnet also über 2,5 Milliarden täglich.
Dies geht einher mit einer Zunahme des Zellkörpervolumens. Bis zum Ende der AdoleszenzAdoleszenz sind es 50 Prozent aller seit Erreichen des Maximums bestehenden Synapsen. Das bedeutet einen massiven Substanzverlust (vgl. Abb. 4), jedoch zu Gunsten qualitativer Verbindungen, die nutzungsabhängig bestehen bleiben.
Wenngleich die Synapsendichte im Frontalhirn, dem Entscheidungszentrum hinter der Stirn (vgl. 1.2.2), nach der PubertätPubertät abgenommen hat, ist das Volumen des Gehirngewebes jedoch gleich geblieben (Blakemore 2006: 163).
Volumenänderung im Gehirn
Volumenänderung im Gehirn (nach Giedd et al. 1999: 861ff.)
Der Optimierungsprozess war lange unbekannt, wurde noch länger unterschätzt und sogenannte „pubertäre“, nicht immer rational erklärbare Verhaltensweisen Jugendlicher wurden ihm zugeordnet. Jedoch handelt es sich dabei um eine Erhöhung der Hirnleistungsfähigkeit durch die Entfernung überflüssiger und energieverbrauchender Leitungsmuster (vgl. Abb. 5). Parallel verstärken sich die synaptischen Verbindungen, über die häufig und intensiv elektrische Impulse übertragen werden.
Synaptische Verbindungen vom 10. Lebensjahr (links) bis zum Ende der PubertätPubertät (rechts)
Synaptische Verbindungen vom 10. Lebensjahr (links) bis zum Ende der Pubertät (rechts) (nach Geo kompakt 45/2015: 48)
1.2.2 MyelinisierungMyelinisierung der Großhirnrinde
Die PubertätPubertät setzt ein während eines bereits nach der Geburt begonnenen Reifungsprozesses, der parallel zum Pruning verläuft: die MyelinisierungMyelinisierung. Die graue Substanz der Großhirnrinde, bestehend aus den Neuronen (Nervenzellen), reift bis zum Alter von 14 Jahren, dann fällt die Reifungskurve bereits ab. Ihre langen Nervenfortsätze bzw. -fasern, die Verbindungsleitungen, zwischen wenigen Millimetern und bis zu einem Meter lang, werden sukzessive mit einer eiweißhaltigen Fettschicht ummantelt, dem Myelin (vgl. Böttger 2016: 66; Konrad et al. 2013). Myelin ist hell, nahezu weiß, und wird deshalb auch als weiße Substanz bezeichnet. Wie die isolierende Ummantelung eines elektrischen Kabels sorgt die Myelinschicht einerseits für Schutz der Fortsätze (Axone), andererseits aber auch für eine höhere Leitungsgeschwindigkeit ohne Verlust der neuronalen Impulse. Diese kann bis über 400 km/h erreichen.
Anders als lange angenommen, ist die Zeit der PubertätPubertät auch eine Zeit der sich schnell und steil entwickelnden Potenziale. Durch die MyelinisierungMyelinisierung werden Verbindungen zwischen Hirnarealen, auch solchen, die weiter auseinanderliegen, effizient.
Die MyelinisierungMyelinisierung verläuft zuerst über die primären sensorischen und motorischen ArealeAreale des Kortex, insbesondere solche für das Hören, Sehen und Fühlen, sowie Bewegungen. Erst in der PubertätPubertät sind am Ende dieser EntwicklungEntwicklung alle Teile des präfrontalen Kortex mit den anderen Hirnarealen verbunden. (Böttger 2016: 91)
Diese EntwicklungEntwicklung hat demnach eine festgelegte Richtung, von posterior nach anterioranterior, von hinten nach vorne. Denken allgemein, kognitive Fähigkeiten, aber auch Sprachaufnahme, -verarbeitung und -produktion beschleunigen sich mit dieser Entwicklung. Insbesondere der präfrontale Kortex, der StirnlappenStirnlappen, wird weitgehend neu organisiert (vgl. Abb. 6).
Der präfrontale Kortex, auch Stirnhirn genannt, operiert kognitiv, antizipativ, exekutiv und evaluativ: Wichtige, nicht nur für das Sprachenlernen relevante Entscheidungen werden hier getroffen. Der „CEO des Gehirns“ aktiviert beim Sprachenlernen neue Hirnareale, in denen nach
Übung und Wiederholung sprachliche Informationen gespeichert werden, Handlungsplanungen und Entscheidungen stattfinden sowie Antizipationen, das Vorhersehen von Handlungen, ablaufen. Übungen führen zu Automatisierung/Habitualisierung: Neue Verhaltensmuster aktivieren zu Lernbeginn größere ArealeAreale im Kortex. Je häufiger neue Muster wiederholt werden, desto stärker bildet sich der belegte Bereich im Kortex zurück, die neuen Erfahrungen werden in subcortikale Bereiche und damit in das Unbewusste verlagert. Der präfrontale Kortex entwickelt sich am langsamsten und erst zuletzt vollständig. (Böttger 2016: 46)
Wenn er dann vollständig entwickelt ist, die synaptischen Verschaltungen, die Kortexbereiche untereinander sowie die tieferen Bereiche des Gehirns zu einem Konnektom zusammenführen, dann sind auch die kognitiven Prozesse und Exekutivfunktionen im präfrontalen Kortex feinabgestimmt (vgl. Barkovich 2000; Benes et al. 1994).
Dynamischer Umbau der grauen Substanz durch MyelinisierungMyelinisierung
Dynamischer Umbau der grauen Substanz durch Myelinisierung (nach Gogtay et al 2004: 8178)
1.2.3 Limbisches System
Der Prozess des qualitativen Umbaus hat auch seinen Preis. Er führt zunächst zur Spezialisierung, einer Art finetuning motorischer Fähigkeiten, auch im Bereich der Sprache. Das Neurotransmittersystem des Gehirns, verantwortlich für die Übertragung der Impulse von einer Nervenzelle auf andere durch Botenstoffe, verändert sich.
So erhöht sich bei der Aussicht auf BelohnungBelohnung, Belohnungssystem beispielsweise die KonzentrationKonzentration des im Volksmund und populärwissenschaftlich fälschlicherweise als „Glückshormon“ bezeichneten Neurotransmitters DopaminDopamin im StirnlappenStirnlappen, dem präfrontalen Kortex, und vermindert dessen LeistungsfähigkeitLeistungsfähigkeit. Gleichzeitig steigt sie im Nucleus accumbens mit seinen Dopaminrezeptoren an. Dopamin ruft GefühleGefühle der MotivationMotivation, der Euphorie und der Vorfreude hervor und überschwemmt das Gehirn buchstäblich.
Das „Übermannen der GefühleGefühle“, RisikobereitschaftRisikofreudigkeit, -bereitschaft und der Drang nach Anerkennung durch die peergroup hat seinen Ursprung dort im (meso)limbischen System: Vom Mandelkern (AmygdalaAmygdala), der die Information von außen verarbeitet, wallen sie ungefiltert und häufig unkontrollierbar hervor (vgl. Abb. 7). Durch diese während der AdoleszenzAdoleszenz typischerweise erhöhte Aktivität der Amygdala bei der emotionalen Reizverarbeitung können variable Gefühlszustände (vgl. Kap. 3.3) korrelieren, so z.B. verminderte AufmerksamkeitAufmerksamkeit oder impulsive Reaktionen auf Stressoren: Von himmelhoch jauchzend bis zutiefst betrübt reicht die emotionale Spanne. Dies schließt mögliche depressive Affekte mit ein (vgl. Spear 2010).
Das limbische System ist vor allem eine funktionale, weniger eine anatomische, Einheit und