Wo ist meine Story? Dabei sein ist alles. Improvisieren aber auch. Der klassische Olympia-Reporter ist ein Flaneur, der unermüdlich dazulernt und ständig auf der Suche nach Orientierung ist. Von Roland Zorn Die Versatzstücke des großen Sportkinos Olympia sind an jedem Wettkampftag dieselben: Es geht um Siege, Ehre, Medaillenglanz in einer Arena, die aufgeladen ist mit Gefühlen, Pathos, persönlichem plus nationalem Ehrgeiz. Übrig bleiben am Ende der möglichst dramatischen Konkurrenz aber auch die heldenhaften Verlierer, an die sich das Publikum noch Jahre später erinnert. Und natürlich Tausende Athleten, die ihren persönlichen olympischen Moment hatten, der die öffentliche Aufmerksamkeit nicht einmal streifte. Mittendrin in dem Tag für Tag ähnlichen Unterhaltungsprogramm zwischen den Stars, die ihre goldenen Momente bis zur Neige auskosten, und den Komparsen, die zur Gesamtkomposition Olympischer Spiele als Farbtupfer des großen Ganzen gehören, suchen schreibende Reporter nach ihrer Geschichte zwischen der Unmittelbarkeit des Erlebten und dem Stoff, der jenseits der global transportierten Fernsehbilderflut zur individuellen Nachverwertung taugt. Für sie geht es darum, aus evidenten Dramen Geschichten zu machen, welche günstigenfalls den Tag überdauern, und aus peripheren Begegnungen Skizzen, die den Geist dieser ganz besonderen Sommer- und Winterfeste spiegeln. Sie sind, mal beschreibend, mal erklärend, mal einordnend, mal kommentierend, Mittler zwischen den Schauplätzen, an denen sich das Spektakel unmittelbar, mal laut, mal leise, programmatisch verdichtet, und den weit entfernten Orten, an denen Leser die olympischen Showacts nacherleben wollen. Für manchen olympischen Begleiter aber, für den das Dabeisein bei den Spielen alles ist, empfiehlt es sich trotzdem, möglichst behutsam und nicht über die Maßen kennerhaft mit den Erlebnissen umzugehen, die jeder der fünfzehn Wettkampftage in Hülle und Fülle bietet. Das Gros der für eine solche panathletische Show akkreditierten Autoren ist mit der Fülle der olympischen Sportarten nicht allzu vertraut. Das kann auch Momente hervorrufen, die einem zunächst peinlich sind, wenig später aber ziemlich komisch vorkommen. So erging es mir bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville. Da gewann zu seiner eigenen Überraschung der Berliner Eisschnellläufer Olaf Zinke die Goldmedaille im 1000-Meter-Rennen. Pech und Glück zugleich für mich, dass ich an jenem 18. Februar als einziger F.A.Z.-Reporter im nahen Pressezentrum war und, perplex wie Zinke selbst, dessen Sieg am Bildschirm erlebte. Olaf Zinke? Wie sieht der bloß aus, dachte ich auf dem Weg zur Eisschnelllauf-Arena über einen Olympiasieger nach, den ich nicht auf dem Schirm hatte. Auf den Sprinter Uwe-Jens Mey, der drei Tage vorher den 500-Meter-Lauf erwartungsgemäß gewonnen hatte, war ich vorbereitet. Er war schon zu DDR-Zeiten ein Star seiner Szene wie auch die über 3000 und 5000 Meter fast unschlagbare Erfurterin Gunda Niemann, die sich in Albertville ihren Weg zum Doppelgold bahnte. Seit Jahren vertraut mit der internationalen Eiskunstlauf-Elite, hatte ich mich vor der Reise in die Savoyer Alpen mit der Vita dieser nun für ganz Deutschland startenden Koryphäen ihres Sports beschäftigt. Über das Leben und die Laufbahn des Olaf Zinke aber wusste ich nichts. Und das bekam ich auf Anhieb zu spüren, als ich kurz nach dessen goldenem Moment an der Freiluftarena L’Anneau de Vitesse ankam. Flugs sah ich auch einen Athleten im deutschen Trikot, der aber mit meinem Eingangssatz „Herr Zinke, herzlichen Glückwunsch zur Goldmedaille“ nicht viel anfangen konnte. Warum auch? Ich hatte den Falschen angesprochen: Peter Adeberg, der in Albertville Rang fünf belegte. Eher mürrisch wies der andere Berliner auf die Verwechslung hin: „Ich bin nicht Herr Zinke, Herr Zinke steht dort drüben!“ Aha. Also begann die Annäherung an einen Olympiasieger, der als Außenseiter in das Departement Savoyen gereist war und dort seinen schönsten Tag auf der Eisbahn erlebte, mit einem Ausrutscher. „Herr Zinke“ bekam davon nichts mit und parlierte munter über sich und seinen olympischen Feiertag. So viel zur olympischen Begegnung zweier Überraschter. Dass ich, bei den Winterspielen wegen meiner Eiskunstlauf-Expertise oft eingesetzt, im selben Jahr auch noch bei den flirrenden Sommerspielen von Barcelona dabei sein durfte, kam mir wie ein großes Geschenk vor, weil ich schon vier Jahre zuvor in Seoul das hochintensive Gefühl ausgekostet hatte, zwei völlig überdrehte, kräftezehrende Wochen zwischen schierer Begeisterung über eine Fülle großartiger Leistungen und blankem Entsetzen über den Jahrhundert-Doping-Sündenfall Ben Johnson erlebt zu haben. Immer an einem Ort und doch stets mobil und woanders zu sein, ständig auf der Suche nach Orientierung bei sonst weniger im Rampenlicht glänzenden Disziplinen wie dem Ringen oder dem Sportschießen zu bleiben und zwischendurch bei den olympischen Superstars vorbeischauen zu dürfen, das kam mir als olympischem Gelegenheitsbeobachter wie der Blick durch ein riesiges Kaleidoskop vor. Andererseits habe ich dann auch schnell gewusst, dass es für mich als journalistischen Flaneur entlang der olympischen Schaubühnen und Marktplätze nicht zuerst darum ging, immer mehr Knowhow über die Sportart X oder Y anzusammeln. Wichtiger war das Gespür für die Haupt- und Nebendarsteller der gigantischen Show und für das olympische Flair, das die einzelnen Wettbewerbe überstrahlte. Die südkoreanische Hauptstadt Seoul, nur fünfzig Kilometer entfernt von den koreanischen Brüdern aus Nordkorea, das damals die Spiele boykottierte und ähnlich bizarr-stalinistisch anmutete wie heute, nutzte ihre olympische Premiere vor allem dazu, um der Welt des Sports ein guter und auf alles präzise vorbereiteter Gastgeber zu sein. Seoul funktionierte. Das zur Feier der Spiele um einen pittoresken Stadtstrand bereicherte und auf den genuinen Reiz dieser mediterranen Kapitale setzende Barcelona machte dagegen vier Jahre später aus der einmaligen Gelegenheit ein katalanisches Weltfest, das pure Lebensfreude und mediterranen Genuss an zwei Partywochen im Zeichen des Spitzensports verströmte. Die Stadt, die sich als Kontrapunkt zur spanischen Hauptstadt Madrid versteht, blühte, lebte und bebte rund um die Uhr, während Seoul und die dort versammelten Olympier zwischenzeitlich vom Skandal um den anabolaufgepeppten Sprinter Johnson erschüttert schienen. Barcelona dagegen verdiente sich an jedem seiner sonnigen Festtage eine Goldmedaille ob seines chronischen Stimmungshochs, das Menschen und Athleten auf dem gemeinsamen Weg auf einer Rolltreppe hoch zum Wettkampfolymp, dem Hausberg Montjuïc, mit seinen vielen Wettkampfstätten vom Olympiastadion zum Palau Sant Jordi, auskosteten. Dort fühlte auch ich mich in einem olympischen Flow: unermüdlich unternehmungslustig. Beim Turnen, vor 28 Jahren noch eine der von mir begleiteten Kernsportarten, war ich zwar wie zu Hause, als ich den von sechs Goldmedaillen gesäumten Triumphzug des Weißrussen Witali Scherbo mit erkennbarer Begeisterung beschrieb. Fast wohler jedoch fühlte ich mich bei Sportarten, die ich bis dahin noch nie von nahem beobachtet hatte. Beim Fechten zum Beispiel, einem besonders raffinierten sportlichen Waffenkampfduell zwischen Attaque und Riposte, die ich am Fernseher nie und an der olympischen Planche nur schwer ergründen konnte. Wer da getroffen hatte oder schwer getroffen wurde, war für mich nur an den Lichtern zu sehen, die im Fall des Falles aufleuchteten. Was ich aber in Barcelona mitbekam, wo die deutschen Florettdamen die Goldmedaille durch eine 6:9-Finalniederlage gegen Italien verpassten, waren die auch jenseits der sportlichen Kampfbahn hörbaren Sticheleien zwischen der nach ihrer Mutterschaft gerade noch rechtzeitig zurückgekehrten Anja Fichtel-Mauritz, der zweifachen Olympiasiegerin von Seoul, und ihren Mitstreiterinnen, unter denen die Tauberbischofsheimerin Zita Funkenhauser eine besonders spitze Zunge hatte. Als fast alle Reporter nach dem Wettkampf den Star Anja Fichtel-Mauritz umlagerten, zischte Zita Funkenhauser: „Sollen sie doch alle zu ihr gehen. Ich werde auch mal Mutter. Aber knapp nach den Olympischen Spielen.“ Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Eine deutsche Silbermedaillengewinnerin bei den Seouler Sommerspielen vier Jahre zuvor ging mit ihren Erfolgserlebnissen ohne große Worte ziemlich still um: die Radrennfahrerin Jutta Niehaus. Die Pedaleurin, die völlig überraschend Zweite im Straßenrennen wurde, erfüllte so gar nicht das Klischee der vom eigenen Triumph überrumpelten Medaillengewinnerin. „Ich komme mir vor wie nach einem normalen Rennen“, kommentierte die Rheinländerin ihren größten Tag als Sportlerin, als wäre sie bei einem Kriterium irgendwo in Deutschland Zweite geworden. Der Versuchung, Jutta Niehaus zu etwas mehr Begeisterung zu verhelfen, widerstand ich in jenen Momenten zum Glück. Reporter sollten den Respekt aufbringen, Athletinnen und Athleten