seine Karte. Elschen holte ihr Kontrollbuch aus der Tasche. Und der Kontrolleur kam zu Hinrichsen, prüfte seine Karte, warf ihm einen vernichtenden Blick zu und sagte, halb zu ihm, halb zu der Schaffnerin gewandt:
„Wie kommt denn das, dass der Herr auf einer fünfzehn Pfennig Tour mit einem Zehnpfennigfahrschein fährt?“
Elseken wurde blass. Hinrichsen aber ging sofort, ohne sich zu besinnen, zu ihrer Verteidigung vor und erklärte, das sei seine Schuld, er habe die Haltestelle übersehen, und der andere Herr meinte, die Schafferin könne doch nicht alle Fahrscheine auswendig kennen und der Herr mit den Maiblumen habe sie überdies andauernd belästigt.
Der Herr mit den Maiblumen wandte ein, er sei zivildienstpflichtig und wisse allein, was sich gehöre, der Kontrolleur entschied, dass der Herr mit den Maiblumen ein Billet nachlösen und sofort aussteigen müsse.
Herr Hinrichsen tat wie ihm befohlen. Und ehe er sich versah, stand er in einer einsamen Strasse, in einem unbekannten Viertel, mit seinen Maiblumen in der Hand und von Elschens letztem Blick verfolgt, der alle Vorwürfe eines unschuldig gekränkten Herzens in sich schloss.
Es blieb Herrn Hinrichsen weiter nichts anderes übrig, als einen weiteren Groschen zu spendieren und mit der nächsten Bahn, die „von entgegengesetzt kam“ wieder zurückzufahren.
Der Sonntag war ihm verdorben. Die Sonne schien nicht mehr wie früher, aber schliesslich ging er doch zu Frau Ohnesorg und brachte ihr die Maiblumen mit dem Bemerken, dass man einer alten Frau in dieser schweren Zeit doch auch mal eine Freude machen müsse.
Bei Ohnesorgs gab es Eisbein mit Sauerkohl.
„Die Eisbeine sind eine Aufmerksamkeit von Frau Lehmann“, sagte die Alte. Hinrichsen taute angesichts dieser kulinarischen Genüsse auf. Er spendierte drei „Weisse“, aber als er nochmals drei holen lassen wollte, sagte der Wirt von gegenüber, die „Weissen“ seien nicht mehr so zahlreich wie früher, andere Leute wollten auch mal eine kühle Blonde und bei Ohnesorgs sollten sie weniger trinken, das Eisbein schwimme auch mit drei Weissen.
„Er ist nicht so grob wie er redet“, meinte Vater Ohnesorg philosophisch, und so liess man sich die Stimmung denn nicht verderben und stiess mit den leeren Gläsern auf Elseken an, als es plötzlich klingelte.
Frau Ohnesorg ging hinaus. Ein schmuckes Mäddel stand draussen, die Postbinde um den Arm und brachte eine Depesche.
Frau Ohnesorg kam herein und sagte:
„An Else Ohnesorg. Vater, ob wir sie öffnen?“
Vater Ohnesorg meinte, das müsse man wohl, Martin werde auf Urlaub kommen. Aber er drehte den Kopf weg, wie er das sagte, und seine Stimme klang gepresst. Denn eine Depesche — eine Depesche — was konnte die Gutes bringen?
Mutter Ohnesorg knüllte die Depesche zwischen den zitternden Fingern und gab sie schliesslich Hinrichsen:
„Machen Sie ’s auf, Herr Hinrichsen.“
Hinrichsen zeigte sich als moderner Mensch und riss die Depesche auf. Halblaut las er vor:
„Bin verwundet. Rechten Arm verloren. Vergiss mich nicht. Martin.“
Da herrschte eine Weile Totenstille in dem alten Biedermeierzimmer. Dann nahm Mutter Ohnesorg die Schürze vor und weinte bitterlich. Und Vater Ohnesorg strich sich mit dem Handrücken über die Augen und trat zu Muttern.
Mit schwerfälligen Händen suchte er sie zu streicheln und zu trösten, und die alte Frau fasste seine Hand und drückte sie an die Brust. Vater Ohnesorg sah hilflos vor sich hin.
„Er ist ja nicht unser Sohn, der Martin,“ sagte Frau Ohnesorg schluchzend, „aber — gern haben wir ihn doch, was, Vater? Und nun so’n Unglück! Oh du lieber Gott! Ein Schlosser ohne Arm!“
Hinrichsen nahm seinen Hut, sagte kein Wort und verschwand.
Als er wieder in seiner Junggesellenwohnung war, da kamen ihm die besseren Gedanken. Er sah ein, dass er Elschen nie zur Frau bekommen würde, und dass Martin Knesebeck sie lieb hatte, das hätte er schon früher bemerken können.
Und er dachte weiter, wie gut er es doch hier in der Heimat hatte, und wie seine Sorgen und sein bisschen Pflichterfüllung doch gar nichts, aber auch rein gar nichts war gegen das, was die da draussen aufs Spiel setzten und opferten.
Herr Hinrichsen sah im Geiste das Feldlazarett, sah, wie dem armen Knesebeck der Arm abgenommen wurde und wie der frische Junge nun hilflos dalag, ohne rechten Arm, voll Sorgen um seine Zukunft ...
Da fasste Herr Hinrichsen einen Entschluss:
Er setzte sich hin und schrieb einen Brief an Elseken, in dem er mit keinem Wort mehr seine Liebe erwähnte, sondern tat, als sei es eine ausgemachte Sache gewesen, dass Elschen den Martin Knesebeck heiratete.
„Nun freilich ist das ganz und gar in Frage gestellt“ schrieb er weiter. „Denn Martin kann mit einem Arm seinem Beruf nicht mehr nachgehen, und mithin kann er auch keinen eigenen Hausstand gründen. Deshalb schlage ich Ihnen vor, dem Martin zu schreiben, dass er später, wenn er will, als Portier in meinem Hause eintreten kann, und dass ich ihm das dreifache Gehalt zahlen will, so lange er bei mir ist ...“
Dann kam noch eine Entschuldigung, dass er, Hinrichsen, sich erlaube, in Ihre Angelegenheit zu reden, aber er sei doch nun mal ein alter Freund der Familie.
Elschen erhielt die Nachricht von der Verwundung Martin Knesebecks als sie abends aus dem Dienst nach Hause kam. Die Eltern wollten es ihr zwar noch verheimlichen, aber sie las ihnen das Unglück vom Gesicht ab, und so mussten Sie es denn sagen.
Elschen blieb ganz still, als sie es hörte. Sie weinte nicht und schluchzte nicht und sah nur mit grossen Augen durchs Fenster in die Nacht hinaus.
Die Mutter bekam Angst. Aber als Elschen sich umdrehte, da hatte sie ein eigenes Leuchten in den Augen.
„Mutter, nun werde ich halt für mich und ihn sorgen, denn dass ich ihn nun gerade heirate, dass das meine Pflicht ist, wirst du doch begreifen.“
Nun sagte Mutter Ohnesorg nicht mehr nein, denn das hätte sie nicht übers Herz gebracht. Elschen fuhr fort:
„Sieh mal, Mutting, zweihundert Mark hab ich mir schon gespart. Bis wir heiraten, wird’s nochmal so viel sein. Dann wird er schon etwas finden, um ein paar Groschen dazu zu verdienen, und ich werde meine Pflicht tun und zeigen, dass wenn die Männer für uns ihr Leben eingesetzt haben, wir auch unser bisschen Kraft nun einsetzen müssen, damit eins dem andern keinen Dank schuldig ist.“
Damit ging sie aus dem Zimmer. Denn nun musste sie sich ausweinen. Die alte Ohnesorg nahm wieder die Hand ihres Mannes, streichelte sie und sagte — und das war zum ersten Mal in zwanzigjähriger Ehe: — „Vater, wir müssen Gott danken für das Kind!“
Der Alte sagte nichts, neigte nur seinen grauen Kopf.
Den Brief von Hinrichsen erhielt Elschen im Depot. Und dort beantwortete sie ihn auch gleich.
Schrieb, sie dankte Herrn Hinrichsen von ganzem Herzen für alles. Aber wie sie den Martin kenne, werde es immer auf ihm lasten, wenn er abhängig sei. Und die eigene Kraft nur könne uns Stolz und Frieden geben. Mithin solle Herr Hinrichsen nicht böse sein, sie habe auch seine Maiblumen, die er der Mutter Ohnesorg mit gebracht, schon ins Wasser gestellt, und nun ständen sie auf ihrem Tischchen neben ihrem Bett.
Als Hinrichsen das las, war er überglücklich. Er wollte schon nach dem Blumenladen, um Elseken einen noch viel schöneren Strauss zu senden, aber dann besann er sich und schickte in das Reservelazarett an den Gefreiten Martin Knesebeck ein Feldpostpaket ab, das einen Zwanzigmarkschein verschlang.
Aber dem Hinrichsen tat es wohl.
Ehe Martin Knesebeck auf seinem Schmerzenslager das Feldpostpaket erhielt, kam ein langer, langer Brief von Elseken. Sie schrieb noch immer nicht, dass sie auf der Elektrischen war, sondern nur, Martin solle sich keine Sorgen machen. Das Geld zum Heiraten sei da, wenn er zurückkomme und das Weitere würde sich finden. Er solle auf sie und ihre Liebe vertrauen, die kein Schwanken kenne, sondern