Lauren St John

Die Nacht der Delfine


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mussten die beiden auch das letzte Quäntchen ihrer vereinten Kräfte einsetzen, um ihn ziehend, stoßend und rollend wieder dem Meer zu übergeben. Als sein Körper ganz im Wasser eingetaucht war, machte er keine Anstalten zu schwimmen, sondern versank wie ein Stein.

      Und mit ihm sank Martines Mut.

      «Hast du nicht gesagt, er habe sich nur ausgeruht?», sagte der Kitesurfer in leicht vorwurfsvollem Ton.

      Der Delfin zuckte erst zaghaft, dann etwas energischer mit der Schwanzflosse. Dann tauchte er auf, legte sich seitwärts auf die Wasseroberfläche und blickte Martine forschend an. Dann klatschte er mit einer Flosse, quietschte und schnalzte vergnügt in ihre Richtung, um schließlich als schimmernder Streifen im Meer zu verschwinden. Sie sah ihn erst wieder, als er weit draußen wie ein Akrobat in der Brandung tanzte.

      Der Kitesurfer sagte belustigt: «Ist es nicht seltsam mit diesen Delfinen – ihr Lächeln wirkt irgendwie ansteckend.»

      Dann nahm er sein Surfbrett, warf ihr einen freundlichen Gruß zu und ging davon. Martine watete aus dem eiskalten Wasser und wrang die Hosenbeine ihrer durchnässten Jeans mit klammen Händen aus. Sie war voller freudiger Erregung. Dank ihrer Gabe hatte sie einen wilden Delfin gerettet. Doch sie hatte das Gefühl, dass die Gabe nicht ihr gehörte. Sie war nur dazu bestimmt, sie sorgsam zu hüten und in die richtigen Bahnen zu lenken.

      Sie beobachtete den ausgelassen über die Wellen springenden Delfin und fand, dass der Kitesurfer recht hatte. Auch sie war von diesem Lächeln angesteckt worden. Als jedoch Gwyn Thomas wieder in ihr Blickfeld kam, beeilte sie sich, eine neutrale Miene aufzusetzen.

      «War das eine Zeitverschwendung», sagte die Großmutter im Näherkommen, den Eimer schwingend. «Die Leute hatten kein Handy, also musste ich doch zum Wagen zurück. Es wäre wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, wenn du an meiner Stelle gegangen wärst. Ich bin nicht mehr so fit wie früher. Um Himmels willen, du bist ja pitschnass! Du kannst doch nicht mitten im Winter im Meer baden. Bestimmt hast du dir eine Lungenentzündung geholt.»

      Erst dann fiel es ihr auf. Sie musste zweimal hinschauen. «Wo ist der Delfin?»

      Martine deutete aufs Meer. «Dort», sagte sie. Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

      «Aber … äh … wie …?», fragte die Großmutter verwirrt. «Ich verstehe das nicht.»

      Martine zuckte mit den Schultern. «Der Kitesurfer hat mir geholfen, den Delfin ins Meer zurück zu bugsieren. Und dann ist er halt davongeschwommen.»

      «Einfach so? Er ist einfach so davongeschwommen?»

      «Ja.»

      «Hmm?»

      Gwyn Thomas musterte sie mit einem Blick, in dem sich Verwirrung und Bewunderung mit etwas anderem, Untergründlichem mischten, das sie mit einem warmen Gefühl erfüllte. Es war nicht zu übersehen, dass ihre Großmutter gerne weiter gebohrt hätte. Aus irgendwelchen Gründen konnte sie jedoch dem Drang widerstehen. Sie sagte einzig: «Gut, dann ist es höchste Zeit, dass du aus den nassen Sachen kommst.»

      Erst als sie beinahe beim Auto angelangt waren, wurde es Martine klar, dass sie – wenn sie bis zur Hüfte nass war – während ihrer Trance im Meer herumgewatet oder -geschwommen sein musste. Seltsam war nur, dass sie keine Angst gehabt hatte. Überhaupt keine.

      • 3 •

      Die Heimfahrt nach Sawubona war für Martine eigentlich das Beste an der Delfinrettung. Ihre Großmutter wusste, dass etwas geschehen war; doch sie wusste nicht genau was. Die unsichtbare Schranke zwischen ihnen, die mit schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit – vor allem in Zusammenhang mit Martines Mutter – zu tun hatte, war verschwunden, während sich ihre Gemeinsamkeit, die Tierliebe, gleichzeitig verstärkte. Immer wieder ahmte Gwyn Thomas Martine nach: «Und dann … dann ist er halt davongeschwommen.» Und immer wieder brachen beide in Gelächter aus.

      Diese Nähe zwischen ihnen hielt sich genau bis 17:47 Uhr, als Martine in Jeans und Stiefeln aus ihrem Zimmer herunterkam und verkündete, sie werde einen Ausritt auf der weißen Giraffe machen.

      Beinahe ohne von ihrer Zeitung aufzublicken, sagte die Großmutter beiläufig: «Nicht jetzt, Martine. Ich denke, für heute hast du genug Aufregung gehabt.»

      «Aber ich kann doch nicht auf die Sardinenwanderung gehen, ohne mich von Jemmy zu verabschieden», sagte Martine, die nicht glauben konnte, dass ihre Großmutter es ernst meinte. «Ich muss ihn sehen. Unbedingt!»

      «Dann hättest du das früher tun müssen», sagte Gwyn Thomas und wandte sich wieder ihrer Zeitung zu.

      «Aber ich habe doch nicht gemerkt, dass es schon so spät ist», sagte Martine flehend.

      Doch ihre Großmutter blieb unnachgiebig. «Martine, es ist schon bald dunkel, und du weißt, was ich von Ausritten nach Sonnenuntergang halte.»

      Jetzt kochte Martine vor Wut. Dass sie nachts nicht mit Jemmy ausreiten durfte, war seit langer Zeit ein Zankapfel zwischen ihnen gewesen. Für Gwyn Thomas lauerten nachts zu viele Raubtiere im Reservat, als dass sie ihrer Enkelin erlauben würde, zu später Stunde auf der weißen Giraffe durch die Gegend zu reiten. Auch Martines Erklärung, sie sei auf Jemmys Rücken völlig sicher, weil die anderen Tiere sie so sahen, als sei sie eins mit der Giraffe, ließ sie nicht gelten.

      «Abgesehen davon», fuhr sie fort, «hast du nicht einmal gepackt. Und schau mich bitte nicht so an. Ich weiß, dass du enttäuscht bist, aber ich verspreche dir, ich werde Jemmy einen Abschiedsgruß von dir ausrichten. Und damit hat sich’s. Du bist total übermüdet, und wenn du jetzt keine ordentliche Nachtruhe bekommst, bist du morgen nicht in der Verfassung, zu dieser fantastischen Reise aufzubrechen, die Miss Volkner für euch organisiert hat. Das wäre doch wirklich jammerschade.»

      Martine wusste aus eigener schmerzhafter Erfahrung, dass ihre Großmutter kein Argument gelten ließ, wenn sie einmal diesen Ton angeschlagen hatte. Doch der Gedanke, zehn Tage wegzugehen, ohne auf Jemmy zu reiten oder sich von ihm zu verabschieden, war einfach unerträglich. Während des ganzen Abendessens kochte sie innerlich und schob das Brathähnchen lustlos auf dem Teller herum. Als Gwyn Thomas schließlich sagte, sie solle mit dem Schmollen aufhören, riss sie sich zusammen, setzte sich aufrecht hin und machte ein freundliches Gesicht. Innerlich schmiedete sie jedoch einen Plan. Schon seit Monaten hatte sie sich nie mehr nach Mitternacht davongeschlichen, um mit Jemmy auszureiten, und sie vermisste die Aufregung dieser Mondscheinritte sehr. Vor allem aber fehlte ihr das Gefühl, Afrika zu spüren. Auf ihren Streifzügen mit der weißen Giraffe und den anderen Wildtieren war es, als hätte sie eine Tür zu einem anderen Afrika aufgestoßen, das nur den allerwenigsten Menschen offen stand.

      Während sie Soße über die Bratkartoffeln löffelte, genoss sie die Aufregung über ihren rebellischen Plan. Bisher war sie nie erwischt worden, nicht einmal, als sie noch nicht mit Sawubona und den Gewohnheiten ihrer Großmutter vertraut gewesen war. Jetzt kannte sie beide in- und auswendig. Also konnte gar nichts schiefgehen.

      Die Vorfreude machte sie fast schwindlig. Um die Großmutter abzulenken, brachte sie das Gespräch wieder auf den Delfin und fragte, warum sich diese Tiere an den Strand und in den beinahe sicheren Tod spülen ließen.

      Glücklich über diese Entspannung, war Gwyn Thomas nur zu gerne bereit, nochmals über das Stranden der Delfine zu sprechen. Sie sagte, sie wisse nicht, warum es immer wieder geschehe, aber es müsse damit zu tun haben, dass das Leben im Meer für sie unerträglich geworden sei. «Vielleicht hat es mit der Meeresverschmutzung oder dem vermehrten Seeverkehr zu tun», sagte sie. «Es gibt Gebiete der Weltmeere, die sind zu regelrechten Städten von Frachtschiffen, Trawlern und Marinebooten geworden.»

      Martine hörte aufmerksam zu und versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie je über die Intelligenz von Delfinen und über die heilsame Wirkung, die sie auf den Menschen ausübten, gehört hatte. Sie dachte an den elektrischen