Theodor Kallifatides

Der gefallene Engel


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nachweislich mein erster schwedischer Morgen, sahen wir zwei Mädchen auf der andern Straßenseite stehen, den Daumen nach Süden gerichtet. Mikael riß das Lenkrad herum. Sie blieben bei uns bis hinunter nach Athen, und ich würde gerne erzählen, wie die Mädchen hießen, aber ich kann mich an ihre Namen nicht mehr erinnern!

      Das war ein berauschender grüner Skoda, in dem wir damals fuhren und wir waren zweiundzwanzig Jahre alt!

      Marias erstes Auto war ebenfalls ein Skoda. Ich kann mich sehr gut an ihr erstes Auto und an ihren ersten Mord erinnern. Da hatte sie sich gerade an mich, der neben ihr saß, gewöhnt und sie hatte diesen rätselhaften Ausdruck im Gesicht, der bei mir jedesmal eine beinahe metaphysische Unsicherheit hervorrief. Ich wußte nie, ob sie mich liebte oder ob sie mich haßte!

      Nein, es war nicht ihr erster Mord. Es war unser erster Mord. Sie hatte sich an mich gewöhnt, die Straße war schmal und es war dunkel. Wir waren ganz hinaufgefahren auf den Penteliberg, unsere Körper hatten die Kälte der breiten Marmorplatte gespürt und wir hatten uns dem uralten Ritus hingegeben.

      Ihr schwarzes Haar verschmolz mit den ermatteten Lüsten der Nacht, und ihr knochenweißer Körper wuchs zusammen mit dem Marmorstein, und ich glaubte schließlich, ich hätte mich mit der ganzen Erde vereint, mit dem umfassenden und unbegreiflichen All. Ich dachte an meine frühe Pubertät, ein bestimmter Tag fiel mir ein, als ich vor allen anderen in unserem Haus erwachte, auf die Terrasse ging und hinüberblickte zu unserer Stadt, die sich eben dem schwebenden, bläulichen Licht zuwandte, und ich stand lange da und streichelte gedankenlos mein Glied, aber als dann allmählich die Lust in mir wuchs, ergriff mich die wahnsinnige Vorstellung, mich mit ganz Athen liebend zu vereinen, einen Weg durch das Licht hin zum Schoß der Stadt zu finden, ich wollte die Stadt mit meinem Körper erobern.

      An all dies dachte ich und ich merkte, daß ich Tränen in den Augen hatte.

      «Du darfst nicht weinen!» hatte Maria geflüstert und ihre Stimme war aus einer jenseitigen Welt gekommen, einer Welt, in der sie allein, herrlich und schön residierte!

      Warum weinte ich eigentlich? Und warum habe ich seitdem nie mehr geweint? Ich habe jetzt Zeit, ich kann alle Fragen stellen, alte und neue. Warum weinte ich eigentlich?

      Es war nicht so, daß meine Sprache ihre Grenze erreicht hatte, während das, was ich fühlte, grenzenlos war. Damals glaubte ich das, aber ich glaube es nicht mehr. Ich weinte, weil wir die lustvolle Leere – auch Paradies genannt – betreten hatten, ohne zu bezahlen, wir hatten die Ordnung der Dinge gestört und ohne es zu wissen, beweinte ich bereits das notwendige Opfer, ich streute Asche auf unsere Häupter und auf den zertrümmerten Schädel des Jungen.

      All dies war bereits eingetroffen; Maria hatte sich mit ihrem rätselhaften Lächeln an mich gewöhnt, sie hatte für einen kurzen Augenblick nicht auf die Straße geachtet und dieser Augenblick war genug, um den Tod eines Jungen vorzubereiten; ein Junge, der direkt in das Auto lief, hochgeschleudert wurde in die Nacht und tot auf die Straße stürzte, seine letzte Reise beleuchtet von einem zerbrochenen Scheinwerfer und unseren entsetzten Augen.

      All dies war bereits eingetroffen als wir noch auf dem kalten Marmorstein lagen und unseren zurückhaltenden Atemzügen lauschten, so als hätten wir eben gelernt zu atmen. Und das hatten wir vielleicht getan!

      Wenn es die Zeit gibt, dann sind alle Ereignisse in ihr Ereignisse der Vergangenheit. Der Mensch hat sich zum Maß der Zeit gemacht, aber es ist nicht der Mensch, der die Zeit mißt, sondern die Zeit mißt den Menschen, und später, während des Verhörs auf der Polizeiwache, beugte sich Maria noch einmal zu mir, ihr ganzer Körper zitterte wie Espenlaub, ausgeliefert den unberechenbaren Windstößen, und noch einmal kam ihre Stimme aus einer jenseitigen Welt.

      «Ich hoffe, daß ich heute nacht schwanger geworden bin!»

      Plötzlich mußte ich scharf bremsen. Ich brachte meinen Citröen zehn Zentimeter hinter dem Auto vor mir zum Stillstand. Ich sah, wie dessen Auspuffdämpfe auf meine Scheinwerfer zutrieben, bewegt von dem unmerklichen Wind, der immer über Essingeleden weht, auch in vollkommen windstillen Tagen und Nächten. Es scheint, als würde die Brücke durch ihr Beben wie eine Art Pumpe wirken.

      Ich stellte den Motor ab und stieg aus. Ich betrat zum erstenmal die Essingebrücke und stellte erstaunt fest, wie absurd mein Leben geworden war. Vor fünfzehn oder zwanzig Jahren hätte ich es nicht akzeptiert, täglich über diese prächtige Konstruktion zu fahren, ohne jemals anzuhalten, um zu Fuß alle Aussichten zu erforschen und vor allem um mich zu vergewissern, inwieweit diese Brücke ein möglicher Ort für meinen Tod sein könnte. Ich habe nie eine Klippe oder eine Brücke sehen können, ohne an meinen Tod zu denken.

      Ich hatte die äußerste Grenze der Entfremdung erreicht. Ich hatte aufgehört, nach Orten zu suchen, wo der Tod möglich war, weil ich die ganze Zeit mit einem Tod irgendwo anders rechnete. Maria rechnete immer mit einem Tod neben mir. Ich erinnere mich an ihre Stimme, aber nicht an ihre Augen, als sie, ihren Kopf an meine Schulter gelehnt, mit zärtlicher und ein wenig verzweifelter Stimme sagte: «Ich könnte ohne weiteres ruhig neben dir sterben...»

      Aber sie schaute dabei gleichzeitig Andreas an, er lag ein paar Meter entfernt, hatte einen Grashalm zwischen seinen weißen Zähnen, und die Sonne hing mit ihrem Licht und ihrer Zeit über unseren Häuptern.

      Unsere Zeit war eine andere.

      Etwas später am selben Tag – Andreas hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen, gebeugt über einen leeren Notizblock, der leer blieb – machten Maria und ich einen Spaziergang an den Sandsteinhügeln entlang. Sie ging vor mir, sie trug ein schneeweißes Kleid mit einer großen roten Blume über dem Busen.

      Ich ging hinter ihr, ich beobachtete ihren Körper Schritt für Schritt, das rhythmische Auf und Ab der Hüften unter dem weißen Leinen, ich paßte meinen Schritt dem ihren an, meine Atemzüge den ihren, und ich wußte nicht, ob sie ahnte, was hinter ihrem Rücken vor sich ging, aber ich feierte Orgien mit ihr, um so schwindelerregender, je unkörperlicher sie waren.

      Aber sie mußte etwas geahnt haben, denn unvermittelt blieb sie stehen, der Weg war schmal, ich konnte nicht an ihr vorbei, ich blieb ebenfalls dicht hinter ihr stehen, heftig schnaufend, und ich umschloß mit meinen Händen ihre verborgene Mitte.

      «Wenn du weitergehen willst, mußt du durch mich hindurch!» lachte sie, ohne sich umzusehen.

      Durch ihr dunkles, wogendes Haar konnte ich weit, weit weg das Meer erkennen und zwischen dem Meer und mir befand sich ihr Körper, jung, unbefruchtet und kühl, gehüllt in ein schneeweißes Kleid; eine ausgezeichnete Luftspiegelung, eine Halluzination, die ich aber in meinen Armen halten konnte.

      Aber meine Zeit war eine andere.

      Ich war ein Ikarus ohne Schwingen aus Wachs, ich brauchte nicht zu fliegen, um in dieses glitzernde, flimmernde Meer zu stürzen; es genügte, Maria zu umarmen, deren Rücken sich leicht nach vorne beugte, wie eine Brücke halbwegs hin zur Unsterblichkeit, aber nur halbwegs. Ich glitt hinunter auf die heiße Kalkerde und küßte ihr feuchte Kniekehle, die nach Salz schmeckte. Maria legte ihre Hand auf meinen Kopf, immer noch ohne sich umzudrehen, so als segne sie meine Lippen, so als segne sie meine Lust und dieses glitzernde, flimmernde Meer.

      «Wie lange sollen wir hier noch stehen?» hörte ich plötzlich in Westküstenschwedisch fragen. Ich wandte mich um und Riddarholmena tauchte aus dem ägäischen Wasser, in dem ich erst neulich in Erinnerung an Maria meine letzten Empfindungen an eine glückliche Zeit geopfert hatte.

      Hunderte von Autos standen mit eingeschalteten Scheinwerfern, aber keine weiteren Menschen stiegen aus, sie blieben sitzen und warteten in der sicheren Gewißheit, in einen Stau geraten zu sein, ein Modell für Sicherheit in unserem heutigen Leben.

      «Wahrscheinlich hat es dort vorne einen Unfall gegeben!» antwortete ich.

      «Die Leute fahren ja wie die Irren!» seufzte treuherzig die Stimme aus Göteborg und kehrte in das italienische Auto zurück, das ungeduldig im Leerlauf lief.

      Ich warf einen letzten Blick auf das dunkle Wasser um Riddarholmen und ging dann zurück zu meinem Citroën. Ich setzte mich hinein und pfiff diese sehr alte Weise, die Andreas