Jakob Wassermann

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      Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul ertönte, und Gegenstände flogen durch die Luft, die einst einer andern Bestimmung geweiht waren. Die schwarze Tafel, in eine Generalstabskarte verwandelt, war mit Hieroglyphen bedeckt. Die Reiterei hatte sich des ganzen Globus bemächtigt, und ein dämonisch kleiner Knabe sass auf dem Nordpol und fuchtelte mit beiden Armen. Einige Amazonen hatten die Gegend des Katheders besetzt und sangen Kampfgesänge. Der Lehrer blieb auf der Schwelle stehen, schöpfte Atem und schrie eine fürchterliche Drohung in den Raum. Sechsundsechzig Paar Augen blickten ihn bestürzt und schuldbewusst an. Alle Kinder setzten sich mit geschäftsmässiger Kühle auf ihre Plätze. Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine vom Nordpol hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der Erdachse zerrissen und sass leichenblass da. Indes begann der Lehrer zu diktieren: Der Hamster und der Igel; eine Geschichte, worin die Hässlichkeit des Geizes eine grosse Rolle spielte. Die Enttäuschung der Kinder war gross. Sie hätten die gleichgültige Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das aufregende Prozessverfahren, das einer Vormittagsschlacht sonst zu folgen pflegte. Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges, was den Fortgang des einschläfernden Diktats angenehm unterbrach. Die Tür wurde heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist trat herein. Er hatte ein dickes Buch unter dem Arm, schritt gerade auf das Pult zu, legte den Folianten nieder und sagte zu Philipp Unruh mit emporgezogenen Brauen: „Ich bringe Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte Ihnen damit ein Geschenk machen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen einzuwenden.“ Er grüsste mit übertriebener Unbefangenheit, doch mit schüchternem Blick und ging.

      Einige Kinder lachten; das brünette Fräulein Süssmilch auf der dritten Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war blutrot im Gesicht und konnte kaum aufhören, in ihre Schürze hineinzulachen. Philipp Unruh war verwirrt und beschämt. Mit der schablonenhaften Strenge, die ein wichtiges Erziehungsmittel war, befahl er Ruhe und stellte sich an das Fenster. Es ist etwas Schönes um den Winter, dachte er mit jener Wärme im Innern, welche kühne Hoffnungen erzeugt. Draussen mag es stürmen, ich stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden ist alles. Wie schön, wenn es dämmert und ich durch den Schnee wandere, den bläulichen Schnee, und kein Laut dringt aus der Erde.

      Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade, und bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig stürmten davon, und der Lehrer rüstete sich zu einem Spaziergang. An der Ecke bei dem Kasino stand Apollonius Siebengeist und plauderte mit einem Mann, der einen grossen roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh grüsste und war sichtlich bemüht, etwas Weitläufiges und Kameradschaftliches in seinen Gruss zu legen.

      „Wir werden jetzt Grossstadt,“ sagte Siebengeist lebhaft, „bekommen ein Theater. Und was für ein ungewöhnliches Stück sie da ankündigen!“

      Der Lehrer tat überrascht, obwohl er in der Zeitung davon gelesen hatte. Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig steifgefroren war, und rieb die Hände.

      „Sagen Sie, lieber Onkel,“ wandte sich Siebengeist an den Zettelmann, „habt ihr denn hübsche Schauspielerinnen?“

      Der Zettelmann machte eine grossartige Physiognomie. „Bei mir ist die Blüte unseres Standes engagiert“, entgegnete er kurz und majestätisch.

      „Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?“ rief Siebengeist erstaunt.

      Der Schauspieler bestätigte es. „Mein Name ist Schmalich“, sagte er mit dem Stirnrunzeln eines berühmten Mannes.

      Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten Zettel. „Melchior oder die Leiden des Alters“, hiess das Stück, ein Lebensbild in zehn Abteilungen. Einige Leute waren stehengeblieben und starrten neugierig auf das rote Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf und entfernte sich mit feierlichem Gruss. Auch der Lehrer wandte sich zum Gehen und war kaum einige Schritte weit, als er Siebengeist an seiner Seite sah. Der Provisor begann zu reden, als ob es ihm nur um Worte zu tun sei. Er schimpfte über das Nest, in das ihn ein unwirsches Geschick verschlagen habe; er machte sich über Himmel und Erde lustig, und etwas Knisterndes, Sprudelndes, Glattes war an ihm. Viele Zuckungen gingen über sein Gesicht. Seine Augen hafteten an vielen Punkten zugleich. Dem Lehrer ward es unbehaglich wie neben einer gefährlichen Maschine. Siebengeist aber schlug einen weiten Spaziergang vor, da ja heute Mittwoch sei. „Der ganze Nachmittag liegt vor Ihnen“, sagte er. „Gehen wir ein wenig hinaus in den Schnee.“

      Philipp Unruh wagte nicht, nein zu sagen. Er war überhaupt weder ein Nein- noch ein Ja-Sager, und hier fand er sich verpflichtet, Wünsche zu erfüllen. Siebengeist redete weiter, bespöttelte die Büchersucht des Lehrers und sprach im allgemeinen vernichtend über das Gelehrtentum. „Was wollen Sie denn mit Ihren Namen und Zahlen, Onkelchen? Erklären Sie sich doch. Die Geschichte? So? Die Geschichte ist ein altes Weib. Alles, was war, ist wertlos. Jener Komödiant und sein Theater ist jetzt wichtiger als alle Moses, Marc-Aurel, Robespierre und Lasalle. Der Unterrock meiner Geliebten wiegt das ganze babylonische Reich auf. Freilich, tausend Jahre sind euch nichts, denn auch die Stunden sind euch nichts.“

      Der Lehrer blickte verängstigt auf seinen Weg. Nichts Erschreckenderes für ihn als diese Reden, deren Sinn ihm vorüberglitt wie Wasser. Das Heftige, Sprunghafte, dabei Lachende und Kühne im Wesen seines Begleiters machte ihn schülerhaft verzagt. Eine Weile schwieg Siebengeist und pfiff nur vor sich hin. Weiss und still dehnten sich die ebenen Felder. Unbestimmte Laute kamen aus Fernen, die vom Nebel verhüllt waren. Im glatten Schnee waren zahllose Hasenfährten und Krähenfüsse sichtbar, am Waldrand trippelte eine Rebhühnerschar mit schwachen, seufzenden Schreien. In der Luft war ein Sieden und Sausen, hervorgebracht durch das merkwürdige, schwere Schweigen ringsumher.

      „Sind Sie verheiratet?“ fragte Siebengeist wie ein Untersuchungsrichter. „Nein? Sind Sie verliebt?“

      Der Lehrer wurde blass und schüttelte unwillig den Kopf. Siebengeist lachte hell wie ein Kind. „Waren Sie je verliebt? Wissen Sie, Onkelchen, man könnte Sie geradezu für einen Eunuchen halten, wenn man nicht wüsste, dass Sie ein deutscher Bücherwurm sind. Sie verachten natürlich die Liebe, sofern sie nicht auf dem Papier verewigt ist. Haben Sie mal von einer gewissen Ninon de l’Enclos gehört? Ein wundersames Frauenzimmer. Sie hat ganze Generationen mit Liebe beschenkt. Ich war damals ein Gascognischer Prinz und in mancher Nacht küsste ich die unsterblichen Lippen. Seitdem ist die Welt bitter geworden. Onkelchen, was heutzutage sich Weib nennt, ist wert, eingesalzen zu werden. Ich habe keines kennen gelernt, in dem nicht die dumme Gans oder die Xantippe steckt. Sie sind schlecht, eitel, feig, anmassend, sitzen stets auf dem Galanteriestühlchen und sind mit Leidenschaft der Lüge ergeben. Dagegen liest man in den Kunstbüchern von den erlauchtesten Idealgestalten. Davor warne ich Sie, Onkelchen. Durch diese Literatur geht ein Riss. Sehn Sie doch nur, ein Mann wie ich, Prinz von Geblüt, sitzt auf dem Trockenen und weiss nichts anzufangen mit seinen Gefühlen, geht sehnsüchtig in der Welt umher und gafft sich die Augen aus nach dem Bild der Liebe. Nun, ich gebe mir noch eine kurze Frist, dann wähle ich ein angenehmes und schmerzloses Gift.“ Er lachte wieder sein kindliches Lachen.

      Der Lehrer wischte sich den Schweiss von der Stirn. Es ist ein Traum, dachte er zweifelnd und betrübt und sah auf das Bahngeleise hinüber, auf dem ein Schnellzug einherraste. Er freute sich auf seine Abendstunden, auf seine Chronik, auf seine stille Abgeschiedenheit. Indessen forderte ihn der Provisor auf, mit ihm in einem Wirtshaus in Altenmuhr zu essen, und noch viel weniger als früher wagte er es abzuschlagen. Doch Siebengeist wurde merkwürdig schweigsam, ballte nur hier und da Schnee zusammen und warf ihn auf die Baumkronen, dass es knisterte. Dann lachte er und freute sich.

      In der niedrigen, heissen Wirtsstube sassen Fuhrleute beim Bier. Siebengeist berührte kaum die Speisen. Er stocherte nachdenklich in seinen weissen Zähnen, während der Lehrer tüchtig zugriff. „Gelehrsamkeit stärkt den Magen“, bemerkte Siebengeist sarkastisch. „Wissen Sie, was mir eingefallen ist? Ich forme mir eine Jungfrau aus Schnee: schön, rein und klug. Ich gebe ihr das Herz eines treuen Hundes und die Augen einer edlen Hässlichen, die in Verborgenheit lebte. Das Ganze belebt, wäre ein Wunder an Vollkommenheit.“

      Philipp Unruh dachte: wenn dieser Mann Apotheker ist, werden die Kranken seltsame Mixturen erhalten. Sein ordnungsliebendes Gemüt begann sich zu empören. Er betrachtete den Provisor scharf von der Seite und musste sich gestehen,