Fall hier und heute Gandhis Taktik nicht aufgehen würde.
Einige Augenblicke später feuerte der Harpunier, und das eineinhalb Meter lange Projektil pfiff über unsere Köpfe hinweg und schlug in den Rücken eines Weibchens ein. Eine regelrechte Blutfontäne schoss aus ihrem Körper, als das Projektil explodierte. Sechs Wale schwammen weiter, doch der größte, der Bulle, erhob sich aus dem Wasser und knallte mit einem donnerartigen Klatschen auf die Wasseroberfläche, bevor er unter uns abtauchte, um das Monster herauszufordern, das gerade einem Mitglied seiner Herde das Leben genommen hatte.
Sie warteten schon auf ihn. Der Harpunier hatte schnell eine neue Harpune eingespannt und lud nach. Er schwang die Waffe herum, zielte nach unten, feuerte auf den heranstürmenden Kaschelott und konnte einen Kopftreffer setzen. Ein markerschütternder Schmerzensschrei hallte über die Wellen, als der tödlich verwundete Wal zurück ins Wasser fiel und sich im Todeskampf an der Oberfläche wand und drehte, während sich ein scharlachroter Teppich aus heißem Blut um ihn herum ausbreitete.
Wir waren wie paralysiert angesichts des Horrors, den wir gerade miterleben mussten, als der Bulle plötzlich kehrtmachte. Ich schaute ihm ins Auge, dann tauchte er noch einmal ab, eine Spur von schäumendem blassrosa Blut sowie Blasen hinter sich herziehend, und hielt schnell auf uns zu. Als er näherkam, tauchte sein Kopf in einem Winkel auf, in dem er sich auf uns hätte fallen lassen können – das war der Augenblick, als mein Leben sich veränderte. Denn dort vor mir, nicht einmal einen Meter entfernt, befand sich sein Auge, so groß wie meine Faust. Es war so nah, dass ich mein Spiegelbild darin erkennen konnte – ich sah also, wie er uns ansah –, und in diesem Moment erahnte ich etwas, ich fühlte etwas, das mich fassungslos machte. Ich erkannte, dass er verstand, was wir versucht hatten, denn er strengte sich sichtlich an, sich zurückfallen zu lassen, bevor er wieder mit dem Kopf in den dunklen Fluten versank. Sein Auge verschwand unter der Wasseroberfläche, und der Bulle tauchte unter.
Der Pottwal hätte uns töten können, und der einzige Grund dafür, dass ich jetzt dieses Buch schreiben kann, liegt in seiner Entscheidung begründet, uns zu verschonen.
Aber es war etwas anderes, etwas Größeres, das ich in diesem Moment empfand. Es war Mitleid; nicht mit ihm oder seiner Familie, sondern mit uns. Wie konnten wir so erbarmungslos und mit solch bestialischer Grausamkeit töten? Die Sonne ging unter, die Positionslichter der Sowjetflotte mit ihren vier Walfängern und einem Tiefkühl-Fabriktrawler, der DALNIY VOSTOK, flackerten kreisförmig um mich herum auf. Sie zogen die blutenden Kadaver der zwei Wale an Bord, und eine unglaubliche Traurigkeit erfasste mich.
Warum?
Warum töteten wir diese Wale? Es ging nicht um ihr Fleisch – das Fleisch der Pottwale gilt als ungenießbar. Sie wurden für ihr Öl geschlachtet, ein sehr hochwertiger, hitzebeständiger Tran, mit dem man Maschinen fetten konnte, wozu auch jene gehörten, mit denen die Sowjets Interkontinentalraketen herstellten. Der wahre Grund traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Wir metzelten also diese wunderschönen, sozial hoch entwickelten und hochintelligenten, selbstbewussten, empfindsamen Lebewesen gedankenlos ab, und das zu keinem anderen Zweck als dem Bau einer Waffe, die wiederum keinem anderen Zweck als der massenhaften Auslöschung menschlichen Lebens diente.
Die plötzliche Erkenntnis war wie eine Offenbarung: Wir sind wahnsinnig, in ekelhaftem und geradezu perversem Ausmaß wahnsinnig.
Es war dieses traumatische Erweckungserlebnis, das mir für den barbarischen ökologischen Wahnsinn die Augen öffnete und eine dramatische Neuausrichtung in meinem Leben bewirkte. Von diesem Tag an habe ich mich voll und ganz ihnen verschrieben, um ihnen zu dienen – den Walen und den anderen Meeresbewohnern. Ich hatte mit der Menschheit abgeschlossen und lehnte die Arroganz des anthropozentrischen Weltbilds ab, die uns seit jenem Tag begleitet, an dem wir damit begonnen haben, die Früchte unserer eigenen Erfindung zu ernten – der Agrikultur. Stattdessen begann ich, mich mit dem Prinzip des Biozentrismus anzufreunden, also dem Verständnis, dass wir lediglich ein Teil des Ganzen sind und nicht Herrscher über andere Spezies – und ganz sicher nicht über die gesamte Schöpfung, wie wir es als ganz selbstverständlich erachten. Jede Biene, jeder Baum, jeder Wurm, jedes Kleinlebewesen oder Phytoplankton arbeitet hart daran, das ökologische Gleichgewicht auf diesem Planeten aufrechtzuerhalten, während wir Menschen kaum etwas dazu beitragen, außer uns auf Kosten aller anderen Lebewesen zu amüsieren. Die Diktatur unserer Spezies besitzt eine geradezu bösartige Zerstörungskraft und führt die Menschheit immer näher an einen Punkt heran, der keinen Sinn ergibt: unsere eigene Auslöschung.
DIE BÜCHSE DER PANDORA
Am heutigen Tag, als ich mich hinsetzte und mit der Niederschrift dieses Buch begann, hatten die Medien folgende Neuigkeit zu berichten: In der Antarktis wurde mit 20,75 Grad Celsius die höchste dort jemals gemessene Temperatur verzeichnet.
____DER ZUG IST AUSSER KONTROLLE UND NIMMT GESCHWINDIGKEIT AUF.
Wenn mein Sohn Tiger im Jahr 2085 mein jetziges Alter erreicht haben wird, wie sieht dann wohl seine Welt aus? Ich kann mir nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie die Erde aussehen könnte, die er dann bewohnt.
Tiger wurde in Paris gezeugt und kam im September 2016 in New Hampshire zur Welt. Heute habe ich ihn dabei beobachtet, wie er im Schnee spielte, lachend und glücklich. Mir stockte das Herz, als ich plötzlich realisierte, dass Tiger die Unschuld und das Vergnügen, deren Zeuge ich gerade wurde, wahrscheinlich nicht mehr würde erleben dürfen, wenn er erst einmal in mein Alter gekommen wäre. Ich habe ein Leben in relativem materiellem Wohlstand und Freiheit verbracht, wie es zukünftige Generationen wahrscheinlich niemals werden führen können, weil meine Generation, die Generationen davor und die Generation heute Entscheidungen getroffen haben, die unseren Kindern, unseren Enkeln und Urenkeln die größten Schätze des Lebens wie Freude, Glück und Sicherheit rauben werden.
Oder wie Greta Thunberg es oft wiederholt hat: »Wir wurden unserer Zukunft beraubt.«
Mein Sohn Tiger sieht sich mit einer Zukunft konfrontiert, die aus Ungewissheit, Chaos und Opfern besteht, wie sie keine Generation vorher erlebt haben dürfte. Anders als mir in meiner Kindheit steht ihm eine absolut ungewisse Zukunft bevor: Wird er die Chance auf eine akademische Ausbildung bekommen, oder wird er dazu gezwungen sein, darin ausgebildet zu werden, wie man überlebt? Was wird er von uns denken? Von seiner Mutter und mir? Wie konnten wir das nur zulassen, und warum? Wird seine Generation uns verachten?
Falls sie es täte, könnte ich es ihr kaum verdenken. Aber ich möchte, dass er weiß, dass ich nicht tatenlos war. Dass ich zumindest versucht habe, eine schlimme Welt zu verhindern, in der er eines Tages zu Hause sein wird. Und dass ich diesem Versuch mein Leben gewidmet habe.
Wenn ich ihn beim vergnügten Spiel im Schnee beobachte, nagt ein noch dunklerer Gedanke an mir. Wird mein Junge ein glückliches Leben führen können, oder schaue ich da gerade dem zukünftigen John Connor1 zu, einem Überlebenskünstler? Waren wir selbstsüchtig, weil wir ihn trotz einer ungewissen Zukunft in diese Welt gesetzt haben? Ich kann ihn nicht vor dem Realität gewordenen Klimawandel bewahren, aber kann ich ihm beibringen, zu überleben und ein Anführer zu sein?
Ich habe keine Wahl. Vor der düsteren Realität gibt es kein Entkommen. Während ich diese Zeilen schreibe, sind innerhalb einer Woche 100.000 Quadratkilometer australisches Buschland in Flammen aufgegangen2. Der Grad dieser Verwüstung ist kaum vorstellbar. Diese Brände sind weitaus schlimmer als jene am Amazonas, in Sibirien und Kalifornien zusammengenommen:
Amazonasgebiet: 11.587 Quadratkilometer
Sibirien: 18.507 Quadratkilometer
Kalifornien: 1.480 Quadratkilometer
Insgesamt: 31.574 Quadratkilometer
Deutschland ist rund 357.000 Quadratkilometer groß. Die Ausdehnung der Feuer entspricht somit mehr als einem Drittel der gesamten Fläche von Deutschland. Oder vergleichen wir es mit dem jüngsten Brand von Notre-Dame in Paris. Paris ist etwa 105 Quadratkilometer groß, was