trieb es ihn im Herbst 1892 dazu, »den Deckel abzunehmen« – dies geschah, soviel ich weiß, unter dem Zwange einer besonders mächtigen Gefühlswallung zu Gunsten der Romantik schottischer Szenerie und schottischer Charaktere, ein Gefühl, das stets in ihm lebendig war und das sein Aufenthalt in der Fremde noch verstärkte. Ich zitiere abermals aus seinem Brief an Mr. Barrie vom 1. November jenes Jahres: »Es ist doch eine seltsame Sache, daß ich hier in der Südsee unter so neuen und ungewöhnlichen Verhältnissen lebe und daß meine Phantasie trotzdem fortwährend in der kalten, alten Gruppe grauer, gedrängter Hügel weilt, aus der wir beide stammen. Ich habe ›David Balfour‹ beendet und bereits ein neues Buch auf dem Repertoire: ›Der junge Chevaliers das teils in Frankreich, teils in Schottland spielt und von Prinz Charlie um das Jahr 1749 handelt; und jetzt habe ich tatsächlich noch ein drittes angefangen, das von Anfang bis zu Ende nur Heide sein soll und dessen Mittelpunkt eine Gestalt bilden wird, die Sie, glaube ich, richtig würdigen werden: die des unsterblichen Braxfield. Braxfield selbst ist bei mir der führende Politikus oder – da Sie so stark an dem britischen Drama interessiert sind – mein Hauptcharakterdarsteller.«
In einem Brief an mich vom gleichen Tage übermittelt er die nämliche Nachricht in knapperer Form zusammen mit einer Liste der Charaktere und einem Hinweis auf Ort und Zeit der Handlung. An Mr. Baxter schreibt er einen Monat später: »Ich habe einen Roman auf dem Repertoire, welcher ›Der Lord Oberrichter‹ heißen soll. Er ist ziemlich schottisch; der Haupthandelnde hat Braxfield zum Vorbild (à propos, schick mir doch Cockburns ›Memorials‹), und einiges an der Geschichte ist – nun, sagen wir, sonderbar. Die Heldin wird von dem einen Manne verführt und verschwindet schließlich mit dem anderen, der jenen erschossen hat – Merk dir’s, ich will, daß ›Der Lord Oberrichter‹ mein Meisterwerk wird. Mein Braxfield ist bereits ›a thing of beauty and a joy for ever‹. Soweit er gediehen, ist er bei weitem meine beste Gestalt.« Aus diesem Auszug geht hervor, daß er zu jener Zeit bereits die ersten Kapitel des Buches entworfen hatte. Etwa um die gleiche Zeit verfaßte er auch die Widmung an seine Frau; sie fand den Zettel eines Morgens beim Erwachen an ihre Bettgardinen befestigt. Es war von jeher seine Gewohnheit, gleichzeitig an verschiedenen Büchern zu arbeiten, wobei er, ganz wie die Stimmung ihn trieb, sich bald dem einen, bald dem anderen zuwandte und so in der Abwechslung Erholung fand; und viele Monate lang nach diesem Brief behinderten erst Krankheit, dann eine Reise nach Auckland, dann die Arbeiten an »Ebb-tide« und an einem neuen Roman »St. Ives«, den er während eines Anfalls von Influenza begann, sowie die Vorbereitungen für ein Buch Familiengeschichte – den Fortschritt des »Hermiston«. Im August 1893 läßt er durchblicken, daß er den Anfang umgearbeitet hätte. Ein Jahr später sind immer noch lediglich die ersten vier oder fünf Kapitel in ihren Umrissen vorhanden. Dann, während der letzten Wochen seines Lebens, macht er sich in einem starken Anfall von poetischer Begeisterung noch einmal an jene Aufgabe, an der er mit voller Hingabe ohne Unterbrechung bis zu seinem Tode weiterarbeitet. Kein Wunder, daß er sich während dieser Wochen mitunter einer nur schwer zu ertragenden Anspannung all seiner Kräfte bewußt wurde. »Wie soll ich nur dieses Tempo aufrechterhalten?« soll er sich nach Beendigung eines der Kapitel geäußert haben, und alle Welt weiß ja, wie ihn sein zarter Organismus inmitten dieser Versuche im Stich ließ. Die Größe des Verlustes für die Literatur seines Landes läßt sich vollauf erst an den vorangegangenen Seiten ermessen.
Bleibt nur noch ein Hinweis auf die Reden und Manieren des »Henker-Richters« selbst. Daß diese in keiner Hinsicht übertrieben sind im Vergleich zu dem, was wir von seinem historischen Prototyp, Lord Braxfield, wissen, ist ganz gewiß. Der Locus classicus betreffs dieser Persönlichkeit findet sich in Lord Cockburns »Memorials of his Time«. »Kräftig von Statur und dunkel, mit struppigen Augenbrauen, gewaltig fesselnden Augen und drohenden Lippen, besaß er die tiefe, knurrende Stimme eines mächtigen Schmieds. Sein Akzent und seine Ausdrücke waren übertrieben schottisch; seine Sprache war wie sein Denken kurz, stark und entschieden. Ungebildet und ohne jeden Geschmack an verfeinerten Genüssen, schöpfte er aus seinem durchdringenden Verstand, der ihn in seiner Verachtung aller weniger groben Naturen noch bestärkte. Macht ohne jede Kultur. Es ist zu bezweifeln, ob er sich je so sehr in seinem Elemente fühlte, wie wenn er hohnvoll die letzten verzweifelten Verteidigungsversuche eines armen, elenden Verbrechers zu Boden schmetterte und den Betreffenden mit irgendeinem beleidigenden Witz nach Botany Bay oder an den Galgen schickte. Und doch geschah dies nicht aus Grausamkeit, für die er zu stark und zu jovial war, sondern aus seiner ausgesprochenen Vorliebe für alles Grobe.« Trotzdem werden diejenigen Leser, die mit schottischer Kulturgeschichte vertraut sind, ohne Zweifel erkannt haben, daß Braxfield in seinem Auftreten einen extremen Fall des achtzehnten Jahrhunderts darstellt, ebenso wie er durchaus dem achtzehnten Jahrhundert angehört (er starb 1799 im achtundsiebzigsten Lebensjahr); für die Zeit, in die der Roman verlegt ist (1814), streift ein derartiges Auftreten an einen Anachronismus. Während des Zeitalters der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege oder – um es anders auszudrücken – während der Generation, die in den Tagen lebte, da Walter Scott als Schüler der High-School und Student der Edinburger Universität in jener Gegend umherstreifte, bis zu der Zeit, da er auf dem Gipfelpunkt seines Ruhmes und seines Wohlstands sich in Abbotsford niederließ, war eine erhebliche Milderung der Sitten ganz Schottlands, insbesondere aber des Advokaten-und Richterstandes eingetreten. »Seit dem Tode des Lord Oberrichters Macqueen von Braxfield«, schreibt Lockhart etwa um 1817, »hat sich das ganze Auftreten der Richter von Grund auf geändert.« Eine ähnliche Kritik dürfte auf das Gemälde von dem Leben in den Grenzlanden zutreffen, wie es in dem Kapitel über die Vier Schwarzen Brüder von Cauldstaneslap entworfen ist: auch das erinnert eher an die Sitten und Gebräuche einer früheren Generation; ich wüßte auch keinen Grund anzuführen, weshalb Stevenson diesen besonderen Zeitpunkt, nämlich das Jahr vor Waterloo, für eine Geschichte wählte, von denen einige Züge zum mindesten besser in eine fünfundzwanzig bis dreißig Jahre frühere Epoche hineingepaßt hätten. Sollte der Leser außerdem noch zu erfahren wünschen, ob die Szenerie von Hermiston mit irgendeinem anderen, dem Verfasser aus seiner Jugendzeit bekannten Ort identisch sei, so muß ich ihm, glaube ich, verneinend antworten. Vielmehr ist sie zusammengetragen aus den verschiedensten Plätzen und Eindrücken der großen Moore Süd-Schottlands. In der Widmung sowie in einem Brief an mich bezeichnet Stevenson die Lammermuirs als den Schauplatz der Tragödie. Jedoch Mrs. Stevenson (seine Mutter) sagte mir, daß er ihrer Meinung nach von Erinnerungen an einen Besuch angeregt wurde, den er in seiner Kindheit einem Onkel auf dessen sehr entlegenem Gehöft in dem Distrikt Overshiels in der Gemeinde Stow abstattete. Allein wenn ihm ursprünglich auch die Lammermuirs vorgeschwebt haben mögen, sahen wir doch bereits, daß er seine Schilderung der Kirche und des Pfarrhauses einem anderen Ort seiner Knabenzeit, nämlich Glencorse in den Pentland-Hügeln, entlehnte, während Stellen im fünften und siebenten Kapitel ganz deutlich auf eine dritte Gegend, das Obere Tweed-Tal samt der von dort bis an den Ursprung des Clyde sich erstreckenden Landschaft, hinweisen. Diese Gegend hatte er außerdem als Knabe schon zur Ferienzeit auf Ritten und Ausflügen von Peebles aus kennengelernt: sie ist zweifellos auch der natürliche Schauplatz unserer Geschichte schon aus dem Grunde, daß dort, im Herzen der Grenzlande, vor allem im Teviot-Tale und in Ettrick, die wahre Heimat der Elliotts liegt. Einige der geographischen Namen sind ganz offenbar nicht als Fingerzeige gedacht. Der Spango, zum Beispiel, ist ein Flüßchen, das, soviel ich weiß, nicht in den Tweed, sondern in den Nith mündet, und Crossmichael ist der Name eines Städtchens in Galloway. Allein den Künstler geht immer nur das Wesentliche und Allgemeine an, und Fragen streng historischer Perspektive und lokaler Umgrenzung haben nichts mit der Wertung seiner Arbeit zu tun. Ebensowenig werden die Leser einen Kommentar zu wichtigeren Dingen von mir verlangen oder mir dessentwegen Dank wissen, einen Kommentar zu der ergreifenden und packenden reifen Kunst des Verfassers, die sich uns in den vorhergehenden Seiten enthüllt, zu den vielfältigen Charakteren und Gefühlen, die er mit sicherer Hand schildert, und zu seinem lebendigen, poetischen Scharfblick und Zauber der Darstellung. Wahrlich, kein Sohn Schottlands zollte je dem Land, das er liebte, vor seinem Tode, ja noch mit seinem letzten Atemzuge einen würdigeren Tribut.
s.c.
Wie Stevensons reifstes Werk entstand