Triebwerk der Wirtschaft wurde, zog man es vor, ominös von der Globalisierung zu sprechen (womit sich ein schwer zu fassender Dämon im Diskurs etablierte). Im Maße der allgemeinen Beschleunigung virtualisierten sich immer mehr Bereiche des ökonomischen und politischen Lebens. Begann es damit, dass man die Lager evakuierte und unter dem Schlagwort der Just-in-time-Produktion die Güter auf die Landstraße verlagerte, spannte man darüber eine digitale Membran, welche die Echtzeit-Verfolgung und Lokalisierung der einzelnen Güter etablierte. Idealbild all dieser Lieferketten jedoch bildete der instantane Download, der die Ländergrenzen und die Materialität des Objekts überhaupt überwindet.
Der technischen Revolution folgte jedoch nicht die entsprechende geistige Erneuerung. Ganz im Gegenteil: Der Limbo-Logik der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, begnügte man sich, die vertrauten Objekte immer preisgünstiger herzustellen, verwandte aber wenig Mühe darauf, sich in die symbolische Membran einzuarbeiten. Psychologisch verständlich, gewiss. Wer mag sich schon mit den Abgründen der objektorientierten Programmierung beschäftigen, noch dazu, wenn derlei auf eine narzisstische Kränkung hinauslaufen muss – die Erkenntnis, dass man in der Netzwerkgesellschaft nur mehr Dividuum sein kann? Gesamtgesellschaftlich freilich hat sich mit diesem Eskapismus ein Gestus kollektiver Blindheit etabliert. Wenn uns die Pandemie überrascht, so deswegen, weil sich die Netzwerkgesellschaft nur in abgespaltener, technischer Form realisiert hat – oder genauer: weil sie in den Maschinen, wie in einer Blackbox, verstummt ist. Mit einem solchen Vergessen gesegnet, konnte sich ein allgemeiner Konsumismus, geradezu eine Internationale der Konsumisten herausbilden. Ein neuer Typus von Massengesellschaft entstand: die virale Gesellschaft. Alles an ihr trägt eine digitale Signatur: Man kommuniziert transmedial, lichtgeschwind und peer-to-peer, vorbei an den Schleusenwärtern des guten Geschmacks. Anstatt jedoch mit der neuen symbolischen Ordnung eine neue, geistige Weltläufigkeit zu kultivieren, begnügt man sich umgekehrt damit, das Dorf – und damit die eigene Beschränktheit – zur Welt zu machen. Die kognitive Dissonanz zwischen einer hochgradig elaborierten Infrastruktur einerseits und einem zunehmend depravierten Geistesleben andererseits ist das Hauptcharakteristikum der viralen Gesellschaft. In ihr manifestiert sich das Paradox, dass man sich zwar der neuen Möglichkeiten bedient, aber nur, um mit einer Rolle rückwärts zum status quo ante zu finden, in eine Welt, die nur mehr als geistiges Heimatmuseum existiert. So besehen ist die pandemische Anfälligkeit der Netzwerkgesellschaft in den Shitstorms der sozialen Medien vorweggenommen, zeichnet sich der Zeitgeist durch einen stupenden Mangel an Geistesgegenwart aus.
Realitätsschock
Stellen wir uns einen Menschen vor, der erfährt, dass er über Jahre hinweg von seinem Ehepartner betrogen oder – wie zu Zeiten der DDR – bespitzelt und an die Staatssicherheit verraten worden ist. Mit einem Schlag bricht, was ein Fundament, ja, ein selbstverständlicher Teil des eigenen Lebens war, einfach weg, während umgekehrt die Vergangenheit in ein neues, fremdes Licht getaucht wird. Wie der Herbststurm, der die Blätter vom Boden aufwirbelt, wühlt diese Offenbarung das Vergangene auf; das Denken gerät in einen Strudel von Erinnerungen, die sich, von einem gleißenden Blendstrahl erfasst, urplötzlich als Täuschung erweisen. Eine Geste der Anteilnahme? Doch eher ein infamer Spionageversuch! Eine Vertrautheit? Nein, ein Fallstrick, der einzig darauf abzielte, eine Selbstentblößung hervorzukitzeln! Im Nachhinein treten die Bruchlinien und Ungereimtheiten hervor, über die man großzügigerweise hinwegsah. Jetzt aber, da die Wahrheit ans Licht gekommen ist, geben die Misstöne ihren eigentlichen, verborgenen Sinn zu erkennen. Und es bleibt nichts als die Verwunderung über die eigene Gutgläubigkeit, die unerschütterliche Bereitschaft, sich in falscher Gewissheit zu wiegen. Indes beschränkt sich dieser Moment des Sich-selber-fremd-Werdens nicht auf die Vergangenheit. Wenn vermeintliche Normalität nichts ist als Täuschung, wenn Liebe die Maske des Hasses, Nähe abgründige Fremdheit sein kann, worauf ist dann noch Verlass? Wie kann man seinen Augen, seinem Sinnesapparat trauen? Wie kann man auf die Zukunft bauen, wenn man schon in der Vergangenheit nur ahnungslos durch ein Labyrinth geirrt ist? Sind diese Fragen für den Einzelnen bereits eine existenzielle Erschütterung, um wieviel größer wird dieser Schock wohl sein, wenn er eine ganze Gesellschaft affiziert? Hier nähern wir uns jener Logik, die Adorno mit dem Begriff des ›allgemeinen Verblendungszusammenhangs‹ gefasst hat. Denn die Bereitschaft, sich in falscher Gewissheit zu wiegen, kann ihrerseits zu einer Ökonomie, ja, zu einer systematisch betriebenen Form der Wirklichkeitsverweigerung werden. In diesem Sinn verschlägt es nicht viel, ob der eine oder andere Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns hegt – entscheidend ist allein die gesellschaftliche Valorisierung bestimmter Vorgänge: sie bestimmt, ob eine Geste ihr Geld wert ist oder nicht. Weil man die conditio socialis für das Realitätsprinzip hält, lässt sich leicht übersehen, dass die miteinander interagierenden Elemente vor allem der Aufrechterhaltung des gemeinschaftlichen Scheins dienen, während sich untergründig eine tektonische Verschiebung eingestellt hat. Weil das Gesellschaftssystem ein langsamer Tanker, zugleich auf das Feinste kalibriert und austariert ist, ist die Begegnung mit dem Fremdkörper (dem Einer-im-andern) von immenser Wucht. Hätten die Passagiere der Diamond Princess ahnen können, dass die Reise, die sie bei der Carnival Corporation gebucht hatten, in einen Horrortrip einmünden würde, ja, dass das Kreuzfahrtschiff, der Inbegriff des luxurierenden Daseins, sich zu einem mobilen Versuchslabor wandeln würde? Gewiss wohnt dem Ausbruch der Pandemie eine gewisse Zufälligkeit inne, dennoch mutet das zur Quarantänestation gewordene Kreuzfahrtschiff wie eine Metapher an: Hier schlägt die Weltflucht des letzten Menschen in blanken Horror um. Dieser Stimmungsumschlag vertreibt nicht nur die heitere Sorglosigkeit der Kreuzfahrerschar, sondern zieht vor allem das geistige Navigationssystem, das Selbstverständnis in Mitleidenschaft. Bis zum Ausbruch der Pandemie nämlich hätte ein jeder den Gedanken, Teil eines viralen Gesellschaftsgefüges zu sein, mit Vehemenz von sich gewiesen. Das postmoderne Narrativ jedenfalls, das sich mit dem Beginn des Computerzeitalters herausgebildet hat, behauptet das ganze Gegenteil. In dessen Geschichte tritt das selbstbestimmte Individuum aus dem Dunkel der gesellschaftlichen Normen und ihrer Beschränktheit heraus und erlebt, enthusiasmiert, die Verheißung des Anything goes: die Freiheit, sich selbst realisieren zu können.9 Dieses Pathos der Selbstzeugung konfligiert mit einer sonderbaren Gleichschaltung der Lebensstile. Die Königskinder, die uns auf ihren Instagram-Accounts mit ihrer Weltsicht beglücken, erweisen sich, dem Beuys’schen Generalverdacht spottend (»Jeder ist ein Künstler«), bestenfalls als Kopisten, ihre unverdrossene Behauptung, ganz sie selbst zu sein, als heilige Einfalt: I, me and myself. So realisiert sich der Influencer, indem er das eigene Leben zum Verkaufskatalog macht, verendet umkehrt das heroische Selbstverwirklichungsprojekt in der Identitätspolitik – in jedem Fall aber hat man es mit einem Abgesang auf das postmoderne Freiheitsversprechen zu tun.
Krieg
Stell dir vor, es ist Krieg, aber niemand hat ihn erklärt. Niemand hat den vermeintlichen Angriff mit der Erklärung beantwortet, man schieße zurück. Es gibt keinen Schuldigen, der satisfaktionsfähig wäre. Clausewitz, der den Krieg auf die Urszene des Zweikampfes zurückgeführt hat, wäre ratlos in Anbetracht eines Gegners, der durch Abwesenheit glänzt. Tritt der Ernstfall ein, stirbt der Betreffende nicht von der Hand eines Feindes, sondern ertrinkt in der eigenen Lunge, überwältigt von einer Überreaktion des eigenen Immunsystems. Man kann frohlocken, dass es die Ungläubigen trifft oder die alten, weißen Männer, aber diese Haltung ist so töricht wie der Spott der Normannen, die sich zu den Zeiten der Pest darüber mokierten, wie schnell ihre bretonischen Nachbarn dahingerafft wurden. Den Gegner bekümmert es nicht, welcher Religion, welcher Ideologie oder welcher privilegierten Kaste ich angehöre. Er schlägt zu, unterschiedslos. Nein, er schlägt nicht einmal zu, sondern überlässt die Kampfhandlungen mir. Wenn mein Schutzschild zu meinem ärgsten Feind werden kann, so deswegen, weil es nicht für diese Form der Kriegsführung gewappnet ist. Stattdessen wendet es sich gegen mich selbst und wird zur Autodestruktion, ähnlich widersinnig wie ein Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Nein, dieser Krieg ist nicht erklärt worden – und er wird nicht erklärt werden können.
Wie man weiß, beginnt der Krieg dort, wo die Zwiesprache endet. Befremdlich bloß: Es hat gar keine Zwiesprache gegeben, keine Auseinandersetzung, nichts. Gewiss, vor Jahren einmal hat sich eine Kommission der pandemischen Drohung gewidmet, aber niemand hat sich für die Ergebnisse ihres Nachdenkens interessiert. So gering war