zu der alten Kapelle, kniete nieder und steckte ihre Blumen in das hölzerne Vorgitter des kleinen Gotteshauses, so daß es bekränzt war wie für ein Fest.
»Das wird die Mutter Gottes freuen!« sagte sie, ihr Werk betrachtend.
Plötzlich horchte sie neugierig und verwundert in die blaue warme Luft. Ein Rollen wie von fernem Gewitter ging durch die Stille des Nachmittags. Es war Lawinendonner, den die Luft von den Bergen herniedertrug. Am schmalen Himmelsband über dem Thal waren weiße Föhnstriche hingeweht, die Schläge der Frühsommerlawinen und kleinen Gletscherbrüche lebhafter denn sonst.
Jetzt blickte sie von der Kapelle den Weg hinab und legte die Hand zum Schutz gegen die brennende Sonne über die dunklen Augen.
Der Vater kam noch nicht, dafür zwei Kinder mit Tragkraxen, beide mit Bergstöcken in der Hand.
»Vroni! Josi!« Mit lebhaftem Ausbruch der Freude sprang sie ihnen entgegen.
»Hast schwer, Vroni? Hast schwer, Josi? Hättet ihr die Last meinem Vater auf das Wägelchen gegeben, er ist heute nach Hospel gefahren, ich erwarte ihn hier mit Vorspann.«
Josi schüttelte nur den Kopf. Die beiden Geschwister stellten ihre Kraxen auf die hölzerne Bank vor der Kapelle, wischten sich den Schweiß aus der Stirn und setzten sich gelassen hin. Binia, die Blumensucherin, betrachtete die beiden wohlgefällig. Vroni, unter deren niedrigem altem Strohhut das Goldhaar hervorquoll und in glänzenden Fäden um die geröteten Wangen flog, war nur ein Jahr, Josi, der kräftige Bursch, der einen ähnlichen Hut trug, zwei Jahre älter als sie. Und sie war zwölf.
»Sechzig Pfund hab' ich,« sagte Josi, die Beine schlenkernd, an denen die schwergenagelten Holzschuhe klapperten, »die Vroni hat vierzig, ob so viel Mehl wohl reicht bis zur Ernte?«
»Es wird schon langen müssen, aber dann wird's gut, das Aeckerchen trägt dieses Jahr viel Korn,« erwiderte Vroni hausmütterlich froh.
Da ging wieder ein langhallender Donner durch die Ruhe des Thales. Josi sprang auf: »Ja, es ist doch wahr. Die Wildleutlaue geht wieder los! Sieben Jahr ist der Gletscher zurückgegangen und sieben Jahr gewachsen, das letzte Jahr war ein schlechter Sommer und jetzt ist ein guter – da bricht der Eissturz los!«
Binia ließ die Schwarzaugen funkeln, Vroni mahnte ab: »Sage nichts Sündiges, schau' doch in die Kapelle, wie viel Marterkreuze von denen an den Wänden stehen, die in die Felsen haben steigen müssen, wenn das helige Wasser von der Wildleutlawine zerstört worden ist.«
Die Kinder warfen einen schaudernden Blick in die Dämmerung der Kapelle. Ihre Wände waren mit hölzernen und eisernen Täfelchen ganz bedeckt, auf denen die Namen von Verunglückten und fromme Sprüche standen.
»O, wie traurig,« sagte Vroni, »da ist es kein Wunder, wenn die Leute bei uns nicht so laut singen und lachen mögen, wie draußen im großen Thal und alle so still und ernst sind.«
Aber die anderen hatten keine Lust, ihren Betrachtungen zu folgen.
»Du, Vroni, erzähl' uns doch wieder einmal die Geschichte von den heligen Wassern, du erzählst sie so schön,« schmeichelte Binia, indem sie sich flink zwischen die Geschwister drängte und an die Freundin schmiegte.
»Das ist eine lange Geschichte,« warf Vroni ein, es war aber, als gehe von den dunklen Augen Binias ein Zwang auf sie, sie lächelte und streckte die rote Schürze zurecht: »Ja, nun so, wir kommen schon noch heim.«
Von ihrer Mutter hatte Vroni den Ruf einer geschickten Erzählerin überkommen. Ihre blauen Augen gingen träumerisch ins Weite, sie überlegte, faltete die Hände über dem Knie und begann: »Also, das ist so lange her, daß es nirgends in den Büchern aufgeschrieben steht. Da gab es neben uns rechten Leuten im Glotterthal noch Wildmännlein und Wildweiblein, die in den Wäldern wohnten. Es geschah nun, daß einer von den rechten Hirten ein Wildmädchen Namens Gabrisa, das mächtig schön war, lieb gewann. Ihr dunkles Haar reichte bis auf den Boden, ihr Gesicht war weiß und ihre Stimme tönte wie Glockenspiel. Allein ihrem Geliebten mißfiel es, daß sie jedesmal, wenn Vollmond war, zu den Ihrigen in den Wald verschwand. Einmal brachte er nun am Tag vor dem Vollmond Wein von Hospel herauf. »Trink, Gabrisa,« sagte er. »Ist das güldenes Wasser?« fragte sie, denn sie kannte den Wein nicht. Und er antwortete: »Ja, das ist güldenes Wasser.« Da trank Gabrisa und der Wein schmeckte ihr gut. Als sie in den Wald eilen wollte, trugen sie die Füße nicht, sie schwankte, fiel und schlief ein; als sie aber erwachte, sprang sie in den Wald, wandte sich noch einmal nach dem Geliebten um und sang ihm mit ihrer schönen Stimme zu:
»Güldenes Wasser, das macht mir Pyn,
Ich darf nit mehr dine Liebste syn!«
Das Mädchen war verschwunden. Aus Zorn über den Schimpf, der Gabrisa und damit sie alle getroffen, bannten die Wildleute die Wolken, daß sie ihr Naß nicht mehr über Hospel und die fünf Dörfer ausleeren konnten, wo der Wein, den sie getrunken hatte, gewachsen war. Die Rebberge verdorrten, Aecker und Wiesen standen ab, es trat eine große Hungersnot und ein großes Sterben ein, das nicht mehr aufhören wollte.«
Die Erzählerin ruhte einen Augenblick, als ob sie sich sammeln wollte, sie war so mit sich selbst beschäftigt, daß sie nicht sah, wie Josi, ihr Bruder, die Augen unverwandt auf das blumenbekränzte Haupt Binias geheftet hielt, auch diese selbst spürte es nicht, denn sie hatte ihre Lebhaftigkeit gebändigt und hing mit ihren Blicken an Vroni.
Ehe diese den Faden ihrer Geschichte wieder aufnehmen konnte, schrie Galta, das arme Vieh, das die Kinder ganz vergessen hatten, so stark, daß die pflichtvergessene Vinia aufsprang und über die Brücke zu ihr hinübereilte.
Da sagte Josi unvermittelt, als hätte er von der Geschichte seiner Schwester gar nichts gehört: »Bini ist aber ein schönes Mädchen!«
Vroni sah den Bruder erstaunt an, erst nach einer Weile antwortete sie: »Siehst du das erst jetzt, das habe ich schon lange gewußt.«
Ihre Gedanken blieben bei der Erzählung haften, die Hände im Schoß, spann sie die Geschichte weiter und merkte nicht einmal, wie nun auch Josi sich leise von ihr weg über die Brücke zu Binia hinüberschlich.
»Umsonst flehten die Hospeler die Wildleute an, daß sie den Bann lösen. Sie antworteten: ›Das können wir nicht mehr, denn was geschehen, ist geschehen und der Fluch gilt ewig. Als die ›trockenen Dörfer‹ sollt ihr bekannt sein im Land zu aller Warnung.‹ Und sie sprangen in den Wald.
Zu jener Zeit nun kamen die Venediger ins Glotterthal, gründeten das Schmelzwerk und gruben Blei- und Silbererz, das sie verschmolzen, bis das pure Metall in die Kannen rieselte.
Für ihre Feuer, die nie ausgingen, brauchten sie gewaltig viel Holz. Als sie aber den Arvenwald zwischen der Brücke und dem Dorf zu schlagen anfingen, gerieten die Wildleute in große Angst, es würde die Zeit kommen, wo sie nicht mehr genug süße Zirbelnüsse, ihren liebsten Leckerbissen, fänden. Sie berieten lange hin und her, wie sie die Leute von St. Peter bewegen könnten, ihnen ein großes Stück Wald zu schenken. Eines Nachts erschien Gabrisa am Lager ihres ehemaligen Geliebten, lächelte und sagte: ›Ich will dich und alle in St. Peter reich machen mit güldenem Wasser, das ihr gerne trinket, so ihr uns Wildleuten den Wald an der Thalhalde zwischen dem Dorf und der Kapelle schenkt, wo die Zirbeln wachsen. Saget denen zu Hosvel, daß mir Wasser auf ihre verdorrten Reben, Felder und Wiesen führen wollen, wenn sie euch gutwillig ein Dritteil ihrer Weinberge geben.
›Uns Wilden den Wald, euch Zahmen den Wyn,
Das soll treulich und ewig gehalten syn!‹
Gabrisa verschwand. Schon lange hätten die von St. Peter gern Weinberge gehabt, aber die Reben wachsen nicht, wo die Gletscher sind. Darum ging ihnen, was Gabrisa sagte, zu Herzen, sie redeten mit den Hospelern und den fünf Dörfern; mürbe von der langen Not, traten diese dem Handel bei, denn ihre Reben waren wertlos geworden. Wie Gabrisa gesagt, kam der Vertrag zu stande und wurde beim Bildhaus von Tremis von den Abgesandten der Wildleute und der Dörfer beschworen.
Nur wunderte man sich, wie die Wildleute das Wasser in die hohen Weinberge tragen oder führen werden, doch wußte man, daß sie in vielen Künsten erfahren