Alexander Oberleitner

Michael Endes Philosophie


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vom End-lichen oder vom Be-dingten sprechen, obwohl doch beide Ausdrücke ganz verschiedene Bilder in sich tragen. Dies zeigt, daß das sinnliche Element, wenn auch unabdingbar für unseren argumentativen Text, doch nicht das ist, worum es ihm letztlich geht. Gerade die philosophische Sprache – um die es uns hier in erster Linie zu tun ist – kann relationale Zusammenhänge auf ganz unterschiedliche Weise »versinnlichen«,61 ohne damit der Genauigkeit des Gedankenganges im geringsten Abbruch zu tun.

      Tasächlich birgt zwar jeder Text, vom banalsten Schlager bis zur »Kritik der reinen Vernunft«, immer schon beide Elemente in sich: einen unmittelbar-sinnlichen und einen gedanklich-reflexiven. Das entscheidende Merkmal argumentativer, zumal philosophischer Sprache ist es aber, die sinnliche Komponente im Argument beiseite lassen zu können. Zwar sind sowohl der Schreibende als auch der Leser, sowohl der Sprechende als auch sein Zuhörer gezwungen, sich Inhalte in anschaulicher Weise vorzustellen; aber im Argument spielt dies dennoch keine wesentliche Rolle. Anders als poetische Sprache erhebt philosophische Argumentation keinerlei Anspruch, unmittelbar auf das Gefühl zu wirken (obwohl sie es natürlich auch tut; aber dies wird ebenfalls wiederum beiseite gelassen).

      Der poetische Text steht also – im Gegensatz zur begrifflichen Argumentation, die, wie das Beispiel gezeigt hat, prinzipiell imstande und geeignet ist, von ihrer sinnlichen Komponente gewissermaßen abzusehen – immer schon ganz wesentlich in der Spannung zwischen Sinnlichkeit und Denken, zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion. Ihm eine jener Botschaften abzupressen, die Ende (berechtigterweise) so sehr verachtet, bedeutet, diese Spannung zu ignorieren, indem mit dem poetischen Text umgegangen wird, als ob er »in Wirklichkeit« ohnehin argumentativ wäre. So kommt es zur berüchtigten Frage: »Was will uns der Künstler eigentlich sagen?« – ganz so, als ob es dem Autor an Talent oder an Kraft gemangelt hätte, seine eigentliche Aussage zu Papier zu bringen. Die Antworten pflegen dementsprechend am Text vorbeizugehen. Wenn in der Unendlichen Geschichte die Kindliche Kaiserin todkrank in ihrem Gemach liegt, tut sie das dann in ihrer Funktion als »Symbolfigur für das Selbst«62 oder doch eher als »archetypische[s] Mutterbild«?63 Oder beides? Ich sage nicht, daß man Bilder wie dieses nicht deuten kann. Tatsächlich bedeutet gerade die Krankheit der Kindlichen Kaiserin für Michael Ende, wie wir noch sehen werden, etwas schlicht Ungeheuerliches – aber so plump ist dieses Etwas nicht zu fassen.

      Eine Untersuchung, die immer wieder eine solche »Botschaft« Michael Endes zum Ausgangspunkt nähme, um sie dann mit anderen seiner »Botschaften« zu einem möglichst widerspruchsfreien »System« zu verbinden, würde also im Ergebnis ein Denken Endes aufweisen, das es so nie gegeben hat. Gerade wenn wir sein Denken tatsächlich ernst nehmen wollen, ist es daher nötig, stattdessen vom Sinn seiner einzelnen Texte, wie er der jeweiligen Gesamtheit ihrer sprachlichen Gefüge innewohnt, auszugehen, um von dort her nach seinem Denken zu fragen. Dies bedeutet, unablässig auf die Spannung zwischen Sinnlichkeit und Denken, in der sie stehen, zu achten und auf diese im einzelnen immer wieder kritisch zu reflektieren. Dabei können wir natürlich darauf bauen, daß eine Vermittlung zwischen beiden nicht nur grundsätzlich möglich ist, sondern sogar permanent geschieht, da unsere gesamte Erfahrung sonst in eine sinnliche und eine reflexive Komponente auseinanderfallen würde – wovon glücklicherweise keine Rede sein kann. Ich möchte indes in diesen lediglich hinführenden Notizen noch nicht allzusehr in die Tiefe gehen, sondern nur darauf hinweisen, daß wir mit diesem Thema im Laufe der Untersuchung noch zu tun haben werden.64

      Es war in diesem Abschnitt meist vom argumentativen Denken im allgemeinen und weniger vom philosophischen im speziellen die Rede, in der berechtigten Annahme, daß alles, was für jenes gilt, auch auf dieses zutreffen muß. Es könnte indes scheinen, daß die Philosophie, welche ja geradezu ein Hort logischen Denkens ist (oder zumindest sein sollte), mehr von der Poesie trennt als andere Wissenschaften. In der Tat haben wir es hier in gewisser Weise mit Gegensätzen zu tun, Gegensätzen freilich, die nicht nur aufeinander bezogen werden können, sondern von sich aus aufeinander bezogen sind.65 So kann die Philosophie, gerade wegen ihrer exemplarisch strengen Logik und dementsprechend geschärften Begrifflichkeit, in einen echten, sinnvollen Dialog zur Poesie treten – sofern sie sich nur nicht selbst poetisch gebärdet.66 Wenn also der Begründer der modernen Fantasyliteratur, der Brite J. R. R. Tolkien, so treffend bemerkt: »Je klarer und schärfer die Vernunft, desto bessere Phantasien wird sie hervorbringen«67, so bleibt nur zu betonen, daß dies auch vice versa gelten kann: Das begriffliche Denken vermag Bewußtseinswelten zu schaffen, welche die Dichter zu neuen Bildern anregen, die wiederum den Philosophen zu denken geben. Vielleicht kann auch die vorliegende Untersuchung einen bescheidenen Beitrag zu diesem fruchtbaren Kreislauf leisten.

       2.War Michael Ende ein Gegner des logischen (begrifflichen) Denkens?

      Wenn wir Michael Endes zahlreiche Reflexionen – sei es in protokollierten Diskussionen, Interviews oder Briefen – über Möglichkeiten und Gefahren des begrifflichen oder auch logischen Denkens in ihrer Gesamtheit betrachten, so stoßen wir zuweilen auf eine gewisse Skepsis, die manchmal sogar an Ablehnung zu grenzen scheint. Daß Ende gern die »Verkopftheit« seines Jahrhunderts beklagte, wissen wir bereits aus Phantasie/Kultur/Politik. Was damit gemeint ist, wird an anderer Stelle desselben Gesprächs deutlicher, wo es um die tieferen, historischen Ursachen des Problems geht:

      Mit Sokrates hat im Grunde das argumentierende Denken angefangen, das die Vorsokratiker noch nicht kannten. […] Man kann sagen, daß das heraklitische Denken dem asiatischen, dem zenbuddhistischen Denken viel verwandter ist als irgendeinem begrifflichlogischen Denken von heute. Die Sokratiker haben eigentlich angefangen zu glauben, man könne durch das logische Argument zu Wahrheiten gelangen und mit diesen Wahrheiten etwas Festes, etwas »Objektives« in der Hand haben. Aus diesen Überlegungen heraus hat sich dann im 16. Jahrhundert das nur noch quantifizierende Denken ergeben. Man hielt nur noch das für wahr, was zählbar, meßbar oder wägbar war, und leugnete schließlich sogar die Wirklichkeit aller Qualitäten, weil die eben nicht durch ein quantifizierendes Denken zu fassen sind. […] Im naturwissenschaftlichen Weltbild von heute wird nur noch das für wahr gehalten, was ein einzelnes, farbenblindes Auge von der Welt wahrnimmt, und auch davon nur das, was sich in Zahlen ausdrücken läßt, alles andere ist reine Illusion. Die Farben Rot oder Blau existieren in Wirklichkeit nicht, sie werden nur subjektiv von unserem Gehirn erzeugt – was wir wahrnehmen, sind da in Wirklichkeit nur lange oder kurze Lichtwellen, die unsere Sehnerven entsprechend stimulieren. Schwingungen, die man in Zahlen ausdrücken kann.

      Im Grunde wird alles zur Illusion erklärt, was Qualität ist […]. Als Musterbeispiel dafür könnte man etwa Bücher anführen wie Jenseits von Freiheit und Würde des amerikanischen Verhaltensforschers Skinner oder Zufall oder Bestimmung des französischen Chemikers Monod.68

      Diese Passage hat Kowatsch offenbar derart beeindruckt,69 daß sie das gesamte Schaffen Endes kurzerhand als einen Versuch zur »Überwindung des abstrakt-begrifflichen Denkens«70 deutet. Hätte sie recht, wäre eine Untersuchung wie die vorliegende schlichtweg hinfällig. Das Werk eines Schriftstellers »in der Tradition des Antirationalismus«71, dessen Helden am »Intellektualismus der modernen Welt«72 leiden, einer begrifflich-intellektuellen Analyse zu unterziehen, gar nach seinem philosophischen Denken zu fragen, wäre nicht nur absurd, es käme geradezu einer posthumen Insultation Endes gleich, die auch keinerlei sinnvolle Ergebnisse zeitigen könnte.

      Sehen wir uns das obige Zitat genauer an, so fällt als erstes auf, daß Endes Stellungnahme selbst im Rahmen und in der Form abstrakt-begrifflicher Argumentation verläuft, womit er, wenn wir Kowatsch folgen, eine grobe Inkonsequenz beginge – würde er sich doch gerade auf jene Art der Ratio stützen, die er zu stürzen versuchte. Aber geht es hier wirklich um das Denken in Begriffen? Viel eher hat man den Eindruck, daß sich Ende gegen die Allmacht der erfahrungswissenschaftlichen