Jakob Wassermann

Ulrike Woytich


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er am Nachmittag von Robert erhalten, und nun war Ulrike seine letzte Hoffnung.

      Ungeduldig ging er vor dem Haus in der Dorotheergasse auf und ab. Schon wollte er noch einmal in der Wohnung nachfragen, ob sie nicht inzwischen heimgekehrt sei, da kam sie mit ihren raschen Schritten auf ihn zu und blieb verwundert stehen. Zuerst berichtete er ihr, was zu Hause vorgefallen war. Sie schüttelte den Kopf, schaute auf die Uhr und sagte, sie werde gleich mit ihm gehen. Er hielt sie zurück. Er bat, sie möge ihm einen Augenblick Gehör schenken und mit ihm unters Tor treten. Sie horchte auf, witterte Unheil, zog ihn ins Haus, und er beichtete.

      Ulrike schwieg eine Zeitlang. Den Übeltäter ein bisschen zappeln zu lassen, empfahl sich. So hatte es kommen müssen, so hatte sie vielleicht gewollt, dass es kam. Genaue Rechenschaft gab sie sich nicht. Es war eine dunkle Tatsache, die im Bereich der Kombinationen gelegen war und die ihr Fäden in die Hand spielte.

      Sie fragte, was er mit dem Geld angefangen. Zögernd zählte er auf: soundsoviel habe er beim Konditor verbraucht, soundsoviel für heimliche Kaffeehausbesuche, soundsoviel für ein verbotenes Buch, soundsoviel für Handschuhe und eine neue Krawatte, die er zu Hause nicht einmal zeigen durfte.

      „Kindskopf,“ sagte Ulrike; „und was sonst? Denken Sie nach.“ Ihr durchdringender Blick fing seinen fliehenden und unter Erröten und Erblassen bekannte er, er sei bei einem Mädchen gewesen, einer Statistin vom Carltheater, bei der ihn ein Mitschüler eingeführt.

      Ulrike lachte verächtlich, und ihr Gesicht wurde finster. „Sind Sie mir böse?“ erkundigte sich Lothar mit zuckendem Mund.

      Ulrike erwiderte: „Es ist nicht nett und es ist nicht sauber, wenn ein so hübscher Bursch zu Frauenzimmern geht, die er für ihre Liebe bezahlt. Pfui!“

      Mit gefalteten Händen flehte er, sie solle ihm verzeihen. Sie solle ihm in seiner Not beistehen, sie sei der einzige Mensch, zu dem er Vertrauen habe; weise sie ihn ab, so sei er verloren und müsse sich erschiessen. Ulrike lachte ihn aus. Er war aber so reizend in seiner Bekümmernis, so pagenhaft schmiegsam als zerknirschter Sünder, dass sie ihn tröstete und aufrichtete und sagte, sie werde sichs auf dem Weg überlegen, jetzt müssten sie vor allem zu Esther und Aimée, damit denen in ihrem Unglück geholfen werde.

      Während sie eilig an seiner Seite durch die beschneiten Gassen schritt, dachte sie an das Beisammensein mit Mylius, von dem sie eben kam. Sie hatte sein abendliches Retiro ausgespäht; sie wollte ihm einmal Aug in Aug gegenübersitzen, ihn einmal zeugenlos beobachten und daraus für die Zukunft ihre Schlüsse ziehen. Ein Unterfangen, das nicht den Schatten eines Argwohns in ihm wecken konnte. So war sie von ungefähr an seinen Tisch getreten, irrender Gast, hatte sich überrascht gestellt, ihn hier zu finden, sich bei ihm niedergelassen und ihre ganze Plaudergabe entfaltet, um ihn zu fesseln und mit einem Wort oder Blick aus sich herauszulocken. Vergeblich. Ebensogut hätte sie versuchen können, einen hundert Zentner schweren Felsblock vom Fleck zu rücken. Er hatte sein säuerliches Schmunzeln, nickte ihr bisweilen gnädig oder teilnehmend oder amüsiert zu, zeigte auch wohl sonst, dass ihm ihre Gesellschaft nicht gerade missfiel, aber einen andern Erfolg hatte ihre Bemühung nicht gehabt.

      Trotzdem war sie befriedigt. Sie hätte nicht sagen können wodurch; doch gab es einige kleine listige, perfide Wahrnehmungen, die ihr Bürgschaft zu bieten schienen, dass der Felsblock nicht immer und ewig träge ruhen bleiben würde.

      Das gab den Ausschlag für ihr Verhalten gegen Lothar, und nachdem sie alles reiflich erwogen, sagte sie, als sie im Myliusschen Hause angelangt waren und die Treppe hinaufgingen, zu dem ängstlich auf ihren Bescheid Harrenden, sie werde ihm die achtundvierzig Gulden vorstrecken, er solle sich das Geld morgen mittag bei ihr abholen und ihr dann die Dose bringen, von der sie vermutete, dass sie wertvoller war als dieser Betrag. „Wirklich? wahrhaftig und wirklich?“ rief er erlöst und hob das Gesicht mit strahlendem Ausdruck zu ihr. Sie mahnte ihn mit den Augen zur Vorsicht und erwiderte in hofmeisterndem Ton, sie hoffe, dass ihn ihre Gutwilligkeit vor weiteren Torheiten der Art bewahre. Er versprach es mit Eifer.

      Um acht Uhr, pünktlich wie immer, war Mylius zum Abendessen nach Hause gekommen. Esther und Aimée erhoben sich; jede trat hinter ihren Stuhl; jede sah ihn an, furchtsam, bleich, schweigend. Sie wagten die Frage nicht zu stellen, die solche Fülle des Lebens für sie barg, Glanz und Wunder einer festlichen Nacht. Bittend kehrten sich Esthers Augen zur Mutter. Christine näherte sich ihrem Manne und flüsterte halb mutlos, halb im voraus begütigend: „Du hast die Ballkleider der Kinder weggenommen?“

      Mylius, äusserst verwundert tuend, antwortete mit hochgeründeten Brauen: „Ballkleider? Die jungen Damen hatten Ballkleider? Ei was! Sieh doch, sieh doch. Vielleicht wieder ein kleines Feuersbrünstchen gefällig? Oder soll gar bei mir im Hause ein Ball gegeben werden? Davon hatte ich keine Ahnung. Das überrascht mich sehr. Ich habe allerdings ein paar närrische bunte Fetzen liegen sehn und sie in mein Kontor geschafft, das ist richtig. Ist nichts dran passiert, habe sie gut aufgehoben, und wenn wirklich der Ball stattfindet, kann ja sein, dass sich das so trifft, sollt ihr sie haben. Jetzt will ich in Frieden essen und wünsche nicht mit euern Spässchen behelligt zu werden.“

      Man wusste und hatte es oft erfahren, dass es keinen Appell gab, wenn er in diesem Ton und mit dieser Miene redete. Die schlimmen Folgen, Untersuchung und Strafe, Taschengeldentziehung, Verdikt, einen Tag lang in der Küche zu essen, kamen dann hinterher. Esther und Aimée stürzten aus dem Zimmer, die Hände vors Gesicht gepresst, Christine sass unschlüssig und leidvoll auf ihrem Platz; Josephe, neben ihr, schaute mit grossen Augen vor sich hin. Ein verstohlener Blick traf bisweilen den Vater, um erschrocken wieder abzugleiten. Sie erwartete, dass er von Ulrike sprechen würde, in deren Gesellschaft er noch vor einer Viertelstunde gewesen. Welchen Grund hätte er haben sollen, es vor der Mutter zu verhehlen? Aber er schwieg. Das ruhige Behagen, mit dem er sich der Mahlzeit widmete, dünkte ihr kaum auszuhalten. Um die glattrasierten Lippen zuckte das undeutbare Schmunzeln, und er schwieg. Ihr Gerechtigkeitsgefühl lehnte sich auf. Sie dachte: da er mit Ulrike so freundlich war, wie ich es gesehen, warum verwehrt er den Schwestern, was doch ihre und Ulrikes gemeinsame Sache ist? Warum hat er Ulrike nicht mitgeteilt, dass er den Plan zunichte gemacht hat? Das ist seiner nicht würdig. Und andererseits, warum hat Ulrike, die so offen und aufrichtig ist, ihm nicht alles gestanden, wär es auch nur, um die Mutter vor einer Demütigung zu bewahren? Warum müssen die Dinge verworren und hässlich sein, während sie einfach und erfreulich sein könnten, wenn die Menschen ein bisschen darüber nachdenken würden, was sie tun?

      Josephe atmete und webte in einer klaren inneren Welt, in der kein Falsch und kein Arg war, deren Schwelle die Erfahrungen des Lebens noch nicht befleckt hatten.

      Es läutete. Aufgeregtes Wispern war vernehmbar, gleich danach traten Ulrike und Lothar ein. Nach flüchtigem Gruss setzte sich Ulrike an den Tisch, Mylius gerade gegenüber. Sie kreuzte die Arme über der Brust und sagte lächelnd: „Die Kostüme werden wir herausgeben, nicht wahr?“

      Mylius wiegte den Kopf und erwiderte: „Daran ist nicht einmal zu denken.“

      Vielleicht war es seine in solchen Momenten besonders hervortretende heimatliche Mundart, das behäbig-breite Hessische, das Ulrikes Heiterkeit erweckte; sie lachte belustigt auf und sagte: „Ich weiss es ganz gewiss.“

      „Da bin ich neugierig, wie Sie das fertigbringen“, antwortete Mylius, ohne die Augen vom Teller zu erheben.

      Ulrike beugte sich vor. „Ziemlich einfach, will ich hoffen, da ich es doch mit einem redlichen Manne zu tun habe. Die Dominos gehören nämlich mir. Ich habe den Stoff bezahlt, ich habe die Arbeit bezahlt, ich bezahle die Gelegenheit, zu der sie dienen.“

      Mylius schwieg verstockt.

      „Verstehen Sie, Herr Mylius, bezahlt!“ sagte Ulrike beinahe drohend; „bezahlt! das Wort wird Ihnen doch was gelten: bezahlt!“ Dabei klopfte sie mit dem Daumennagel auf das Tischtuch und zeigte ihre untadeligen weissen Zähne.

      Etwas betroffen versetzte Mylius: „Bedaure. Kann Ihnen die Kleider unmöglich ausliefern. Sind im Laden. Habe sie dort eingeschlossen. Muss bitten, sich bis morgen zu gedulden.“

      Ulrike stand auf. „Das ist starker Tabak,“ rief sie; „unmöglich? Eine erbauliche Rechtsordnung wäre mir das. Und ich