Jakob Wassermann

Ulrike Woytich


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sorgfältig auf ihren Schützling. Mylius war zu Hause. Er wusste bereits alles, als Ulrike mit Josephe oben ankam. Christine war nicht die Frau, die eine ihr drohende Unannehmlichkeit hinausschieben konnte, schon gar in der Verfassung nicht, in der sie war. Sie hatte ihren Mann mit wenigen Worten unterrichtet und ihn auch gleich um das Geld ersucht. Er war nicht bei dem brennenden Theater gewesen, sondern hatte sich an den aufgeregten Erzählungen genügen lassen, die er auf der Gasse gehört; jetzt wartete er seit einer Stunde auf das Abendessen und war wegen der Verzögerung in übler Laune. Christines Mitteilung, die Art, wie sie ins Zimmer stürmte, ihr abgerissener und beschmutzter Anzug bestürzten ihn; zugleich konnte er den Ärger über die Heimlichkeit nicht unterdrücken, durch die Josephes Theaterbesuch ermöglicht worden war. Hieran knüpfte sich der Groll über die Geldausgabe; trotzdem das tyrannische Regiment, das er führte, den Seinen keinerlei freie Bewegung erlaubte, quälte ihn nicht selten das Misstrauen, dass man hinter seinem Rücken allerlei Verschwendung treibe, kleine und unschuldige Verschwendung allerdings, aber doch zu fürchtende, da ja alles Böse eine unscheinbare Wurzel hat.

      Als nun Christine das von Ulrike Woytich ausgelegte Fahrgeld forderte, denn dieser Verpflichtung wollte sie sich zunächst entledigen, zauderte er, wand sich, zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf, wollte den Betrag zu hoch finden, tauchte aber dann doch, bezwungen durch den verzweifelt flehenden Blick seiner Frau, die Hand in die Rockbrust und holte die Brieftasche hervor. Christine, von Ungeduld übermannt, entriss ihm den Schein mit einem Seufzer, in dem tausend seit Jahren zurückgehaltene Klagen vibrierten, eilte mit ungestümen Schritten in Josephes Zimmer (es hatte sich durch des Mädchens Anlage und das Verhältnis zu den Schwestern so gefügt, dass sie einen Raum allein bewohnte, während jene sich in eine grössere Kammer teilten), rief Therese, die alte Magd, befahl ihr, heisses Wasser zu bereiten, Universalmedizin in ihren Augen, zündete die Lampe an, liess die Vorhänge herab, öffnete das Bett, und als Ulrike und Josephe kamen, half sie der Tochter beim Entkleiden, indes Ulrike, die das Notwendige stets auf den ersten Blick erkannte, vor dem Ofen kniete und Feuer schürte.

      Sie war noch damit beschäftigt, als die Tür aufging und Esther und Aimée eintraten. Ängstlich wegen der Verspätung, aber zum Bersten voll von geheimer Freude am aufregenden Geschehen, waren sie, wie auch Lothar, eben nach Hause gekommen. Die Freude steigerte sich zwar, als sie die Erlebnisse der Mutter und Josephes erfuhren, doch zugleich rief es ihren Verdruss hervor, dass Josephe hatte ins Theater gehen dürfen, wobei die Tatsache, dass sie dem Tod um Haaresbreite nah gewesen, auch jetzt noch Anlass zur Besorgnis gab, keinen sonderlichen Eindruck auf sie zu machen schien.

      Lothar stand in der offenen Tür, ein verwundertes Lächeln in dem hübschen Knabengesicht. „Wie wars, Josephe?“ fragte er die mit geschlossenen Augen Liegende; „erzähl doch; es muss ja furchtbar interessant gewesen sein.“ Josephe antwortete nicht, Ulrike tat es an ihrer Stelle. „Machen Sie sich lieber nützlich, junger Mann,“ sagte sie kurz angebunden, aber nicht unfreundlich, indem sie sich von den Knien erhob und ihm den leeren Kohleneimer reichte; „gehen Sie in die Küche und füllen Sie mir den Eimer, wir müssen warm bekommen.“ Lothar schaute sie verdutzt an, schüttelte unmutig den Wald kastanienbrauner Locken, der sein Gesicht kokett umrahmte, nahm jedoch unter ihrem funkelnden Blick die Hände aus den Hosentaschen und gehorchte.

      Auch Esther und Aimée sahen verwundert diese Fremde an, die so unbefangen und nachdrücklich in Gegenwart der Mutter hantierte und dem Bruder Befehle erteilte. Christine klärte sie mit einigen hastigen Worten auf, die gedrängt von leidenschaftlicher Dankbarkeit waren. Die jungen Mädchen staunten noch mehr. Sie hatten sich beide in die Fensternische geschmiegt, Unzertrennliche aus Gewohnheit und dumpfer Seelenstimmung. Das blasse sommersprossige Gesicht mit den messinggelben Zöpfen der zweiundzwanzigjährigen Esther dicht an dem dunkleren, obwohl ziemlich blutlosen, mit dem geflochtenen, kupfrig schimmernden Kranz um die Stirn der neunzehnjährigen Aimée gab einen Zusammenklang, der Ulrikes Aufmerksamkeit nicht entging und sie neugierig machte. Das gedrückte Wesen, der furchtsame Blick, die frierende Haltung, das eigentümlich Horchende in den Mienen, das alles gab ihr zu denken und zwang ihren raschen Geist zu Kombinationen. Dass sie auf der richtigen Spur war, erwies sich ihr beim Eintritt des Vaters. Beider Gesicht bekam sofort etwas Starres und Untertäniges, das den Ausdruck puppenhaft machte; auch Lothar, der den gefüllten Eimer hereinschleppte und unter überflüssigem Lärm beim Ofen verstaute, zuckte zusammen, als er den Vater im Zimmer gewahrte, und sah auf einmal aus, als könne er nicht bis drei zählen. Gute Zucht jedenfalls, sagte Ulrike zu sich selbst.

      Mylius war eine Weile im Korridor auf und ab gegangen. Er wusste nicht recht, wie er sich benehmen sollte; ob das Befinden Josephes ihm erlaubte, wegen des noch immer nicht aufgetragenen Abendessens zu schmälen, oder ob es rätlicher war, sich zu gedulden, bis sich das fremde Fräulein verabschiedet haben würde. Besser dünkte es ihn zu schweigen und so zu tun, als habe er die Mahlzeit bereits hinter sich, da konnte sie keine Erwartung hegen, eingeladen zu werden. Nichts war ihm so verhasst wie Tischgäste. Er trat also ein, zeigte eine teilnehmende Miene, die seinem fahlen glattrasierten und auffallend kleinen Gesicht etwas Sauersüsses verlieh, verbeugte sich gegen Ulrike und reichte ihr mit unverständlichem Murmeln die Hand. Dann ging er zum Bett, blickte stirnrunzelnd auf Josephe nieder und sah fragend seine Frau an.

      Christine fand, der Andrang in der engen Kammer sei zu gross; sie trieb alle hinaus und bedeutete ihnen, sie sollten sich einstweilen zu Tisch setzen, sie käme mit Fräulein Woytich später. Mylius räusperte sich; das Gefürchtete war also nicht mehr abzuwenden. Esther und Aimée kannten den Ton und erschraken; sie bewunderten die Kühnheit der Mutter. Als es endlich still war, beugte sich Christine zu Josephe und fragte, ob sie allein sein wolle. Josephe bejahte es, indem sie die Hand der Mutter an die Lippen zog. Da gingen auch Ulrike und Christine hinaus.

      Ein Bild wollte nicht aus Josephes Sinnen weichen. Während sie im Wandelgang des Theaters gestanden und die erste Panik der aus dem Zuschauerraum Flüchtenden gegen sie angeprallt war, hatte sie etwas erlebt, das tieferen Eindruck auf sie gemacht hatte als die wüstesten Szenen nachher und ihre eigene Lebensgefahr dazu. Unter den Vordersten, die auf sie losstürmten, weil sie in der Nähe der Ausgangstüre war, befand sich ein Mann, der die Fäuste in die Luft gestreckt hielt, mit weitoffenem, doch nicht schreiendem Mund und vor Angst und Wut verglasten Augen nur danach trachtete, den andern zuvorzukommen; ein Mann mit weissem Bart und weissen Haaren, gut gekleidet, offenbar ein Angehöriger der oberen Stände. Er trug eine goldene Kette auf der schneeweissen Weste und eine Brillantnadel im Schlips. Man sah genau, dass das Gesicht sonst den Ausdruck der Ehrwürdigkeit hatte, dass die Augen gütig und wohlwollend zu blicken pflegten und dass ihm eine ruhige, imponierende Haltung eigen war. Davon war keine Spur mehr vorhanden. Statt dessen die raubtierartige Gier, allen zuvorzukommen, ein offener, verzerrter, von gelben Zahnstümpfen besetzter Mund, die aufgerissenen Augen eines Tollen, die gebogenen Entsetzensrunen auf der Stirn. Und diese Wut, diese unbegreifliche Wut, als hätte er die, die mit ihm im Laufe wetteiferten, mit den Fäusten niederschmettern mögen. Alles das vermochte Josephe noch mitzufühlen, bedauernd zwar und wie von einer Ferne; aber nun geschah es, dass er den Weg zur Treppe durch die sich stauenden Körper gänzlich verrammelt fand, dass er in seiner rasenden Angst die Brieftasche herausriss, einen Pack Geldnoten mit zitternden Fingern ergriff und im hochemporgereckten Arm nach allen Seiten hin mit schmeichelnden, winselnden Würgetönen anbot. Das war das Grässliche; Geld in diesem Augenblick! Es dünkte Josephe furchtbarer als alles andere, ein Äusserstes von Makel und Verworfenheit, neben dem die physische Not, die sie selbst bedrohte, kaum mehr in Betracht kam. Die siebzig Jahre, die der Greis vielleicht zählte, wurden zur Lüge in Josephes Augen; weisses Haar und die Würde, die es gab, Lüge; Freundlichkeit und Lächeln Lüge. Geld, wo eine Menschheit in Qual verging! Dass einer denken konnte, sich vom allgemeinen Jammer mit seinem Gelde loszukaufen! Es war die Hölle. Sie erinnerte sich, dass sie sich unter der Wucht dieses Bildes gegen den Gedanken an Rettung aufgelehnt und sich, mitten im Grauen kalt und schmerzlich besonnen, gesagt hatte: wozu soll mir noch das Leben dienen, wenn ein alter Mann im weissen Bart zum leibhaftigen Satan wird, nur um es zu behalten?

      Die Trauer darüber verging nicht. Ihr war, als habe sie zu tief in den Abgrund des Lebens geschaut und könne nun nicht mehr ganz froh werden. Ein Zug von Gestalten wandelte in der Luft und alle schleppten sich leidvoll mit schweren Packen Geldes; Fahnen hingen starr, die aus riesigen Geldscheinen bestanden; die Blätter an den Bäumen klapperten