Wichtig für die folgenden Überlegungen ist das Verhältnis, in dem die rationale Theologie zu den im eigentlichen Sinne religiösen Lehren steht, die nicht aus bloßer Vernunft gewonnen, sondern durch Offenbarungstexte göttlichen Ursprungs bekannt gemacht und beglaubigt worden sind. Die klassische, auch gegenwärtig zumeist als angemessen betrachtete Verhältnisbestimmung sieht die Aufgabe der rationalen Theologie darin, die Grundlagen der geoffenbarten Glaubenswahrheiten mit philosophischen Argumenten zu sichern und zu verteidigen. Der Glaube an eine göttliche Offenbarung setzt ja voraus, dass es Gott, ihren Urheber, gibt. Thomas von Aquin bezeichnet in diesem Sinne die Aussagen der rationalen Theologie (der theologia naturalis) als »praeambula fidei«, also als rational gesicherte Annahmen über Gott, die den Glaubenswahrheiten als deren Voraussetzungen ›vorausgehen‹.3 Dabei handelt es sich um Aussagen über die Existenz, Allmacht, Allgüte, Allwissenheit sowie die Schöpfertätigkeit und die Vorsehung Gottes. Über diese können wir Thomas und der Tradition zufolge, gestützt auf Beweise, Wissen erwerben.4 Manche Philosophen sagen es vorsichtiger: Wir können zeigen, dass sie wahrscheinlich oder rational zulässig sind. Nur dann kann ein rationaler Adressat der Offenbarung den eigentlichen Glaubensinhalten, von denen auch aus theologischer Sicht kein Wissen möglich ist (die Dreifaltigkeit, die zwei Naturen Christi, das Jüngste Gericht, die Verheißung ewigen Lebens), glaubende Zustimmung geben bzw. eine »vernünftige Hoffnung«5 auf sie richten. In diesem Sinne kann man von einer fundierenden Beziehung von rationaler Theologie und Offenbarungsreligion sprechen.
Ein Blick auf das Großprojekt Richard Swinburnes, eines der führenden Rationaltheologen der Gegenwart, macht die Plausibilität dieser Verhältnisbestimmung von rationaler Theologie und Offenbarung anschaulich. In einem ersten Schritt bemüht sich Swinburne darum, die Nichtwidersprüchlichkeit des standardtheistischen Gottesbegriffs aufzuzeigen (The Coherence of Theism; 1977). Erst dann entwickelt er Gottesbeweise (The Existence of God; 1979). Schließlich versucht Swinburne zu zeigen, dass göttliche Offenbarung möglich ist und ihren Lehren Glauben geschenkt werden kann (Revelation; 1991). Die rationale Theologie gelangt jedoch nicht mit eigenen Mitteln zu Aussagen über Gott, die über seine Existenz und seine basalen Eigenschaften wie Allgüte, Allwissenheit und Allmacht hinausgehen.
Mit dieser auch aus atheistischer Perspektive angemessenen Verhältnisbestimmung ist der rationalen Theologie eine klare Grenze gesetzt: Sie hat nicht die Mittel und ist aus theologischer Sicht auch nicht befugt, freihändig über Eigenschaften Gottes zu spekulieren, die jenseits der Fassungskraft der Vernunft liegen. Wie sollte sie auch dazu imstande sein, rational gerechtfertigte Aussagen über den trinitarischen Gott, die Bedingungen des Heils oder über Lohn und Strafe im Jenseits zu machen? Dennoch haben nicht wenige Philosophen versucht, diese Grenze in freier Spekulation zu überschreiten. Nicht alle haben wie Michael Theunissen (Philosophie der Religion oder religiöse Philosophie?) mit der gebotenen Klarheit festgehalten, dass eine solche »religiöse Philosophie« von rationaler Theologie und Religionsphilosophie strikt unterschieden ist.
Aus der Beschränktheit rationaler Theologie folgt ihre Ergänzungsbedürftigkeit. Denn wenn es gelingen sollte, die Existenz und die basalen Eigenschaften Gottes argumentativ zu sichern, wäre ein Theist damit noch nicht am Ziel angelangt. Es sind weitere Schritte zu tun, um das zu erreichen, worum es ihm letztlich zu tun ist: eine konkrete Orientierung für die Lebensführung und ein konkretes Heilsversprechen. Das kann die rationale Theologie mit ihren »kärglichen Präambula fidei« (Wagner: Religionsbriefe, 125), die lediglich Aussagen über einen allgütigen und allmächtigen Weltschöpfer beinhalten, keineswegs bieten. Aussagen über die Bedingungen der Erlösung oder über das Schicksal der Menschen nach dem Tode können allenfalls aus übernatürlicher Offenbarung bezogen werden. Die von ihren Vertretern eingestandene, ja betonte inhaltliche Beschränktheit der rationalen Theologie und ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch Offenbarung (vgl. Ricken: Glauben weil es vernünftig ist, 41 ff.) werden im Folgenden mehrmals wichtig werden.
3
In der Philosophie bezeichnet der Terminus ›Atheismus‹ seit der Antike6 die These, dass es keinen Gott bzw. keine Götter gibt. Üblicherweise spricht man von ›positivem Atheismus‹, wenn wir es mit der Behauptung der Nichtexistenz Gottes zu tun haben. Der Begriff des ›negativen Atheismus‹ bezeichnet demgegenüber das bloße Nichtvorhandensein der Meinung, dass es einen Gott gibt (dazu unten Kapitel 1.3). So verstanden, ist der Atheismus keine philosophische These. Aber genau das ist er zumeist in den heutigen philosophischen Debatten, und er war es in den historischen Kontroversen seit der Antike, in denen der Atheismusbegriff eine metaphysische Position bezeichnete, über deren Wahrheit gestritten werden kann. In diesem Sinne wurde der Satz »Es ist kein Gott« verstanden, den die Bibel (Psalmen 14 und 53) einem fiktiven ›Toren‹ (insipiens) in den Mund legt. Dieser ›Tor‹, der die Existenz Gottes bestreitet (dem also diese Überzeugung nicht bloß fehlt), war seit Anselm von Canterbury der Adressat der Gottesbeweise, die in der Geschichte der Philosophie entwickelt wurden (vgl. Bromand/Kreis: Gottesbeweise). Nicht anders wird auch heute die These, dass Gott kein Teil der Gesamtwirklichkeit ist, also der positive Atheismus, diskutiert. Was die heutige Debattenlage von den rationaltheologischen Kontroversen der Vergangenheit unterscheidet, ist, dass zusätzlich auch der negative Atheismus ein Thema ist. Im Folgenden wird deshalb auf beide Varianten des Atheismus einzugehen sein.
Eine weitere Besonderheit des Terminus ›Atheismus‹ ist noch eigens hervorzuheben. Normalerweise zeigt die Wortendung »-ismus« an, dass wir es – wie im Falle von ›Empirismus‹ oder ›Rationalismus‹ – mit einer Theorie zu tun haben. So ist ›Theismus‹ ein Sammelbegriff für verschiedene mehr oder weniger komplexe Theorien über Gott, seine Eigenschaften und sein Verhältnis zur Welt (Monotheismus, Polytheismus, Standardtheismus, dualistische Spielarten wie der Manichäismus usw.). ›Atheismus‹ dagegen steht für die These, dass Gott nicht existiert – und nicht für eine Theorie, die mehr beinhaltet als diese negative Existenzaussage. Allerdings begegnen wir der Negation der Existenz Gottes zumeist in Verbindung mit anderen (ontologischen, erkenntnistheoretischen oder moralphilosophischen) Annahmen; es ist dann häufig von einem ›naturalistischen‹, ›skeptischen‹ oder ›politischen Atheismus‹ die Rede. So hat es sich, obwohl dies streng genommen nicht korrekt ist, eingebürgert, ›Atheismus‹ als Sammelbegriff für verschiedene komplexe Theorien zu verwenden, in die die Negation der Existenz Gottes eingebettet ist.
4
Der Atheismus hat eine zwar nicht übermäßig lange, aber doch mehrere Jahrhunderte zurückreichende Geschichte. Das älteste Dokument, das wir kennen, ist ein anonymer, im Jahre 1659 verfasster Text – kein Pamphlet, sondern ein umfangreicher, sorgfältig argumentierender Traktat – mit dem Titel Theophrastus redivivus.7 Auskünfte über Atheisten der Antike, des Mittelalters und der Renaissance (Minois: Geschichte des Atheismus) halten einer Überprüfung an den Quellen nicht stand (vgl. Schröder: Ursprünge des Atheismus, 45 ff.). In den Texten, die seit dem Theophrastus redivivus entstanden (vgl. Mori: L’ateismo dei moderni), treffen wir eine bemerkenswerte Vielfalt von Begründungen des Atheismus und eine große Zahl von Verbindungen mit diversen ontologischen und erkenntnistheoretischen Annahmen an. Sie sind außerhalb von Expertenkreisen kaum und in der heute tonangebenden anglophonen Forschung durchweg nicht bekannt. Völlig unzureichend, auch was die Aufarbeitung der einschlägigen Quellen und der internationalen philosophiehistorischen Forschung angeht, sind die Companions und Handbooks von Martin (2006), Bullivant/Ruse (2013) und Oppy (2019). Das hat Folgen auch für ein nicht historisch, sondern systematisch ausgerichtetes Nachdenken über den Atheismus. Die einschlägigen Ansichten zeitgenössischer Philosophen, etwa Charles Taylors (A Secular Age), stützen sich auf ein jenseits von Kanal und Atlantik geradezu kanonisches Buch, Michael Buckleys At the Origins of Modern Atheism (1987; 22010). In völliger Unkenntnis der wichtigsten historischen Quellen sowie der nichtanglophonen Forschung meinte Buckley, der Atheismus sei ein Kind des 18. Jahrhunderts und erstmals in den Schriften des rabiat antiklerikalen Jean Meslier (s. u. S. 70) und der französischen Materialisten Holbach und Diderot entfaltet worden.8 Diese Behauptung hat zu