Frau, mit der er fast ein Vierteljahrhundert Seite an Seite gelebt hatte Tag und Nacht. Diese Frau war nur Mutter; und der Sohn, der gefallen war, war ihr einziger Sohn. In seine Erschütterung mischte sich Vorwurf: „Du hast doch noch einen Sohn!“
Sie schrie immer weiter: „Rudolf, Rudolf!“
„Versündige dich nicht.“ Sein schwankender Ton wurde fest, seine Hand lag schwer auf ihrer Schulter. Sie hatte aufspringen wollen, er drückte sie wieder nieder. „Da sind viele, die den Einzigen hingaben. Tausende. In deiner nächsten Nähe. Denk an die Krüger. Du hast doch noch Heinz, deinen Ältesten. Und Rudolfs Sohn, sein liebes Kind. Und —“ er wollte sagen: ‚und mich‘. Aber er sagte es nicht. Wenn sie es denn nicht fühlte!
Doch, als hätte er’s laut ausgesprochen, so sah sie ihn nun an. Jetzt sah sie ihn. Nicht mehr fern wie durch einen Nebel, nein, dicht vor sich, nahe bei sich; sah sein tiefbekümmertes gutes Gesicht. Mit einem schmerzvollen: „Vergib mir,“ griff sie nach seiner Hand.
Er umfasste sie, beugte sich nieder und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sie fühlte den Schlag seines Herzens. Immer wieder strich seine Hand zart und zärtlich über ihr verwirrtes Haar.
Ihr Weinen wurde leiser. Was er alles auf sie niederflüsterte, seinen Kopf auf den ihren geneigt, das hörte niemand.
Es war ein grosses Schweigen im Zimmer. Auch die Frau hörte nicht Worte; über des Mannes Lippen kam kein Laut, und doch hörte sie viel, viel. Ihr Herz, das das seine oftmals nicht vernommen hatte, das hörte jetzt. Und verstand.
III
Sie hatten Rudolf heimbekommen. Seine junge Frau ging nun in Schwarz; ihr Witwenschleier wehte lang, auf dem vollen Haar sass der Schnebbenhut mit dem weissen Vorstoss. Annemaries rundes Gesicht war schmaler geworden; erst hatte sie kaum essen mögen, überhaupt nichts sehen noch hören wollen. So jung noch und schon Witwe! Sie hatte ganz vergessen, was sie und Rudolf in ihrer ersten Verliebtheit sich anscheinend völlig klar gemacht hatten, was sie ihrer Mutter auf deren banges: ‚Wenn er nun fällt?‘ geantwortet hatte: „Wenn ich ihn nur habe, nur ein einziges Jahr!“ So schwer hatte sie sich das Witwesein doch nicht gedacht. Das Leben schien auf einmal aus.
Aber nun waren die ersten schwersten Wochen überstanden. Noch führte ihr täglicher Spaziergang zum Kirchhof. Es trieben schon vereinzelte gelbe Blätter über den Hügel, den man, bevor ein Grabstein gesetzt werden konnte, mit einem Kreuz aus Holz goziert, mit Tannenreisig gedeckt und mit immer neuen frischen Blumen umstellt hatte. Sie fand ein gewisses Genügen daran, da zu ordnen und zu schmücken. „Da liegt dein armer Papa,“ sagte sie zu dem kleinen Jungen, der sie nicht verstand und ungeduldig an ihrer Hand zappelte.
„Warst du auch so lange unglücklich?“ fragte Annemarie ihre Freundin Lili.
Lili errötete und dann erblasste sie. War sie wirklich lange unglücklich gewesen? Lange genug? Das quälte sie. Auf Stunden, in denen sie voll liebender Sehnsucht an Heinz dachte, in denen ihr Herz in einer seligen Glückshoffnung klopfte, folgten andere Stunden. War sie nicht auch selig gewesen an dem Tage, der sie mit jenem anderen — ihrem ersten Mann — vereinigte? Sie hatte geglaubt, ihn für immer zu lieben — und nun? Nein, Heinz sollte noch nicht fragen, er durfte noch nicht fragen! Noch nicht. Wenn er fragte, was sollte sie antworten? Es war etwas in ihr wie heisses Begehren und zugleich wie verzweifelte Abwehr. Noch immer war es zu früh, es durfte noch immer nicht sein.
Zur Beisetzung seines Bruders war Heinz Bertholdi gekommen, aber nur für den einen Tag. Es war fast so, als hätten sie sich nicht gesehen. Sie standen sich am Sarge gegenüber, tief erschüttert. Wäre es nicht Roheit gewesen, an eigenes Glück zu denken? Er blickte mit einem steinernen Gesicht vor sich hin, die Augen immer starr auf die Erde gerichtet, vor ihm schluchzte die junge Witwe am Arm des Schwiegervaters, auf seinen Arm stützte sich die arme Mutter. Lili hatte gar nicht gewagt, zu ihm hinzusehen, beharrlich blieben ihre Lider gesenkt. Nur als sie herantrat, um in die offene Gruft ihre drei Handvoll Erde zu streuen, noch immer mit gesenkten Lidern, fühlte sie es plötzlich: sie stand hinter ihm. Er wandte sich, trat zur Seite, liess sie heran. Und da sahen sie sich an. Rasch, wie verstohlen. In seinem Blick war bei allem Leid das Aufleuchten des Glücks, sie zu sehen, und eine innige Bitte. Er hatte sich dann über ihre Hand gebeugt, sie geküsst. Ob sie etwas gemurmelt hatte von Beileid, von innigstem Mitgefühl, das wusste sie nicht. Gesprochen hatte sie ihn nicht mehr; am Morgen war er gekommen, am Abend war er schon wieder fort. Sie war zurückgeblieben mit dem peinigenden Gefühl: was hast du versäumt! Und doch mit der Gewissheit: du konntest nicht anders.
Der Tod Rudolf Bertholdis hatte Lili tief erschüttert. Alles, was sie überwunden gewähnt, lebte wieder auf. Von dem kalten Entsetzen, das sie gelähmt, als die Trauerbotschaft eingetroffen, mitten im lustigen Spiel, blieb ihr ein Rest. Es kamen Stunden, die alle Gedanken an Glück wegfegten. Tot, tot — wer sagte ihr, dass nicht auch Heinz bald dem Bruder folgte? Jetzt war nicht die Zeit des Hoffens, jetzt war die Zeit des Entsagens. Aus seinem Grab am Monte Piano, in dem er ruhig geschlafen hatte, von Alpengrün bedeckt, stieg der tote Leutnant Rossi und suchte seine Witwe heim. Nachts trat er an ihr Bett, sprach Worte der Liebe und — Worte der Drohung. Sie warf sich rastlos hin und her, wand sich wie in körperlichen Qualen, und schlief sie endlich ein, träumte sie so lebhaft von ihm, dass sie, vom eigenen Schrei erschreckt, wieder erwachte. — —
Unten schalt Lilis Hauswirtin, die Witwe Krüger: was gab die Frau Leutnant da oben denn an? Die weckte ihr noch den Jungen auf.
Des kleinen Gustav Bett stand neben dem Bett der Grossmutter. Der tat es so gut, seinen Atemzügen lauschen zu können. Wie ruhig das Kind schlief! Sie selber schlief nur wenig. Es ging ihr wie unendlich vielen anderen. Ruhig schlafen? Wer konnte das jetzt?! Die, die einen draussen hatten, bangten um den, und den anderen war es auch bang genug.
Jetzt, in diesen grauen Wintertagen, auf toter, kalter Erde, schien die Welt ganz freudenarm, die Zeit trostlos. Sollte auch das Jahr 1918 herankommen und noch immer kein Friede sein? Es ballte sich heimlich manche Faust — ‚Herrlichen Zeiten führe ich euch entgegen‘ — ei, schöne, herrliche Zeiten! Den ganzen vergangenen Winter hatte man Kohlrüben fressen müssen, immer Kohlrüben; Kartoffeln gab’s nicht. Mittags Kohlrüben, abends Kohlrüben, morgens Kohlrüben wieder aufgewärmt; Kohlrübensuppe, Kohlrübengemüse, Kohlrübenmarmelade, Kohlrüben im Brot. Man wurde den Kohlrübengeschmack überhaupt nicht mehr los. Diesen Winter würde es Kartoffeln geben, dafür aber gar kein Gemüse. Der heisse Sommer hatte alles verbrannt. Keinen Kopf Kohl, kein Pfund Spinat, kein Bündchen Zwiebeln. Kartoffeln, nur Kartoffeln; ohne Fleisch und Fett würgen sie in der Kehle. Fett! Wer hatte wohl Fett gesehen?! So wenig Fett man selber am Leibe hatte, so wenig schien auch das Vieh zu haben. Das Viertelpfund Fleisch, das man pro Kopf zweimal die Woche bekam, war zäh wie Sohlenleder. Es gab nichts Fettes mehr auf der Welt. Ha, nur einmal wieder eine Schnitte Brot essen können mit Butter bestrichen oder mit Schmalz! Und womit sollte man kochen? Das Kleckschen Butter, das jeder auf seine Karte bekam, war so gut wie gar nichts, und das bisschen Margarine stank. Nach Fischtran, nach Petroleum, nach alten Knochen. — — —
„Geh man einholen,“ sagte Frau Müller, bei der die Dombrowskischen Kinder in Pflege waren, zu der kleinen Minna. „Ich kann heut nich selber gehn. Brot-, Fett-, Kartoffel- und da de Lebensmittelkarte. Auf die haste Heringe zu kriegen; wir sind unsre drei, also ein und einen halben. Pass auf, dass du de Karten nich verlierst. Verlierste se, kriegste Dresche. Un du weisst, denn haben wer bis nächste Woche kein Brot, keine Kartoffeln, jar nischt. Denn musste verhungern.“
Mit dem Gefühl ungeheurer Wichtigkeit verliess Minna die Stube. Sie wohnten zu ebener Erde hinten heraus, nun tänzelte sie über den Hof. Das war doch zu schön, dass sie einmal einholen durfte, und so alleine! Der Erich würde staunen, wenn er aus der Schule kam. Zierlich ihr kurzes Röckchen hinten noch kürzer raffend, wie sie’s bei den Damen gesehen hatte, trippelte sie über die Strasse.
Die Strasse war schmutzig, Herbstgüsse hatten den Boden erweicht. Sie wurde auch jetzt längst nicht mehr alle Tage gefegt; die Strassenreiniger waren im Krieg, nur die alten, durch ein langes Leben Ermüdeten und zu fördernder Arbeit nicht mehr Tauglichen, waren zurückgeblieben. Kot, Papier, Überreste, was lag, das lag. Durch die Regenlachen waren