Mutter nahm ihn still an der Hand, führte ihn an den Tisch und betete dort laut mit ihm.
Luzian lächelte vor sich hin, als der Knabe las: „Guter Christ, du wirst es ja nicht deinem Pfarrer oder Seelsorger zur Schuld rechnen, wenn Hagel oder Ungewitter Schaden anrichten. Wer kann dem heiligsten Willen des Allmächtigen widerstehen? Oder was für ein Priester hat eine grössere Macht als Gott selbst? 3
Natürlich: des Priesters Macht reicht hinab in die tiefste Hölle und hinauf in den höchsten Himmel, warum sollte er dem Wetter nicht Einhalt thun können?
Rührend klang dann das alte Lied, in dem es heisst:
„Das Wildfeu’r fern hin von uns jag’,
In wild’s Geröhr und Hage,
Darin es Niemand schaden mag
Bei’r Nacht und auch bei’m Tage.
O reicher Gott! lass mildiglich
All’ Frucht kecklich entspriessen,
Dass Arm’, Elende hie redlich
Durch Gab’ sein Wohl geniessen.
Den armen Seelen in Fegfeur’s Pein
Thu’ bitters Leiden schmälen,
Und sie durch das Almosen, rein
Den Seligen zuzählen.“
Wie mit scharfen Schroten schlug es nun gegen die Fenster, eine Scheibe sprang und aus der Ferne hörte man andere klirren, Fensterladen abknacken und Klageschreie verhallen.
„Das gibt ein grässliches. Unglück, ein grässliches Unglück!“ jammerte Luzian und rang die Hände vor sich hin.
Victor hatte schon lange neben ausgeschielt, jetzt sprang er auf und holte eine durch die geöffnete Scheibe eingedrungene Schlosse; sie war fast so gross wie ein Taubenei.
„O wie schön!“ rief Victor, und Alles antwortete wie aus Einem Munde: „Dass Gott erbarm!“
Immer dichter und dichter kam der Hagelschlag.
„Haufengenug, ist nimmer nöthig, es ist schon Alles hin,“ sagte Luzian, nach Aussen winkend, trauervoll in Ton und Miene.
Luzian und Paule schlossen schnell die Fensterladen, um die Scheiben zu wahren; Licht wurde angezündet.
„Jetzt sind wir in der Arche Noah, und du Aehni bist der Noah, wenn unser Haus fortschwimmt,“ plauderte Victor.
„Still!“ gebot Luzian mit scharfem Tone, dann setzte er flüsternd hinzu: „Es ist mir nur lieb, dass die Ahne (Grossmutter) in der Kammer das Wetter verschlaft; so alte Leut’ sind Doch wie die kleinen Kinder, die spüren die schwere Luft und sinken um. Sie ist heut’ auch ein bisle zu weit mit dem Bittgang ins Feld.“
Keines redete mehr ein Wort, selbst Victor ging auf den Zehen und betrachtete das Zerfliessen der Schlosse auf seiner warmen Hand; nur manchmal hob er sie auf und versuchte beim Lichte durchzuschauen; Tropfen fielen auf das Gesangbuch und vermischten sich dort mit den Thränen, welche die Frau geweint hatte.
Man horchte still hinaus ob das Wetter noch nicht nachlasse, das wüthete aber immer toller; wie aus riesigen Wurfeln schüttete es immer wieder und jeder letzte „Schütter“ schien der gewaltigste.
„Das kann bei uns daheim auch sein,“ sagte Paule. Niemand antwortete.
Endlich fielen nur noch einsame Tropfen an die Fensterladen. Menschenstimmen wurden auf der Strasse hörbar. Man öffnete und schaute wirklich wie aus der Arche Noah hinaus. Welch ein Fluthen und Wogen überall! Das gurgelte und murmelte lustig, aber die Menschen waren nicht von der Erde verschwunden, sie waren geblieben zu Jammer und Noth.
Alles rannte durcheinander hin und her und hinaus auf’s Feld, Jedes wollte seine zerschlagene Hoffnung sehen; Einige kehrten schon heim und brachten eine Handvoll ausgeraufter Aehren mit, sie zeigten sie mit thränenschweren Blicken. Heulen und Wehklagen der Frauen erfüllte die Strassen und die Häuser; stumm, gesenkter Hauptes wandelten die Männer dahin’, innerlich fröstelnd ballten sie die Fäuste, sie hatten so wacker gearbeitet und die Arbeit war hin und die Hoffnung.
In allen Gärten waren die Stützen der Bäume zu Boden gestreckt und neben ihnen lag das unreife Obst, fast kein Baum, dem nicht ein Ast abgeknackt war, viele waren ganz niedergeworfen.
An diesem Abende reichten die Eltern kummervoll den Kindern ihr Essen, sie selber aber hungerten und schwere Sorge nagte an ihren Herzen die bange schlaflose Nacht.
Heute hielt sich von selbst das strenge ,pfarramtliche“ Gebot, dass nicht mehr auf den Strassen gesungen werden durfte.
Draussen ist’s so würzig, wie eine balsamische Glätte zieht es durch die Luft; in den Häusern und in den Herzen aber ist es trüb und dumpf.
Ein Blick ins Haus und in die Rathsstube.
Das war ein traurig Ermachen am Montag. Die Sensen und Sicheln waren gedengelt, die Menschen fühlten ihre Sehnen gespannt und straff zu frischer Arbeit, jetzt liessen sie die Hände sinken und schauten still drein. Dennoch ruhte auf manchem Auge, das sich ausgeweint hatte, auf manchem Antlitze ein Abglanz stiller Verklärung, man möchte sagen wie auf der Natur rings umher, die sich auch ausgeweint zu haben schien.
Ein Ungemach, das hereingebrochen, sieht sich am andern Morgen ganz anders an; am Tage seiner Entstehung willst du es nicht dulden, kannst du es nicht fassen, es soll sich nicht einnisten in deiner Seele als Wahrheit; wie wäre es möglich? Du selbst lebst und deine Gedanken sind wach. Wie kann dir etwas entrissen werden, das dir angehört, das du mit deinen Gedanken festhältst? Sinkt die Nacht, versenkt dich in Schlummer und macht dich dein selbst vergessen, so fasst dich am Morgen das, was dich gestern betroffen, noch immer mit staunendem Schmerze, aber schon ist es zur Vergangenheit geworden, die mit unwandelbarer Gewissheit feststeht, du kannst nicht mehr daran rütteln und musst dich darein ergeben, mit stillem Schmerz dein zerstücktes oder überbürdetes Leben der heilenden Zukunft entgegenführen.
Auf Feld und Flur funkelte und flimmerte der Morgenthau, der trieft hernieder, ob die Halme sich auf ihren Stengeln neigen oder geknickt zur Erde geworfen sind. Die Sonne stand am Himmel in voller Pracht, sie bleibt nicht aus am Himmelsbogen, nur manchmal lagern sich Wolken, Wetter und Nebel zwischen sie und die Erde und das Erdenkind vermag nicht durchzuschauen, das Licht genügt ihm nicht, es will seinen Urquell erfassen. Das Licht aber haftet im Auge wie in der weiten Welt draussen, und das Auge vermag es nur zu schauen, weil das Licht in ihm ist. Du suchst den Urquell und er ist in dir wie in der Welt.
Das Korn am Halme, das zur Erde niedergeworfen ist, geht in Verwesung über und setzt nur zu seinem eigenen fruchtlosen Untergange neue Keime an. Der Mensch aber gleicht nicht dem Halme, er kann sich aufrichten durch die Kraft seines Willens.
Frisch auf! du musst dich durch die Welt schlagen, ja hindurchschlagen, das ist’s. Der Tag ist verloren, ausgebrochen aus der Kette deines Lebens, den du in Trübsinn und thatenloser Verzweiflung hinstarrtest.
Aus solcherlei Gedanken heraus, die er nach seiner Art hundertfältig herüber und hinüber und auf die besonderen Verhältnisse der Einzelnen anwendete, ging Luzian am andern Morgen von Haus zu Haus. Er nöthigte auf manches kummerstarre Antlitz das Zucken eines Lächelns durch seinen Haupttext: „Dem Weibervolk ist’s nicht zu verdenken, das muss klagen und jammern wenn ein Hafen (Topf) in Scherben zerbricht; das ist ja grad das brävst Häfele gewesen, nein, so wird keins mehr gemacht; der Mann aber sagt: hin ist hin und jetzt wirthschaften wir mit dem, was noch blieben ist. O! die leichtsinnigen Männer, denen ist an Allem nichts gelegen, klagen dann noch die Weiber, und am Ende müssen sie uns doch Recht geben.“ Luzian brachte es zu Wege, dass mancher Mann, der Alles stehen und liegen und in sich verfaulen lassen wollte, sich nun doch aufmachte, um wenigstens das Obst zur Schweinemastung einzuheimsen.
Es war schon viel gewonnen, dass man sich wieder zur Thätigkeit aufraffte. Freilich fing man zuerst mit dem Kleinsten an, aber das trifft sich meist, dass man nach erlittenen Ungemache zuvörderst das Nebensächliche, oft Unbedeutendste in Angriff