Großer Gott, denkt der alte Bill; mein lieber Mann, drei Tage hast du gewartet und schon gedacht…
Der Mann drüben lenkt sein Pferd am Mietstall herum. Er macht es unter den beiden Laternen über dem Tor zum Mietstallhof und dem Vorbau des angrenzenden Saloons.
Drinnen klirren Gläser. Jemand singt irgendeine spanische Melodie.
Mein lieber Mann, denkt der Alte, da – da –
Er stolpert los, klettert die Leiter hinunter, ist schon im Hof. Als er auf die Straße kommt, steht nur noch das Pferd am Balken vor dem Saloon. Die Schwingtür pendelt gerade aus. Bill Cooley wird ganz weich in den Knien.
Der Junge, denkt er, jetzt ist der Junge da. Hol’s der Teufel, mir wackeln ordentlich die Knie. Man wird alt, was? Verrücktes Gefühl nach so vielen Jahren.
Innen sagt jemand, und Bill glaubt Old Nat mit seiner tiefen, harten Stimme reden zu hören: »Komm schon, ich hab’s eilig, Mister! Das beste Pferd aus deinem Stall, aber schnell!«
»Si, Señor, sofort. Warum so eilig, warum nicht ein Glas trinken?«
»Ja, schieb eins her.«
Aha, denkt Old Bill, wie Nat redet er. Macht nie viele Worte.
Er ist an der Tür, drückt sie langsam auf. Jetzt sieht er ihn, den riesenhaften Mann, der den Hut nach hinten geschoben hat und mit den Handknöcheln auf dem Tresen irgendeinen Takt trommelt. Der Mann am Tresen trägt ein dunkelrotes Hemd, eine schwarze Weste und schwarze staubige Hosen.
Als der Alte den ersten, schlurfenden und zögernden Schritt in den Saloon macht, wendet der Mann am Tisch langsam den Kopf. Er ist glattrasiert. Und seine hellen, unter starken Brauen liegenden Augen funkeln wie Feuer.
In der Tür steht einer – klein, krummbeinig, ein wenig schief und kümmerlich. Sein Bart ist zerzaust, und den Hut hält er in der Hand.
Hier bleibt er stehen, der kleine Bill Cooley. Die alten Knie schlottern ihm. Da habe ich nun beinahe sechs Jahre lang jeden Tag an diesen Jungen gedacht und mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn ich ihn wiedersehe. Dies ist nun das Wiedersehen. Und es kostet den alten Mann an der Tür eine ganze Menge Kraft, nicht loszubrüllen. Was sind das auch für Nachrichten, die er für den Jungen hat? Der Vater erschossen von Viehdieben. Der kleine Bruder halbtot bei den Dawes.
Bill, denkt Ray Thayer, aber hier? Mein Gott, ist er alt geworden, alt und… Warum steht er schief, warum ist die rechte Schulter dicker?
Ray denkt nicht mehr an das Glas, auch nicht mehr an sein frisches Pferd. Er geht los. Obwohl er ein Riese ist, geht er so leicht wie eine Katze, federt in den Knien durch.
»Bill!« stößt er freudig hervor. »Bill, Alter… Oh, verdammt!«
Das ist alles – nach sechs Jahren.
Bill nickt nur still vor sich hin, hat ein wenig Wasser in den Augen. Und das große, verdammte Schlucken im Hals. Die Hand Rays legt sich auf seine Schulter. Der Druck ist nicht zu hart, aber fest.
Eine halbe Minute stehen sie still und sehen sich nur an. Dann fragt Ray: »Was hast du da?«
»Ein Loch, Junge.«
»So, nun ja. Wo ist der Kleine?«
Der Kleine, er wird ihn wohl immer den »Kleinen« nennen, denkt der alte Bill. Für ihn ist Cliff nie etwas anderes.
»Bei den Dawes. Er ist ziemlich fertig, Junge.«
Der »Junge«, dieser Riesenbursche, ist längst ein richtiger Mann. Aber für Old Bill wird er eben auch nur »der Junge« bleiben.
Der Saloonkeeper, ein gebürtiger Greaser, tritt neugierig näher. »Der Brandy, Mister… eh, der Brandy!«
»Noch einen!« sagt Ray über die Schulter. Seine Augen strahlen Ruhe aus. Und doch ist der alte Bill überzeugt, daß jetzt tausend Gedanken durch Rays Kopf jagen. »Einen für Bill. Du trinkst doch einen mit?«
»Ja, Junge.«
Ray sieht sich nach dem Keeper um, zieht Bill mit an den Tresen.
»Mister, sieh dir meinen Gaul an. Das beste Pferd, das im Mietstall von Sanderson zu finden war. Ich will eins, das genausogut ist. Verstanden?«
»Si, Señor, ich sehe zu.«
»Taugt der Gaul nichts, bin ich in zehn Minuten wieder hier und werfe dich vor dessen Hufe. Begriffen? Versuche nicht, mir einen lahmen Gaul anzudrehen, Mister.«
Das klingt ganz ruhig, aber der Greaser erkennt, daß Ray genau das meint, was er sagt. Man gibt durchreitenden Burschen, die ihre Pferde in einem Mietstall wechseln, oft die schlechtesten Gäule.
Der Keeper schenkt ein, stellt die Flasche vor den beiden Männern hin. Dann geht er hinaus und pfeift durch die Zähne. Das Pferd am Balken ist wirklich gut. Gibt er dem riesengroßen Burschen im Saloon nicht ein gleichwertiges, könnte es mächtigen Ärger für ihn geben.
»Kannst du reiten, Bill?« fragt Ray am Tresen. »Weit genug?«
»Bin ja nicht zu Fuß hergekommen, oder? Da ging es mir noch schlechter, Junge. Sicher schaffe ich es. Ist nur ein kleines Loch, nicht der Rede wert.«
»Dann erzählst du unterwegs, wie?«
»Ja, Junge. Worauf trinken wir?«
»Darauf, daß ich bleibe.«
»Gehst nicht mehr weg?«
»Nein, ich bleibe.«
Der Alte nickt. Nun weiß er Bescheid.
In Uvalde sollte jemand seinen Gaul satteln und ihm Flügel anleimen. Vielleicht fliegt das Pferd dann wirklich mit Howard Vance weg. Er wird schon fliegen können müssen, denn sonst packt ihn bald jemand am Kragen.
*
Ein Bündel mehr auf Ray Thayers Pferd. Der Alte neben ihm stellt keine Fragen. Er hat Ray in Bracketville in den General Store gehen sehen. Dann kam Ray heraus und packte schweigend das Bündel auf. In Bracketville war es noch nicht Mittag.
Jetzt kommt die Abenddämmerung schon, die Nacht meldet sich an. Sie reiten immer noch, und sie reiten nicht schnell.
Er läßt sich Zeit, denkt der Alte, weil ich bei ihm bin. Warum hat er sich in Cline ein zweites Pferd geholt und nur gesagt, er brauche es noch? Er redet nicht viel. Genauso war es damals mit Nat, als er auf Jim Vance losging, da hielt Nat auch den Mund. Jetzt fehlt nur noch, daß der Junge dasselbe sagt wie damals Nat.
Drei Meilen noch bis Uvalde, und es ist Nacht. Klarer Himmel mit Milliarden Sternen über Südtexas. Irgendwo in der Nacht das klagende Heulen eines Kojoten.
Ray Thayer hat nur ein paar Fragen gestellt, als Bill ihm die ganze Geschichte erzählt.
Seit zwei Stunden sagt er nichts, er mustert nur ab und zu den alten Bill. Und er liest Sorge in Rays Augen, sagt jedesmal: »Ich kann noch, Junge, ich halte es aus.«
Ray hält jetzt an, die erkaltete Zigarre im Mundwinkel.
»Sagtest du, dieser Cole Lane hielte sich meist in der Stadt auf, um dort zu spielen?«
»Ja«, antwortet der Alte. »Er spielt fast jeden Abend in Mabel O’Henrys Saloon. Da gibt es eine ganze Clique, ein paar Burschen, Mexikaner von drüben, die jeden Abend die Karten austeilen. Junge, als ich wegritt, hatten sie schon die Weide besetzt, Kilburn, Tyler und Dexter Lane. Die anderen sind auf der Ranch, denke ich. Old Jim Vance läßt sie nicht von Howards Seite.«
»Bist du sicher?«
»Kann sein, daß es sich geändert hat, aber eins schaffen sie nie: Cole Lane aus einem Saloon und vom Spieltisch wegzubekommen.«
»Trägt er immer graue Anzüge?«
»Ja, habe ihn nie anders gesehen. Der Kerl hat schwarzes öliges Haar, er fällt gleich auf.«
»Gut, gut, Bill. Hier biegt der Weg zu den Nunns ab,