er zum zweiten Mal einen Auftritt der Berma erlebt, wird Marcel alle Fehler wiedergutmachen: Da er nichts Besonderes erwartet, seinen Eindruck nicht an »einer vorgefassten, abstrakten und falschen Idee« misst, entzückt ihn diesmal das Spiel. Im Nachhinein wird ihm bewusst, dass die Monotonie, der »gleichförmige Singsang« ihrer Diktion gerade das Neue war und ihn wie alles Neue, das wir nicht auf Anhieb verstehen, befremden musste – erst beim zweiten Mal, beim Wiedererkennen kann es Genuss bereiten. Und schließlich erkennt er, dass er ihr Spiel auch deshalb zunächst nicht erfassen konnte, weil er sich nicht auf die Oberfläche, auf die Erscheinung der Berma selbst konzentrierte und stattdessen versuchte, zur Bedeutung des gesprochenen Textes vorzudringen. Beim zweiten Mal, als er den Auftritt der Berma als »Klangkunstwerk« genießt, zeigt er ihm ähnlich wie die Werke ►Elstirs, dass nicht der Gegenstand – zum Beispiel der Text Racines – das Entscheidende in der Kunst ist, sondern die Darstellungsweise, die unverwechselbare Färbung, die der Künstler dem Dargestellten durch seine subjektive Perspektive verleiht: »Ich begriff jetzt, dass das Werk des Autors für die Tragödin lediglich in sich fast belangloses Material für die Schöpfung ihres eigenen interpretativen Meisterwerks ist, so wie der große Maler, den ich in Balbec kennengelernt hatte, Elstir, das Motiv für zwei gleichwertige Bilder in einem gesichtslosen Schulgebäude beziehungsweise in einer Kathedrale gefunden hatte, die allein schon ein Meisterwerk ist.« So groß die Enttäuschung beim ersten Mal war, so perfekt illustriert die Kunst der Berma jetzt die anhand des Impressionismus neugewonnenen ästhetischen Erkenntnisse Marcels. Proust wird später den Gedanken einer »impressionistischen« Textinterpretation, wie sie die Berma vollzieht, bei seinen Überlegungen zur ►Lektüre wiederaufnehmen: Wie die Berma transformiert auch jede Lektüre den Ursprungstext und macht ihn zu einem subjektiven »veränderlichen Meisterwerk«. Der Schriftsteller wird damit zum ›Rohstoffproduzenten‹, eine Rolle, mit der sich Proust nach einigem Zögern und einigen Zuckungen seiner Autoreneitelkeit abzufinden scheint.
Angesichts dieser höchst komplizierten, aber auch genussvollen kunsttheoretischen Überlegungen, die sich in der ersten Hälfte des Romans an die Figur der Berma knüpfen, sind ihre Auftritte im zweiten Teil geradezu entweihend und stehen ganz im Zeichen der Welt von Sodom und Gomorrha. Die Berma wird eine jener »entweihten Mütter« und Väter, zu denen Vinteuil und Swann gehören, aber auch die Mutter des Erzählers, und denen Proust ursprünglich ein ganzes (nie geschriebenes) Kapitel widmen wollte (»les mères profanées«). Alt und gebrechlich fängt sie wieder an zu spielen, um ihrer Tochter Geld zu verschaffen, während diese bei der gehässigsten Konkurrentin der Berma, bei Rahel, antichambriert, die inzwischen zum neuen Theaterstar aufgestiegen ist. Die ehemalige Prostituierte Rahel versetzt der ehemaligen Künstlerin Berma schließlich den Todesstoß, als sie ihr verrät, dass Tochter und Schwiegersohn der Berma ein mondänes Fest, bei dem Rahel rezitiert, einem Abend mit der eigenen Mutter vorgezogen haben. So bleibt zum Ende des Romans auch diese leuchtende Vertreterin der Kunst nicht von einer Entwürdigung durch sexuelle und mondäne Interessen verschont, und selbst Marcel trauert weniger um sie, als in ihrem Tod eine Parallele zur Flucht Albertines zu sehen. Auch die Berma entgeht nicht dem Grundgesetz der Vergänglichkeit von Liebe und Kunst – auf beiden Gebieten werden Söhne und Töchter stets zu den Mördern ihrer Eltern.
Birne
Louis-Philippe, Karikatur von Honoré Daumier (1831) (metmuseum.org / CC0 1.0 Universal)
Frucht absolutistischer Herrschaft mit Neigung zum Sadismus. Die Beziehung mit dem Violinisten Morel ist für Charlus zunächst von Macht- und Besitzgelüsten geprägt, später von Unterwerfung und Selbstaufgabe. Morel bedient die sadistischen Gelüste des Barons, die auch seinen eigenen Neigungen entsprechen, um von dessen gesellschaftlichen Kontakten zur Aristokratie zu profitieren. Bei einem gemeinsamen Abendessen in einem feinen Restaurant kommt es zu einer dieser »Art schwarzer Messen, bei denen er sich darin gefiel, noch die heiligsten Dinge zu besudeln«: Morel entwirft den Plan, ein hübsches Mädchen zu deflorieren und noch am gleichen Abend sitzenzulassen; der Baron empfindet bei dieser Vorstellung höchste Lust, steigt aber aus der sadistischen Phantasie aus, als Morel die Tochter Jupiens als Opfer vorschlägt: »Danach waren seine Sinne für einige Zeit entspannt, und der Sadist (und dieser war wirklich ein Medium), der sich für einige Augenblicke an die Stelle von Monsieur de Charlus gesetzt hatte, war geflohen und hatte das Wort an den wahren Monsieur de Charlus zurückgegeben, den voller künstlerischer Verfeinerung, Sensibilität und Güte.«
Man darf den versöhnlichen Worten des Erzählers hier nicht uneingeschränkt glauben, denn die folgenden kunst- und kultursinnigen Ausführungen des Barons setzen das sadistische Spiel lediglich unter dem Deckmantel der »Verfeinerung« fort. Mit Belehrungen zu Rosensorten und Kritik an Morels musikalischen Auftritten demütigt der künstlerische Dilettant Charlus den im aristokratischen Milieu unsicheren Morel durch die fortwährende Zurschaustellung höfischer Kultur; die Szene gipfelt in einem bizarren Birnendialog zwischen Charlus, Morel und dem Kellner: »[…] denn Monsieur de Charlus sagte gebieterisch zu ihm: ›Fragen Sie den Oberkellner, ob er Gute Christen dahat.‹ – ›Gute Christen? Ich verstehe nicht recht.‹ – ›Sie sehen doch wohl, dass wir beim Obst angekommen sind. Es ist eine Birne. Seien Sie versichert, dass Madame de Cambremer welche hat, denn die Gräfin von Escarbagnas, und eine solche ist sie nun einmal, hatte welche. Monsieur Thibaudier schickt sie ihr, und sie sagt: ‚Hier haben wir einen Guten Christen, der obendrein sehr schön ist.‘‹ – ›Nein, das wusste ich nicht.‹ – ›Ich stelle darüber hinaus fest, dass Sie gar nichts wissen. Wenn Sie nicht einmal Molière gelesen haben … Nun gut, da Sie vom Bestellen kaum mehr verstehen dürften als von allem anderen, verlangen Sie ganz einfach eine Birne, die gerade hier in der Gegend geerntet wird, die Gute Luise von Avranches.‹ – ›Die …?‹ – ›Warten Sie, da Sie so ungeschickt sind, werde ich selbst nach anderen fragen, die ich lieber mag: Oberkellner, haben Sie die Doyenné des Comices? Charlie, Sie sollten die hinreißende Passage lesen, die die Herzogin Émilie de Clermont-Tonnerre über diese Birne geschrieben hat.‹ – ›Nein, mein Herr, die haben wir nicht.‹ – ›Haben Sie die Triomphe de Jodoigne?‹ – ›Nein, mein Herr.‹ – ›Oder Virginie-Dallet? Passe-Colmar? Nein? Na gut, da Sie nichts haben, gehen wir eben. Die Herzogin von Angoulême ist noch nicht reif; also los, Charlie, wir gehen.‹«
Die Aufzählung historischer Birnensorten entspringt nicht nur der Wortgewalt und Sprachlust des Barons – er stellt in dieser Szene sein ganzes aristokratisches Erbe aus, die edlen ►Namen der Birnen ersetzen ihm die Aufzählung von Adelsgeschlechtern, deren ►Genealogien ihm ebenso vertraut sind wie die natürlichen Reifezeiten der Früchte. Zusätzlich leitet er dieses Wissen her aus seiner intimen Kenntnis klassisch höfischer Literatur – mit seinem Zitat einer Birnenszene bei Molière schüchtert er Morel und den Kellner weiter ein, bevor er nach vollem Auskosten seiner sozialen wie kulturellen Überlegenheit den Abgang befiehlt. Prousts eigene, unverkennbar lustvolle Inszenierung dämpft allerdings den Triumph des Barons. Scheinen dessen Auftritte häufig dem klassischen Theater entlehnt – erinnern zum Beispiel seine rasenden Wutanfälle an Szenen vernichtender Leidenschaft aus Racines Phädra –, so gestaltet Proust den Birnenauftritt des Barons wie eine Szene aus einer Komödie Molières: Im hemmungslosen Ausleben seines aristokratischen Dünkels, in seiner Selbstberauschung an der Pracht adeliger Namen wird Charlus zu einer so tyrannischen wie komischen, seiner Adelsobsession und seinem Kulturfetischismus blind verfallenen Figur, die sich in ihrer verbalen Entgleisung vor einem ›vernünftigen‹ Publikum (Morel, der Kellner, der Leser) selbst bloßstellt. Der triumphale Abtritt von der Bühne bereitet insofern schon die Verstoßung des lächerlichen Charakters (dem dennoch die Sympathie des Erzählers gehört) im letzten Akt des Romans vor.
Nicht nur die Anspielung auf Molière setzt die Szene in einen absolutistischen Rahmen: Die erstgenannte »Gute Christen« (»Bon Chrétien«) war die Lieblingsbirne von Louis XIV, der sie in Versailles anbauen ließ; der »Bürgerkönig« Louis-Philippe wurde später von Honoré Daumier als Birne karikiert – zu Prousts Zeiten war »poire« als Bezeichnung für einen einfältigen Menschen gebräuchlich. In der Geschlechtersymbolik assoziiert die sich nach oben verjüngende Birne einen effeminierten, kraftlosen Körper, der in umso schärferem