Michael Ermann

Träume und Träumen


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Gebiss tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. – Der Mund geht dann auch gut auf, und ich finde rechts einen großen Fleck, und anderwärts sehe ich an merkwürdigen, krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weißgraue Schorfe. – Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt … Dr. M. sieht aber ganz anders aus als sonst: er ist sehr bleich, hinkt, ist am Bart kinnlos… Mein Freund O t t o steht jetzt auch neben ihr, und Freund L e o p o l d perkutiert sie über dem Leibchen und sagt: Sie hat eine Dämpfung links unten, weist auch auf eine infiltrierte Hautpartie an der linken Schulter hin (was ich trotz des Kleides wie er spüre)… M. sagt: Kein Zweifel, es ist eine Infektion, aber es macht nichts; es wird noch Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden… Wir wissen auch unmittelbar, woher die Infektion rührt. Freund O t t o hat ihr unlängst, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben mit einem Propylpräparat, Propylen … Propionsäure … Trimethylamin (dessen Formel ich fettgedruckt vor mir sehe) … Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig … Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein.13

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      Abb. 3: Schloss Bellevue am Kahlenberg bei Wien. Hier träumte Freud in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1895 den »Traum von Irmas Injektion«, den »Initialtraum« der Psychoanalyse (© Österreichische Nationalbibliothek).

      Aus meiner Sicht erzählt dieser Traum vor allem von den Hoffnungen und Ängsten des Träumers bei seiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse, die er selbst entwickelte.

      So auch im Irma-Traum. Er zeigt Freud in der Situation des Goetheschen Zauberlehrlings, der von den Kräften bedroht wird, die er herbeigerufen hat. Diese Auffassung beruht auf der Analyse und den Assoziationen, die Freud selbst in seiner Traumdeutung mitgeteilt hat, und auf meinen eigenen Ideen.

      Assoziationen und Kommentare

      Es beginnt mit einer großen Halle und vielen Gästen. Das ist ein würdiger Auftakt der neu entstandenen Psychoanalyse, die hier – mit dem Erscheinen der Traumdeutung – ihren großen öffentlichen Auftritt hat und dazu einen festlichen, aber auch repräsentativen Rahmen wählt. Eine »junge Wissenschaft«, wie es damals oft hieß, und ihr Schöpfer auf dem Weg zu Anerkennung, Erfolg und Ruhm!

      Dann aber tritt Irma auf, eine Patientin von Freud, die wegen Schmerzen in seine Behandlung gekommen und deren Behandlung kurz vor diesem Traum ausgesetzt worden war. Sie war die erste Patientin, mit der er von Anfang an konsequent seine neue Technik der freien Assoziation betrieben hatte, der er also vorgegeben hatte, alles unzensiert auszusprechen, was ihr in den Sinn kam.

      Aber die Behandlung hatte nicht das erhoffte Ergebnis: Am Abend vor dem Traum war Irmas Hausarzt, der gleichzeitig der Kinderarzt von Freuds Kindern war, zu ihm ins Haus gekommen und hatte berichtet, dass er Irma wieder gesehen hätte und dass sie noch immer – wenngleich weniger als früher – unter Schmerzen litte. Zeigen sich hier nicht schon die Zweifel an der Wirksamkeit der neuen Methode? Fürchtet Freud sich nicht davor, der Begrenztheit gelassen ins Antlitz zu schauen? Und macht er Irma deshalb – gleichsam vorauseilend – Vorwürfe?

      Oder fürchtet er womöglich ganz andere Schmerzen, die er im Traum in Irmas vieldeutige Anspielung fasst: »Wenn du wüsstest …« Das klingt nach seelischem Schmerz, vielleicht nach dem Schmerz einer Übertragungsliebe, die den ganzen Menschen – »Hals, Magen und Leib« – ergreift und mit der Freud sich zu dieser Zeit auseinanderzusetzen beginnt und in der er womöglich das eigentlich Skandalöse seiner neuen Methode ahnt.

      Im Traum ist Freud erschrocken. Rasch äußern sich Zweifel an seiner Methode und was sie anrichtet: »Sie sieht bleich und gedunsen aus.« Aber zugleich ist da noch ein anderer Gedanke, der ihn erschrecken lässt: Dass er eine »organische Affektation« übersehen haben könnte. In diesem Zweifel steckt seine Auseinandersetzung mit der damals etablierten Medizin, die an eine organische Verursachung von Neurosen glaubte. Man hielt damals chronisch-degenerative Veränderungen der Nerven für ihre Ursache – daher auch der Name. Freud grenzt sich mit seinem psychodynamischen Ansatz von dieser Auffassung ab, aber nicht ohne Selbstzweifel. Wird er sich gegen die Übermacht der etablierten somatischen Medizin behaupten können oder wird er kläglich scheitern?

      Wenn er sie dann zum Fenster nimmt, ihr in den Hals schaut und sie dabei etwas »Sträuben« zeigt, liegt darin wiederum eine Anspielung auf das Verführerische, das für beide in der analytischen Begegnung zum Tragen kommt. Das künstliche Gebiss wirkt da vielleicht ernüchternd, andererseits weist es aber auch auf die Gefährlichkeit des Blickes in den gezähnten Schlund hin – ein Motiv, das später in der Psychoanalyse als »Vagina dentata« (gezähnte Scheide) immer wieder auftaucht und zur Metapher von Kastrationsängsten männlicher Träumer wird.

      Die Thematik der Gefährlichkeit der Begegnung und der Gefahr von Fehlentwicklungen setzt sich auch in den folgenden Motiven fort. Zwar geht der Mund nun »gut auf« – der Widerstand wird offenbar gebrochen, wie es der anfänglichen Konzeption der Psychoanalyse entsprach, in der es noch nicht darum ging, Widerstände zu analysieren, um darüber einen Zugang zum unbewussten Hintergrund zu erlangen, sondern sie zu beseitigen. Aber es zeigen sich sofort andere Makel, die an schwerwiegende Verfehlungen gemahnen: Mit den »merkwürdigen krausen Gebilden« in den »Nasenmuscheln« stellt Freud einen Bezug zu seinem Freund Fließ her. Er nannte diesen auch den »Nasenfließ«, weil er als HNO-Arzt mit einer Arbeit über die Ähnlichkeit mancher Bildungen im Nasennebenhöhlenbereich, eben diesen Kräuselungen, mit Bildungen im Genitalbereich Aufsehen erregt hatte. Diese Idee stellte die gedankliche Nähe im Denken beider Männer heraus.

      Aber diese Nähe macht es auch schwer, sich von dem gravierenden Behandlungsfehler zu distanzieren, der Fließ bei der Operation einer Patientin unterlaufen war, als er vergaß, einen Tupfer herauszunehmen, was zu schwerwiegenden Komplikationen geführt hatte. Es gab danach eine lange Affäre wegen möglicher juristischer Konsequenzen.

      Angesichts solcher Bedrohungen ruft Freud im Traum Dr. M. hinzu. In ihm identifiziert er in seinen Einfällen Breuer, den älteren, erfahrenen Freund und Mentor, von dem er viel für seine Behandlung von Hysterikerinnen gelernt hatte, wenngleich dieser seine radikalen sexualorientierten Ansichten nicht teilt. Hierin scheint Freud ihn für behindert und wenig entwickelt zu halten: »Dr. M. sieht aber ganz anders aus als sonst, er ist sehr bleich, hinkt, ist am Bart kinnlos.«

      Allerdings – wenn man die Patientinnen »über dem Leibchen perkutiert« – wird es vielleicht leichter, den notwendigen Abstand zu halten. Selbst wenn man die »infiltrierte Hautpartie trotz des Kleides« spürt, die Übertragungsliebe also trotz aller Zurückhaltung nicht aus der Welt schaffen kann.

      Als Hintergrund klingt hier das Motiv der körperlichen Berührung in der psychotherapeutischen Behandlung an. In diesem Zusammenhang ist wahrscheinlich eine intensive Eifersucht von Freuds Ehefrau Martha auf seine Patientinnen bedeutsam, die in verschiedenen Briefen dokumentiert ist. Den Hintergrund dafür bilden Probleme, die dadurch entstanden waren, dass Freud seine Patientinnen früher, in der Phase vor der Assoziationstechnik, auch massiert hatte.

      Schließlich endet der Traum mit einer Verwirrung um das rechte Präparat mit einer nochmaligen Anspielung darauf, wie gefährlich, eindringend und vielleicht sogar beschmutzend eine – psychoanalytische – Behandlung sein kann: »Propylpräparat, Propylen, Propionsäure, Trimethylamin … Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig. Wahrscheinlich