Rahel Sanzara

Das verlorene Kind


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War er fertig und gelobt worden, schlich er sich abseits, um allein zu sein, hielt einen Stein, ein Stück Holz oder eine Krume Erde in seinen heißen, zitternden Händen und sang leise vor sich hin. Er hatte eine helle, sanfte, in besonderem Wohllaut klingende Stimme, der alle, die sie hörten, mit Entzücken lauschten. Doch sang er fast nur, wenn er allein war. Im Chor mit den andern, im Spiel mit den Kindern, schwieg er meist. In geheimnisvollem Gegensatz zu dieser schöntönenden Stimme aber stand sein sonderbares Lachen. Es war lautlos, erschütterte aber seinen ganzen Körper, es öffnete wohl seinen sanften Mund, aber kein Ton drang daraus hervor, nur das leise Zischen des erregten Atems.

      Er sprach nie einen Wunsch aus, nie brauchte er gestraft zu werden, und so weinte er auch nie. Oft mußte er von dem Herrn oder der Frau zum Essen gezwungen werden, da er aus Bescheidenheit keine Speisen nehmen wollte. In der Schule, in die die Kinder zweimal in der Woche gingen und bei schlechtem Wetter auf dem Wagen hingebracht wurden, lernte er gut und bewies vor allem ein außergewöhnliches Gedächtnis. Er war auch da fleißig und gewissenhaft und galt als Musterschüler. Auch zu Hause, auf dem Hofe, wurde er viel gelobt, doch seine Demut und seine Bescheidenheit blieben sich unverändert gleich. Die beiden Brüder, die Söhne des Herrn, umwarben den schönen, allen wohlgefälligen Freund mit offener, neidloser Liebe, doch er zog sich vor ihnen zurück, mied ihre Spiele, schwieg bei den Gesprächen, verkroch sich hinter die Dienstbarkeit eines Knechtes. Abends, vor dem gemeinsamen Schlaf, zögerte er lange, sich zu entkleiden, sammelte erst die Kleider und Schuhe der Brüder auf, schlüpfte damit auf den Gang vor die Tür, um sie zu reinigen, und erst, wenn die anderen schon im Dämmer des ersten Schlafes lagen, entkleidete auch er sich schnell und schlich ins Bett. Morgens stand er als erster auf, ungeweckt, eilte auf den Hof, um sich unter dem Brunnen zu waschen, und war schon angekleidet, wenn die anderen aufwachten und beschämt und verlegen nach ihren Kleidern suchten. Er zeigte sehr früh ein eigensinniges Schamgefühl, und sein einziger Ungehorsam bestand darin, als er sich im Alter von vier Jahren plötzlich weigerte, mit den anderen Knaben gemeinsam zu baden.

      Da ließ, als Fritz acht Jahre alt war, ein Ereignis sonderbare, fast erschreckende Untergründe seines so sanften Wesens erkennen. Es war an einem Frühlingsnachmittag, und der Knabe saß in der Küche am Herd, half geschickt wie ein Mädchen der Magd beim Schälen von Kartoffeln für den Abend, als plötzlich, mit starkem, ungestümem Schritt, die Hand der bleichen, voll Entsetzen um sich blickenden Mutter haltend, ein Mann von riesenhafter Größe eintrat. In seinem ebenfalls ungewöhnlich großen und völlig farblosen Gesicht versanken die kleinen, schmalen Augen unter dicken, rostroten Brauen, ein wilder, roter Bart umwucherte seinen großen aschfarbenen Mund, der breit wie ein Maul zwischen die mächtigen Kiefer gezogen war. In Büscheln stand das Haar auf dem riesigen Schädel, der auf einem breiten, kurzen Halse saß. Beim Sprechen dröhnte seine Stimme, und der Atem seiner starken Brust bewegte wehend den Bart um seinen Mund.

      Die Mutter hob die freie Hand, die heftig zitterte, deutete auf Fritz und sagte leise: »Da!«

      Der Mann schoß aus seinen kleinen, in dem trüben Antlitz versunkenen Augen einen hellen, scharfen Blick auf ihn, streckte seine mächtige Hand aus und sagte, während seine Stimme dröhnte: »Na, komm her!«

      Fritz rührte sich nicht. Aus dem sanften, engelgleichen Gesicht richtete er den demütigen Blick der blauen Augen auf ihn.

      »Komm!« sagte die Mutter, »komm, es ist der Vater.«

      Der Mann ließ ihre Hand los und trat zu dem Kind. »Gib die Hand«, befahl er und streckte die seine entgegen.

      Das Kind ergriff langsam die Hand. Sie war groß und hart, mit roten Haaren bewachsen. Das Kind senkte den Blick der großen Augen nieder, es errötete, sein Mund öffnete sich, und plötzlich hackte sein Kopf nieder, die Zähne schlugen fest und tief in das harte Fleisch der Hand ein. Der Mann brüllte auf mit dröhnendem Laut, er wollte die Hand fortreißen, doch in weitem Bogen schwebte das Kind, festgebissen, mit.

      »Du Aas!« schrie der Vater, ergriff das Kind mit der noch freien Hand, riß sich endlich los von seinem Biß und schleuderte es mit solcher Gewalt gegen die Wand, daß es mit krachendem Schlag niederfiel und wimmernd bewußtlos liegenblieb. Die Mutter stürzte zu ihm, bettete es auf ihren Schoß.

      Der Mann ging. Die verwundete Hand, die lange tropfend blutete, bedeckte er mit der gesunden. Er preßte die grauen Lippen seines riesigen Mundes aufeinander, in Gedanken sprach er, ohne sie zu bewegen: »Das ist einmal ein verfluchtes Aas!« Doch in seinem wüsten Herzen fühlte er über Zorn und Wut hinweg den Stachel eines nie gefühlten Schmerzes. Er wanderte zurück in die Stadt, aus der er gekommen war, nie wollte er Mutter und Kind wiedersehen. Doch es blieben ihm zur Erinnerung die kleinen, perlenförmigen Narben in seiner harten Hand und der Biß des Schmerzes in seinem Herzen. Und von Zeit zu Zeit in den künftigen Jahren, in den Stunden schweren Rausches, pflegte er zu sagen: »Ich habe einen Sohn, das ist ein verfluchtes Aas!« Und einmal fiel eine Träne, still aus den kleinen Augen tretend und fast unsichtbar über das fahle, riesige Gesicht rinnend, nieder auf seine Hand. Er kümmerte sich nicht mehr um das Kind, doch vergaß er es nicht und zählte die Jahre seines Lebens von ferne mit.

      Fritz und die Mutter blieben nun in Frieden zurück auf dem Gute, ihrer Heimat.

      Nach dem furchtbaren, geschleuderten Sturz an die Wand lag das Kind zwei Tage und zwei Nächte krank. Es schien zu fiebern, bewußtlos lag es in Träumen. Mit gefalteten Händen, die Seele in flehendem Gebet erhoben, wachte die Mutter bei ihm. Denn im Fieber, im Schlaf, war das Kind furchtbar verändert. Über das sanfte, engelgleich gebildete Gesicht fluteten, wie aus trüber Tiefe des kindlichen Blutes, der kindlichen Seele aufgerührt, Wellen von schwarzer Röte, weiteten es aus, verzerrten den Mund, gruben Furchen in die Wangen, rafften die Stirn in tückische Falten, stießen die Augen unter den geschlossenen Lidern zu rollenden, unsichtbaren Blicken hin und her, emporgezaubert von böser Kraft stieg eine teuflische Maske von drohender Wildheit auf und breitete sich in höhnischem Sieg über die Züge des Kindergesichts aus. Seine kleinen Zähne knirschten, fest ineinandergeschlagen, die kleinen, kräftigen Hände öffneten und ballten sich, die Nägel schlugen tief ins eigene Fleisch, dann wieder tat sich der Mund auf, lautloses Lachen, mit fauchendem Atem ausgestoßen, erschütterte völlig den kleinen Körper.

      Emma, die Mutter, fürchtete sich vor dem eigenen Kind. Sie floh von seinem Lager, und nur, um ihn vor den Blicken anderer zu verbergen, kehrte sie zu ihm zurück, versuchte ihn zu erwecken, indem sie nasse Tücher um seinen glühenden, rasenden Leib schlug. Sie trug ihn am Abend, als die anderen Knaben zum Schlafengehen in die Stube kamen, wie einen Toten in ein Leinen verhüllt, in eine leere Kammer im Gesindehaus, wo sie ihm ein Lager aus Heu bereitete. Sie wagte niemanden um Hilfe zu bitten, damit niemand ihr furchtbar verändertes Kind erblicke. Sie betete für es.

      In der zweiten Nacht, in der sie bei ihm wachte, schlief sie gegen Morgen ein, die Hand vor die Augen gepreßt, um nur einmal dem Anblick zu entfliehen, und am Morgen beim Erwachen fand sie zu ihrer unbeschreiblichen Freude das Kind wie immer, still schlafend, das weiße, sanfte Gesichtchen zur Seite geneigt, geglättet die kindlichen Züge, die kleine Brust zart bewegt von leise seufzenden Atemzügen, die kräftigen Kinderhände lagen gelöst in rührender Unschuld auf dem Tuch, das sie als Decke über ihn gebreitet hatte. Sie rührte ihn an, und er schlug die Augen auf, das reine, klare Widerspiel der ihren, und lächelte sie an. Sie lief und brachte ihm Milch. Er trank sie und dankte ihr mit seiner schönen weichen Stimme. Er stand am Mittag auf und war wie immer fleißig, demütig und sanft. Abend für Abend betrachtete Emma in Sorge sein schlafendes Gesicht, doch es blieb unverändert schön und friedlich, es war edler und schöner als das aller Kinder, die sie je gesehen hatte. So vergaß sie nach und nach ihr Entsetzen und die Furcht vor dem eigenen Kind und hielt ihn ihrem mütterlich reich liebenden Herzen nahe, wie die beiden anderen Kinder, die ein fremder Leib geboren hatte, nicht mehr und nicht weniger.

      Als dann Fritz elf Jahre alt geworden war, übergab ihm der Herr, um das ungewöhnliche Arbeitsbedürfnis des Knaben zu befriedigen, gegen einen kleinen Wochenlohn einen Posten als Hüte- und Dienstjunge auf dem Hof. Nun sah man Fritz nur noch bei der Arbeit, in seiner freien Zeit hielt er sich allein und versteckt, und es war, als ob er, außer wenn er arbeitete, überhaupt nicht lebe. Er verdiente sich Lob und Zufriedenheit und bereitete der Mutter auf lange Zeit nur noch reine Freude.

      Die