Paul Keller

Das Geheimnis des Brunnens


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gefunden. Der Angeklagte ist der Ermordeten vom Gasthaus aus nicht auf der Strasse diretzt nachgelaufen, sondern hat einen for genannten Schriemweg, also einen Abkürzungspfad, eingeschlagen. Bei eiligem Laufen ist er dem Mädchen zuvorgekommen. Vor der Tür, die zum Wege nach dem Brunnen führt, hat er sein Opfer erwartet. Er ist ihr durch den Garten nachgeeilt und hat sein Verbrechen vollbracht. Ein klipp und klarer Beweis sind die frischen Fussspuren, ist das abgerissene Halstuch, der Hut, die man bei dem Brunnen fand. Zwei Zeugen, Hönig und Geissler, haben eidlich bekundet, dass sie auf ihrem Heimwege beobachtet haben, wie Zöllner hinter Lore Reich her war. Dass der Angeklagte in dieser Tanznacht anfangs fast ganz nüchtern war, ist erwiesen. Freilich ist er von zwei Hofangestellten erst gegen einhalb sechs Uhr vor seiner Haustür schwer betrunken vorgefunden worden. Neben ihm standen zwei leere Rumflaschen. Den Rum hatte er schon vor seinem Aufbruch aus dem Wirtshause gekauft und in seine Manteltaschen gesteckt. Wahrscheinlich hat er sich erst Mut angetrunken und nach seiner Scheusalstat in erwachendem Gewissensschreck zu der Flasche seine Zuflucht genommen und sich zunächst nicht ins Haus gewagt.“

      Damit, sagte der Staatsanwalt, sei der Indizienbeweis geschlossen, und er stellte seine schweren Anträge. — Der Verteidiger sprach sehr schwach. Seine Bemühungen, die Argumente des Anklägers zu erschüttern oder abzuschwächen, scheiterten.

      Der Angeklagte sagte als Schlusswort: „Ich habe Lore Reich nicht umgebracht. Prügeln habe ich sie wollen, weil sie sich an die Soldaten wegwarf, und deswegen bin ich vornweg gelaufen. Aber sie ist flinker gewesen als ich. Sie kam nicht. Mein Ärger war so gross, dass ich zur Flasche griff und mich betrank. Weiter weiss ich nichts. Wenn ich verurteilt werde, bitte ich, nicht auf Zuchthaus zu erkennen, das wäre furchtbarer für mich als die Hinrichtung. Den Tod fürchte ich nicht. Der ist ein guter Bekannter von mir aus dem Felde.“ —

      Die Geschworenen zogen sich zur Beratung zurück. Der Gerichtsdiener verschloss hinter ihnen die Tür. Drinnen im Beratungszimmer hatte er Bier, Selter, belegte Brote, Zigarren und Zigaretten aufgestellt. Das war ein Nebengeschäft von ihm. Die Geschworenen frühstückten erst, während der arme Teufel und seine Richter draussen auf ihren Spruch warteten; dann wählten sie, wie die Tage vorher, den Rittergutsbesitzer Guntram zu ihrem Obmann. Guntram lehnte diese Wahl schroff ab. Er war der einzige der zwölf Geschworenen, der seine Stimme für Nichtschuldig abgab.

      Stefan Zöllner wurde zu zwölf Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust verurteilt.

      Im Zeugenraum sass todblass Frau Anna Zöllner. Sie hatte Zeugnis abgelegt für ihren Mann, er sei dieser Tat nicht fähig, aber sie war nicht vereidet worden.

      Als das Urteil gefällt war, rief Stefan Zöllner mit lauter Stimme:

      „Anna, du allein hast die Wahrheit bezeugt. Ich habe diese Tat nicht begangen. Verzeihe mir, was ich dir angetan habe!“

      Dann liess er sich geduldig abführen, ohne auf die Frau, die verzweifelt die Hände nach ihm ausstreckte, auch nur noch einen Blick zu richten.

      Die Vereinsamten

      Nun waren es zehn Tage nach der Verurteilung. Die Gutsfrau Anna Zöllner sass am Tische. Sie trug ein schwarzes Kleid. Nie wieder wollte sie sich bunt kleiden. Auf der Wandbank lag ihr Sohn Karl. Ganz still lag er mit offenen, glasigen Augen, wie einer, der eben gestorben ist. Vom Gymnasium war er weggelaufen.

      Die Frau hielt einen Brief in der Hand. Er hatte weder Über- noch Unterschrift.

      „Sie haben mich nicht zum Tode verurteilt, wie ich es mir gewünscht habe. Zwölf Jahre wollen sie mich einsperren; aber ich werde in nicht langer Zeit vom Tode begnadigt werden. Dann denket daran, dass ich wieder frei bin. Dieses ist das allereinzige Mal, dass ich euch schreibe. Ich habe euch nichts zu schreiben. Rechnet mich zu den Toten. Wie schade, dass die eine Kugel im Felde nur meinen linken Arm traf. Eine halbe Spanne weiter nach rechts hin hätte sie gehen müssen, ins Herz; dann wäre uns dieses alles erspart geblieben. Eine Bitte habe ich noch: das Gut sollt ihr nicht verkaufen. Zwar werdet ihr es schwer haben, denn die ganze Gesellschaft ist gegen mich. Wie sie sich gedrückt haben im Zuhörerraum! Verkauft das Gut nicht! Seit Jahrhunderten sitzen die Zöllner dort, lauter geachtete Leute. Und nun ein Zöllner ins Zuchthaus kam, muss das durchgehalten werden. Karl soll den Namen wieder zu Ehren bringen. Er soll ja auf der Schule bleiben, damit er klug wird und Ansehen gewinnt.

      Dieses ist mein Testament.

      Ich küsse Dir, liebe Anna, Deine fleissigen Hände und Deine verweinten Augen. Ob ich noch beten kann, weiss ich nicht. Die Vorsehung hätte die Kugel etwas weiter nach rechts leiten sollen. Wenn ich aber noch einmal zu Gott finden sollte, dann werde ich mit ihm von nichts reden als von meinem treuen Weibe, von meinem braven Sohne und von meiner lieben Wirtschaft.

      Lebt wohl! Schreibt nicht an mich. Die Toten soll man nicht stören. Und ihr müsst immer denken, dass ich gestorben sei.“

      Das war der Brief. Gestern war er angekommen. Seitdem hatten Mutter und Sohn kaum etwas gesprochen und nichts mehr gegessen. —

      Müde ging der Nachtwind ums Haus. Der Kettenhund winselte draussen. Da erhob sich Karl. Er war ein schöner, starker Knabe von siebzehn Jahren. Die Mutter rührte sich nicht. Sie wusste, dass er nun hinausging, den Hund loszulassen. Der Junge konnte kein Tier leiden sehen.

      Was bellte der Hund plötzlich so laut? Das war nicht Freude über die Befreiung.

      Der Knabe kam zurück.

      „Mutter, weisst du, wer der Verbrecher ist?“

      Sie sah ihn starr an.

      „Unser Nachbar Hönig.“

      „Hat der Hund auf ihn gebellt?“

      „Er stand am Zaune und schaute auf unseren Brunnen . . . jetzt im Finstern.“

      „Er hat gegen den Vater geschworen.“

      „Er will mit dem Lumpen, dem Geissler, gesehen haben, wie Vater die Lore verfolgte. Er habe sich aber weiter nicht darum gekümmert, da er mit uns verfeindet sei.“

      Wieder schlug der Hofhund an, beruhigte sich aber bald.

      „Der Lehrer kommt“, sagte der Junge.

      „Woher weisst du das?“

      „Ich habe es im Gefühl. Wollen wir ihn einlassen?“ Die Frau nickte.“

      „Er meint es wohl gut mit uns. Öffne die Tür!“

      Es war der alte Lehrer. Er reichte den beiden stumm die Hand. Zunächst blieb es ganz still. Schwere Beklommenheit. Dann sagte der Alte:

      „Es ist . . . es ist . . . wenn Sie mich einmal brauchen sollten . . . dass Sie dann zu mir kommen oder mich rufen lassen.“

      Der Junge sprang auf:

      „Herr Lehrer, erst eine Frage: Halten Sie meinen Vater für schuldig?“

      „Gott allein weiss die Wahrheit!“

      „Wenn Sie nichts anderes zu sagen wissen, Herr Lehrer, dann ist es am besten, wenn Sie wieder gehen.“

      Die Mutter wies ihn zurecht; der Junge aber blieb trotzig stehen. Da sagte der Alte milde:

      „Ich will dir was sagen, du junger Ungestüm: Ihr Zöllner habt hitziges Blut. Das bringt Schaden. Wenn ich unter den Geschworenen gesessen hätte, dann hätte ich die Schuldfrage ebenso verneint, wie sie Herr von Guntram verneint hat.“

      Der Junge kam in Erregung; auch die Augen der Frau öffneten sich, und ihre Hände bebten leise.

      „Hat Herr von Guntram wirklich . . . hat er . . .“

      „Er hat ,nein‘ gesagt; die andern elf leider alle ,ja‘. Ich weiss es von ihm selbst.“

      „Das segne ihm Gott!“

      Jetzt erst wurde der Lehrer eingeladen, sich zu setzen.

      „Ich komme hauptsächlich wegen Karl. Er ist vom Gymnasium fort. Soll es dann mit dem Studieren aus sein?“

      Der Junge zuckte nicht. Weinend reichte die Frau