rot. Nanna schaute hinunter. An ihrem Strumpf war Blut.
Als Nanna sich langsam umdrehte, sah sie für einen Moment Pts perfekte Frisur und dachte, daß sie am Schminktisch gewesen sein mußte, während das Wasser der Kaffeemaschine durch den Filter tropfte. Daß Lisa sich geschminkt und die Frisur in Ordnung gebracht hatte und daß Camilla nach dem nächsten Stück Brot griff, ehe sie mit dem ersten fertig war. Daß die Abendtafel auf dem holländischen Tisch abgesehen vom Kaviar abgedeckt war. Und daß sich niemand darum kümmerte, ob Stiefvater noch lebte oder nicht. Nanna trat ans Bett. Stiefvater lag unter der Decke. Auf dem weißen Überzug waren drei Abdrücke von blutigen Katzenpfoten. »Alex«, sagte sie und hörte ihre Stimme, technisch wie eine Telefonansage. »Alex ...«, sagte sie noch einmal und zog mit zwei Fingern an der Decke.
Alex erhob sich langsam, eine Scheibe Weißbrot in der Hand. Die anderen schauten auf. Als Nanna auf die roten Abdrücke deutete, biß Alex noch einmal von seinem Brot ab. Mit einem Ruck riß sie die Decke zur Seite.
Stiefvaters Gesicht lag auf dem weißen Kissen wie eine ausgetrocknete Qualle in einer Mulde im Strandsand. Die alte Haut hing von den Knochen wie zerknitterte Stoffetzen.
Ein Messer steckte in Stiefvaters Brust, dort, wo das Herz war. Der Messerschaft war nicht länger als zehn Zentimeter. Das Messer war klein. Es war ein Skalpell. Ein schmaler Streifen Blut war aus der Wunde über das Laken gelaufen.
Wie in einem luftleeren Raum wurde Stiefvater eins mit den Stilleben. Tote Vögel, tote Fische, tote Krabben. Nur das Miauen der Katze war zu hören.
Zweites Kapitel
Pt stand einen Meter von der Tür zur Halle entfernt und wurde mit Fragen und Rufen bombardiert. Sie war einen Schritt zurückgewichen. Nicht mehr.
Ein unsichtbares Bollwerk umgab ihren knochigen Körper, ein Schutzwall der Ruhe, und die Rufe schienen nicht zu ihr durchzudringen. Das Haar untadelig und die Hände locker nach unten hängend, vermittelte sie den Eindruck, gegen alles und jedes gewappnet zu sein. Den Willen auszuhalten. Die Fähigkeit zu überleben. Irgendwo hinter ihr, als Schatten, jedoch mit ihrer frühesten Kindheit verknüpft, jagte das siegreiche Rote Heer über winterkahle Äcker. Da mußten schon mehr kommen als Ulrik, Lisa, Alex, Tatjana und Camilla.
»So antworte doch, verdammt noch mal«, rief Ulrik.
Sie schaute durch alle hindurch, woandershin.
»Worum geht es bei dieser Testamentsänderung?« wollte Alex wissen.
Ihre Lippen bewegten sich. Es sah aus, als formten sie Worte, doch als fehlte Pt die Überzeugung, daß es die Mühe lohnte.
»Ich will ...«
»Was?« riefen alle und traten näher.
Pt bewegte einen Fuß, aber Alex sagte blitzschnell: »Du bleibst hier.«
»Ich will ...«
»Was?« brüllte Ulrik.
»Ihn zudecken«, erwiderte sie leise.
Sie schauten sie an, schauten einander an und schauten zum Bett mit der halbnackten Leiche. Die Augen starrten in die Luft, in dem offenen Mund waren gelbliche Zähne sichtbar. »Natürlich«, sagte Alex etwas unsicher.
Pt ging zwischen ihnen hindurch. Ihre Handlungen waren immer von untadeliger Korrektheit gewesen, nie hatte man diese Vollkommenheit auf die Hälfte oder ein Viertel reduziert erlebt.
Sie war von dieser besonderen Würde umgeben, die Menschen ausstrahlen, die ihre Funktion genau kennen. Sie griff nach der Bettdecke, schüttelte sie leicht und deckte Stiefvater zu, als lebte er noch.
Dann ein selbstverständliches Darüberstreichen. Die Hand, die die Decke glättete, schob für einen Augenblick die Wirklichkeit von Messer und Blut beiseite, und das Plumeau zog Nannas Blick auf sich, als enthalte es die eine oder andere Botschaft. Dann die wenigen Schritte ins Bad, zurück mit einem Handtuch, mit dem sie das Gesicht des Toten bedeckte. »Das kann sie perfekt«, sagte Ulrik leise. »Offenbar im Training. Wie viele sie wohl schon ins Jenseits befördert hat?«
Er lachte kurz. Aber niemand lachte mit, und er strich wieder seine Weste glatt.
Pt richtete sich auf und blieb bei dem Toten stehen. Eine Hand ruhte auf dem Bett, und das Haar glich für einen Moment dem Heiligenschein auf den Madonnenbildern.
Tatjana brach das Schweigen.
»Schluß jetzt. Ruft endlich die Polizei.«
Sie redete, als handle es sich um ein gestohlenes Fahrrad.
Nanna setzte sich müde auf einen Stuhl. Sie befand sich wie immer woanders als die anderen, wie durch eine Membran getrennt. Noch ein Gemälde, hoch oben über der Tür. Austern, Zitronen, Trauben und Wein in einem alten Glas, das Licht schräg von der Seite halbkreisförmig auf dem Rand des Glases.
Kleine Geschmacklosigkeiten gestalten eine Wohnung, aber zuviel des Schönen schlug im Haus Hvidager auf merkwürdige Weise in Häßlichkeit um. Nanna betrachtete das Bild. Eigentlich mochte sie die Natura-morta-Bilder.
»Weiß jemand die Nummer der Polizei?« fragte Ulrik.
Tatjana betete sie her.
Ulrik griff mit der einen Hand nach dem Telefon auf dem Nachttisch und mit der anderen Hand nach einem dünnen Büchlein, das daneben lag. Das Büchlein war in braunes Packpapier eingeschlagen, wie ein Schulbuch früherer Tage, und darauf klebte ein Etikett mit der Handschrift von Stiefvater.
»Was ist das?«
Ulrik legte abwesend den Hörer zur Seite und begann, in dem Buch zu blättern.
»Ich hatte keine Ahnung, daß Vater gelesen hat. Was soll denn das sein ...«
Er klappte das Buch zu und las das Etikett:
»›Buch der Laster‹ ...«
»Ruf endlich die Polizei an«, sagte Tatjana und gähnte.
»Warum hat er so etwas gelesen?«
Ulrik klang empört, so als wittere er einen Verrat. Er schlug das Büchlein auf: »Theophrast: Charaktere. Wozu brauchte er denn das?«
Hinter ihm stand Alex, den Blick nachdenklich auf die Bettdecke gerichtet.
»Was hat das zu bedeuten?«
Ulrik war den Tränen nahe, als er mit dem Daumen das Inhaltsverzeichnis aufschlug.
»... Über den Geiz ... Über die Feigheit ... Über die Liebedienerei ... Über den Hochmut ... und die Trägheit und die Prahlerei und das widerliche Wesen ... und über die Eitelkeit ... und über ...«
»Hör auf«, sagte Lisa, riß ihm das Buch aus der Hand und stellte apodiktisch fest: »Er ist tot. Basta. Ich rufe jetzt an.« Sie nahm den Hörer und wählte.
»Nein!« Alex drückte mit zwei Fingern die Gabel herunter.
»Nein, warte einen Augenblick.«
»Es geht um einen Mord. Wir müssen die Polizei verständigen«, rief Ulrik.
Ulrik war plötzlich ein anderer, wie auf allen Quartalsabenden, wenn Alex das Wort ergriff. Wie jedesmal, wenn Alex zur Tat schritt, angeblich schon, seit Alex so klein war, daß er lediglich existierte. Manchmal fand es Nanna erstaunlich, daß Alex die Wiege überlebt hatte.
Alex wiederholte sanft: »Einen Augenblick. Wir wollen uns hinsetzen. In aller Ruhe. Der Chef wurde ermordet. Was geschieht nun mit dem Kredit?«
»Vater ist ermordet worden. Das willst du doch vor der Polizei verheimlichen.«
Mit den Fingerspitzen fuhr Ulrik an dem unteren Rand der Weste entlang, als befände sich da, direkt am Saum, ein fernes Ziel.
»Was ist mit den Krediten?« sagte Alex. »Und wir verhandeln über den Kredit.«
Er blickte in die Runde.
»Vitale Anleihen.«
Keiner