erinnerten. Sein Mund stand halb offen und entblößte das einzig Ungewöhnliche in dem sonst so schönen Gesicht: die Eckzähne.
Er rührte sich nicht. Sie schob seine Oberlippe vorsichtig mit dem Daumen hoch. So lang waren sie nicht. Nicht so lang wie Wolfszähne. Er drehte den Kopf und sie zog schnell den Arm zurück. War sie verrückt? Hatte sie nicht schon mehr als genug von den Blinden gesehen? Wenige wussten besser als sie und Rime, wozu sie in der Lage waren. Ihnen hatte Urd sie versprochen. Als Opfer. Im Tausch gegen was? Wissen über Blindwerk?
Aber der hier konnte keiner von ihnen sein. Der hier war Kuro. Ihr Rabe.
Nein. Nicht mehr. Sie hatte selbst die Reste dessen, was von Kuro noch übrig geblieben war, eingesammelt. Ein blutiger Brei, den sie draußen in eine Mülltonne geworfen hatte. Kuro war tot. Sie hatte ihn verloren. Alles, was noch übrig war, war dieses Wesen. Ein hübsches Untier. Stärker und besser gebaut als jeder Ymling, den sie gesehen hatte. Göttlich? Ja, aber er war jung, erschöpft und roch nach Blut und Verderbnis. Das taten Götter nicht. Außerdem schmatzte der Seher nicht im Schlaf, da war sie sich ganz sicher.
Rime hätte es gewusst.
Rime hätte ihn geweckt und Antworten verlangt. Und er hätte sie beide beschützen können, wenn der Blinde aufwachte. Was konnte sie tun? Ihn mit einer Pflanzschaufel piksen? Sie warf sie weg, schüttelte über sich selbst den Kopf. Das alles war unwirklich. Sie sollte besser von hier wegkommen. Wer auch immer da draußen auf sie wartete, konnte nicht schlimmer sein als das, was hier drinnen war. Und außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand kam. Es war zwar die Nacht zu Sonntag und die meisten Menschen hatten frei, aber das bedeutete nicht, dass niemand ins Gewächshaus kommen würde.
Aber wohin sollte sie gehen? Sie hatte wenig Geld und Essen, und jetzt hatte sie sich auch noch um einen Totgeborenen zu kümmern. Sie machte die Augen zu. Die Erkenntnis war eine Last. Ja, sie würde sich bald auf den Weg machen. Doch sie wusste: nicht weil sie weglaufen wollte, sondern um ihm zu helfen.
Sie wusste, wie es in der Welt zuging, und er würde sie nicht verstehen. Sie konnte ihn nicht allein auf all das Unbekannte loslassen. So wie es ihr ergangen war. Er brauchte Kleidung. Und Essen. Und er musste ein Bad nehmen, aber sie wusste nicht, wo sie eins auftreiben sollte. Die einzige Möglichkeit war die Kirche …
Konnte sie es wagen? Pater Brody wusste ja noch nicht, dass sie abgehauen war. Das würde er erst im Morgengrauen feststellen. Aber wenn sie jetzt das Gewächshaus verließ, wäre sie nicht sicher. Jemand hatte sie verfolgt. Sie wusste nicht, wer oder warum. Sie musste warten, bis es hell wurde und sie nicht mehr allein auf der Straße war. Niemand würde ihr etwas tun, wenn sie von Leuten umgeben war.
Das war ein seltsamer Gedanke. Und den hatte ausgerechnet sie, die sie sich unter Leuten immer am unsichersten fühlte. Zu Hause war es schon schlimm genug gewesen und hier war es noch schlimmer. Obwohl sie eine von ihnen sein sollte. Ein Mensch. Hier waren alle Odinskinder. Emblasprösslinge. Fäulnis. Warum fühlte sie sich dann so fremd hier?
Hirka stand auf, nahm eine große, buschige Pflanze vom Tisch und stellte sie neben den Blinden. Er schlief noch immer tief und fest. Sie holte noch ein Gewächs. Und noch ein weiteres. Am Ende hatte sie ihn gut hinter einer grünen Wand versteckt. Das Ganze war bestimmt sinnlos. Wenn jemand käme, würden sie ihn ohnehin finden. Aber etwas musste sie tun.
Sie hörte, dass draußen Autos vorbeifuhren. Die ersten Menschen waren aufgewacht. Sie schulterte ihren Beutel und schlich aus dem Gewächshaus.
Der Himmel war grau. Die Kälte nicht mehr so beißend. Sie ging am Zaun entlang zum Fluss. Große Löcher hatten sich jetzt ins Eis geschmolzen. Auf der anderen Seite des Zauns fand sie den Weg zurück zur Kirche, während sie gegen das Gefühl kämpfte, dass sie eine Dummheit machte. Es kam ihr vor, als müsse sie die Füße mit aller Macht weiter vorantreiben. Sie schaute sich verstohlen um, aber es waren nicht viele Menschen zu sehen. Sie war sich unsicher, wie viel Zeit ihr blieb, bis Pater Brody die Kirchentüren öffnete, darum fing sie an zu laufen.
Was sollte sie sagen? Sollte sie erzählen, dass sie eigentlich abgehauen war? Oder sollte sie nur sagen, dass sie die Nacht draußen verbracht hatte? Und was sollte sie von dem Blinden erzählen?
Nein! Er musste ein Geheimnis bleiben. Pater Brody würde ihn als Teufel bezeichnen. Er hatte Angst vor Teufeln. Hirka war zwar noch nie einem über den Weg gelaufen, aber sie hatte das Gefühl, dass sie Ähnlichkeit mit den Totgeborenen hatten. Sie könnte sagen, ihr sei ein Mann begegnet. Ein normaler Mann, der Hilfe brauchte. Pater Brody würde ihr ein paar Kleidungsstücke geben, die er für die Armen gesammelt hatte. Da war sie ganz sicher.
Hirka blieb vor der Kirche stehen. Graue Vertiefungen im Schnee verrieten, dass Pater Brody schon da war. Jay und ihre Mutter auch. Die Spuren mussten von ihrer kleinen Schwester stammen. Aber da waren noch mehr. Mehr als sonst immer. Unruhe schoss in Hirkas Brust hoch. Etwas stimmte nicht. Sie stieg die Treppe hinauf und fasste die Tür an. Sie war offen. Sie schob sie vorsichtig auf und schlüpfte hinein, hörte Geräusche aus dem Kircheninneren. Ein Kind weinte. Männer stritten. Zwei davon.
»Was weißt du eigentlich über Kinder?«
»Genug. Ich weiß, dass sie reden. Das machen Kinder so. Sie reden!«
»Mann, sie hat doch gerade eben erst stehen gelernt! Was glaubst du denn, was so eins reden kann? Und wir kriegen einen Arsch voll Probleme!«
»Wir haben schon einen Arsch voll Probleme, Isac!«
Hirka drückte sich an die Wand. Sie hörte, wie im Kirchenschiff eine Tür aufgemacht wurde. Eine dritte Männerstimme übertönte alle anderen: »Sie ist auch nicht da oben. Aber sie hat da garantiert gewohnt.«
»Hat? Hat gewohnt?! Du hast doch gesagt, sie ist schon seit mehreren Tagen nicht mehr draußen gewesen! Kannst du diese Göre endlich zum Schweigen bringen!?«
»Wenn das Mädchen nicht hier ist, dann kannst du dich gleich erschießen. Damit machst du alles einfacher. Er wird dich sowieso umbringen, weil du verdammt noch mal nicht zugehört hast!«
Hirka tastete im Gesagten nach bekannten Wörtern, verstand aber viel zu wenige. Und es hallte im Kirchenschiff, was die Sache noch schwieriger machte. Doch sie begriff immerhin so viel, dass sie hinter ihr her waren. Sie legte ein Ohr an die Wand. Hörte das Blut darin rauschen. Ihr Puls hämmerte. Sie musste wieder von hier weg.
Das Kind …
Das Mädchen da drinnen weinte immer noch, jammerte nach der Mutter. Das Wimmern schnitt Hirka ins Herz. Sie konnte die Kleine nicht einfach dort zurücklassen. Sie musste sie irgendwie mitnehmen. Und die anderen? Wo waren die anderen? Sie musste sehen … Bloß ganz kurz hineingucken.
Sie beugte sich vor und linste ins Kircheninnere. Sie erstarrte. Wusste, dass sie von hier weglaufen sollte, konnte es aber nicht. Ihre Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung. Den Mittelgang entlang. Auf Jay zu, die mit dem Gesicht am Boden lag. Ihre Kopfhörer waren herausgefallen. Sie lagen in einer Pfütze aus etwas Rotem.
Dilipa lag gleich daneben mit dem Kopf zwischen den Bankreihen. Die Frau starrte aus toten Augen zu ihr hoch. Hirka hatte das Gefühl im Gesicht verloren. Hatte sie gerade einen Albtraum? Lag sie im Draumheim? Sie blickte auf.
Drei Männer standen vor dem Altar und starrten sie an, als sei sie ein Gespenst. Einer hielt Jays kleine Schwester am Nacken fest. Das Mädchen schluchzte. Seine Beine hatten unter ihm nachgegeben, sodass es halb in der Hand des Mannes baumelte.
Hirka suchte nach Worten. Wut und Trauer drohten sie zu ersticken. Sie blieb kurz vor ihnen stehen. Starrte sie an. Sie starrten zurück. Die Zeit stand still.
Dann brach der Größte von ihnen in Gelächter aus. Er hatte blonde Haare und trug ein grelles Hemd mit Zickzackmuster. Er breitete die Arme aus. »Vielleicht gibt es doch einen Gott«, sagte er und kam auf sie zu. Hirka sah ein schwarzes Bündel über dem Altar hinter ihm liegen. Pater Brody.
Hunde. Wahnsinnige Hunde. Wilde Tiere. Das waren sie. Hirka schaute zu Jays kleiner Schwester. Es gab nur eins zu tun. Nur eins