Georges Simenon

Tropenkoller


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ahnte er, dass ihre Brüste unter dem Kleid auch jetzt wieder nackt waren, und er errötete.

      »Geht es Ihrem Mann besser?«

      Sie sah ihn erstaunt an, schien sich plötzlich zu erinnern, dass er erst seit vier Tagen in der Kolonie war.

      »Er wird den Tag nicht überleben.«

      »Wo ist er?«

      Sie deutete zur Decke. Er wagte nicht zu fragen, ob der Sterbende allein war, aber sie erriet seinen Gedanken.

      »Er redet schon wirres Zeug. Er merkt nichts mehr. Übrigens, hier ist ein Brief für Sie.«

      Sie reichte ihm einen Umschlag über die Theke: ein kleines amtliches Schreiben, in dem Timar aufgefordert wurde, sich schnellstens auf dem Polizeikommissariat zu melden.

      Eine Schwarze kam mit einem Korb Eier herein. Die Wirtin schüttelte den Kopf.

      »Es wäre besser, Sie gingen hin, bevor es zu heiß wird.«

      »Was, glauben Sie, wollen die …«

      »Sie werden es ja sehen!«

      Sie war nicht nervös. Auch das Lokal wirkte genauso wie an den anderen Vormittagen.

      »Hinter der Mole, kurz vor dem Schiffsbüro, biegen Sie rechts ein … Vergessen Sie den Tropenhelm nicht!«

      Er bildete es sich vielleicht nur ein, doch er hätte schwören mögen, dass sich die Schwarzen an diesem Morgen anders verhielten als sonst. Sicher, auf dem Markt ging es so laut und lebhaft zu wie immer, und die bunten Schurze schillerten in der Sonne. Aber plötzlich sah jemand in der Menge den Weißen mit einem düsteren Blick an, oder drei, vier Einheimische verstummten und wandten die Köpfe ab.

      Joseph Timar beschleunigte den Schritt, obwohl ihm der Schweiß herunterrann. Er verlief sich und landete vor der Villa des Gouverneurs, musste umkehren und sah schließlich am Ende eines schlechten Weges eine Baracke, an der ein Schild hing:

      Polizeikommissariat

      Die Schrift war mit weißer Farbe ungeschickt aufgemalt, die beiden »s« von Kommissariat standen verkehrt herum. Schwarze in Polizeiuniform saßen mit nackten Füßen auf den Stufen der Veranda. Irgendwo in dem dämmrigen Haus klapperte eine Schreibmaschine.

      »Ich möchte zum Kommissar.«

      »Dein Papier …«

      Timar zog seine Vorladung heraus, wartete, auf der Veranda stehend, und wurde dann in ein Büro gerufen. Die Jalousien waren heruntergelassen.

      »Setzen Sie sich. Sie sind Joseph Timar?«

      Im Halbdunkel konnte er einen Mann mit rotem Gesicht, hervorquellenden Augen und starken Tränensäcken ausmachen.

      »Wann sind Sie in Libreville angekommen? Setzen Sie sich.«

      »Mit dem Schiff am Mittwoch.«

      »Sie sind nicht zufällig mit dem Departementsrat Timar verwandt?«

      »Das ist mein Onkel.«

      Mit einem Ruck erhob sich der Kommissar, schob seinen Stuhl zurück, streckte ihm eine schlaffe Hand hin und wiederholte in einem ganz anderen Ton:

      »Setzen Sie sich doch. Wohnt er immer noch in Cognac? Ich bin fünf Jahre lang Inspektor in dieser Stadt gewesen.«

      Timar war erleichtert. Denn zunächst hatte er in diesem dunklen, kümmerlich ausgestatteten Zimmer eine Anwandlung von Zorn oder Entmutigung empfunden. Es gab insgesamt fünfhundert Weiße in Libreville. Leute, die ein hartes, manchmal gefährliches Leben auf sich nahmen, nur damit man in Frankreich begeistert von der Erschließung der Kolonien sprechen konnte.

      Und kaum war er gelandet, wurde er von einem Polizeikommissar vorgeladen und rüde wie ein unerwünschtes Element behandelt!

      »Ein bedeutender Mann, Ihr Onkel! Er könnte jeden Tag Senator werden. Aber was wollen Sie denn hier?«

      Nun war es am Kommissar, verwundert zu sein, so ehrlich verwundert, dass es Timar wiederum beunruhigte.

      »Ich habe einen Vertrag mit der Sacova unterschrieben.«

      »Geht denn der Direktor fort?«

      »Nein, nein. Ich soll den Posten am Fluss übernehmen, aber …«

      Jetzt war es kein Erstaunen mehr, es war betrübte Verblüffung.

      »Weiß Ihr Onkel davon?«

      »Er hat mir diese Stellung verschafft. Einer seiner Freunde ist Vertreter von …«

      Timar saß immer noch. Der Kommissar ging um ihn herum und betrachtete ihn interessiert. Manchmal fiel ein Lichtstrahl auf ihn und ließ erkennen, dass seine Oberlippe gespalten war und sein Gesicht sowie die gesamte Erscheinung männlicher waren, als es zunächst ausgesehen hatte.

      »Das ist ja eine merkwürdige Idee. Nun, wir werden noch darüber sprechen. Kannten Sie die Renauds, bevor Sie herkamen?«

      »Die Renauds?«

      »Die Besitzer des Hôtel Central … Übrigens, ist er noch nicht tot?«

      »Es sieht so aus, dass er den Vormittag nicht überleben wird.«

      »So etwas! Und …«

      Timar wusste plötzlich, was ihn trotz der Herzlichkeit des Beamten störte. Während der Kommissar in dem Büro auf und ab ging, blickte er ihn nämlich fast auf die gleiche Art an wie Adèle. Eine Mischung aus Erstaunen, Neugier und sogar einer leisen Zärtlichkeit.

      »Trinken Sie einen Whisky?«

      Ohne die Antwort abzuwarten, befahl er einem der Boys auf der Veranda, welchen zu holen.

      »Natürlich wissen Sie von dem, was in dieser Nacht passiert ist, auch nicht mehr als die anderen …«

      Timar errötete, was der Kommissar bemerkte. Timar wurde noch röter, und sein Gegenüber nahm die Whiskyflasche aus den Händen des Boys und füllte die Gläser, wobei er keuchte wie jemand, dem die Hitze den Atem nahm.

      »Sie wissen, dass man einen Schwarzen zweihundert Meter vom Hotel entfernt niedergeknallt hat. Ich komme eben vom Gouverneur. Es ist eine schmutzige Geschichte, eine sehr schmutzige Geschichte!«

      Im Nebenzimmer klapperte immer noch die Schreibmaschine, und da die Tür halb offen stand, sah Timar, dass der Sekretär ein Schwarzer war.

      »Auf Ihr Wohl! Sie können es noch nicht verstehen. Aber in den nächsten Tagen werden Sie allmählich begreifen. Ich habe Sie kommen lassen, um Sie wie die anderen zu vernehmen. Alle werden mir das Gleiche sagen, nämlich dass sie nichts wissen. Eine Zigarette? Nein? Sie müssen einmal bei uns zu Mittag essen. Ich stelle Sie dann meiner Frau vor. Sie kommt aus Calvados, aber auch sie kennt Ihren Onkel in Cognac.«

      Timar entspannte sich. Er empfand das Halbdunkel, das ihm zuerst unangenehm gewesen war, mit der Zeit als wohltuend. Auch der Whisky trug dazu bei, ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Außerdem blickte ihn der Kommissar, der wohl ausreichend beobachtet hatte, nicht mehr unverwandt an. Timar wagte es, eine Frage zu stellen.

      »Was sind das für Leute, die Renauds, von denen Sie eben gesprochen haben?«

      »Hat man Ihnen nichts erzählt? Vor fünfzehn Jahren ist Eugène Renaud aus Frankreich ausgewiesen worden. Mädchenhandel, aber vermutlich auch einige andere Vergehen. Es gibt mehrere solche Fälle in Libreville.«

      »Und seine Frau?«

      »Sie ist wirklich seine Frau, richtig mit ihm verheiratet. Das war sie schon damals. Sie arbeiteten vor allem im Ternes-Viertel. Trinken Sie Ihr Glas aus!«

      Timar leerte das Glas drei-, vielleicht viermal. Der Kommissar trank ebenso viel und wurde schließlich sehr redselig. Hätte der Staatsanwalt nicht angerufen und ihn dringend sprechen wollen, hätte das Gespräch noch viel länger gedauert.

      Als Timar ins Freie trat, strahlte die Sonne senkrecht auf ihn herunter, und es war so drückend, dass er nach hundert