tiefen Bewußtlosigkeit. Sehr kühl und zugig war es dort unten, und die Ratten, die den trockenen Grund mit den grauweißen Flechten besiedelten, nagten unermüdlich das Mauerwerk an. Bald mußte ein Stein durchbrochen, die Mitte der Nacht zersägt sein. Schon war eine Spalte entstanden, durch welche ein feldgraues Tier den dürren Körper zwängte, als wieder neuer Mörtel, Grieß, Staub darüberstürzte und die Ratten verschüttete. Von heftigem Niesen gepeinigt, erwachte Aladin. Er mußte geschnarcht und mit offenem Mund die Spreu der Matratze geatmet haben, welche leise unter ihm stank. Auch merkte er nun, daß ihn fror, und setzte sich klagend hoch; er rückte fest in die Mauerecke, zog von neuem die Beine dicht an den Leib und wartete auf den Schlaf. Es war vollkommen still um den hockenden Mann in seinem Höhlengrab, den Embryo im Stein. Er bewegte den Mund und kaute die Eierschale, die ihm am Gaumen hing. Eine Weile darauf kam ihm vor, als hätte er Brot in den Händen und bräche es entzwei. Die Kruste, narbig und hart, war ringsum mit Schimmel bezogen; der Brosamen gleich darunter schien löcherig und rauh. Er hob es an die Augen und wußte: man hatte ihm würmiges Brot, einen großen Rist, zu essen gegeben, der gräulich wimmelte. Bald sah er vor Maden den Mehlback nicht mehr und bröckelte deshalb die oberste Schicht, hierauf die folgende ab, welche reinlicher, aber noch immer von Würmern durchzogen war. Die nächste schien etwas heller, als sei sie aus anderem Teig gemacht und auch freier von Ungeziefer, die übernächste desgleichen; es folgten einander die Schichten und klärten sich immer mehr, bis endlich die letzte hervorkam: weiß, strahlend und so fein, daß Aladin nicht wagte, sie mit den schmutzigen Fingern, dem Stoppelmund zu berühren, und indem er sie ansah, geblendet wurde, daß die Augen ihm übergingen . . .
Es war heller Tag, in dem Mauerloch stand eisigblauer Himmel. Der Mann erhob sich ächzend, schlug mit geballten Fäusten seine steif gefrorenen Glieder an und öffnete die Tür. Die Bäume waren entblättert, fast kahl, mit einem leichten Glast auf den Stämmen, die räumlicher schienen, tiefer führten und in den Winter gingen. Das Laub auf der Erde glänzte metallisch und schien seine pflanzenhafte Natur verwandelt oder vergessen zu haben: scharf abgegrenzt, legte sich Blatt auf Blatt und brach unter Aladins Schritten spröde und leblos entzwei. Auch die Geräusche, die fernher kamen, hatten plötzlich an Härte gewonnen, an schreckhafter Deutlichkeit. Eine Bauernkarre auf der Chaussee ging rasselnd in allen Eisenteilen, umpfiffen von Peitschenschlägen, vorüber; zwei Radglocken, hoch und tief, schlugen kräftig in ihrem Gehäuse an; das schleifende Heulen und Rauschen der elektrischen Vorortwagen zog seine Straße hin.
Als bürstete dieser Lärm ihm krätschend über den Rükken, fuhr Aladin zusammen und sah ängstlich im Kreis umher: es war alles sehr offen geworden und hatte Löcher bekommen, ja, wie ihn dünkte, schien jetzt die Gegend aus lauter Fenstern gemacht zu sein, nicht Fenster, um hindurch in fremde Räume zu sehen, sondern solche, aus denen Verrat auf seinen Nacken schaute. Nun hätte er gerne wieder geschrien, doch schlug ihm die Stimme der Wirklichkeit den Schrei in den Hals zurück; so streckte er nur zaghaft den kleinen Finger aus und stieß in die Luft hinein, schien seine Befürchtung bestätigt zu finden und drehte sich vorsichtig um. Sein Haus sah ihm gleichgültig, fremd, entzaubert und kalt entgegen; noch nicht eine Wasserleitung, fuhr es ihm durch den Sinn. Doch, hier lag eine Röhre; sie kam ungefähr aus der Richtung des Offizierskasinos und war oberirdisch geführt, schien aber kein Trinkwasser zu enthalten und würde bei Frost bald geplatzt oder eingefroren sein. An der Außenwand war ein Kranen. Aladin drehte ihn auf, und gelbliches Schmutzwasser, das sich erhellte und langsam sauber wurde, schoß wie der Geist aus der Flasche: so nämlich, als ob es gewartet hätte, endlich befreit zu werden, mit protzendem Zischen heraus . . . Der Mann nahm sich vor, die Leitungsröhre zum Ursprung zu verfolgen und sie mit Tannenzweigen notdürftig einzudecken, drehte heftig den Hahn wieder ab, der nur widerwillig gehorchte, und trat in das Steingeviert.
Etwas Roheres ließ sich nicht denken. Der Fußboden war gestampfte Erde, an der einen Wand lief eine Bank entlang, in die andere waren Haken geschlagen und zwei eiserne Halter mit Ringen, in denen Kienspäne oder Laternen mit trüber Funzel gesteckt haben mochten. Von alten Lumpen verhüllt, stand etwas in der Ecke. Der Mann hob die Tücher empor und entdeckte einen Petroleumofen, mit einer strohernen Matte umwickelt, vollkommen neu, einen Dochtkranz tragend, der noch niemals gebraucht worden war. Daneben lag eine Flasche, die etwas Erdöl enthielt; sie war schlecht verkorkt und floß, als sie Aladin anstieß, bis auf den Bodensatz aus. Er pfiff durch die Zähne: Diebesgut, das einer hier untergestellt, doch nicht mehr abgeholt hatte – ein Rabenbrot für Elias; ein Linsentopf für den armen Mann in seiner Löwengrube. Hehe, wie hatte er nur gedacht, daß er nicht bleiben könne? Nun würde er Erdöl kaufen, ein blankes Feuerchen machen. Oder wäre es möglich, die Flasche einfach ins Freie zu stellen, und Gott ließ Petroleum regnen? Es war nicht wahrscheinlich und lange her, daß Manna gefallen war. Manna . . . jetzt sah er das Traumbrot wieder und wußte, daß er nach Erdöl gehen und selber suchen müsse, was ihm die Eingeweide zu wärmen imstande wäre.
Er raffte die Lumpen auf, ballte sie und trocknete mit ihnen die gelbliche Flüssigkeit, die den Raum mit Gestank erfüllte; ging hinaus an die Leitung, wusch seine Hände und kramte in dem Tornister, dem er den Paß, eine Börse mit Silber und die Brieftasche mit dem Papiergeld entnahm, eine größere Summe, von der er nicht ahnte, wieso er sie besaß. »Au revoir . . .«, er setzte die Schildkappe auf und lüftete sie wieder, als sei der eigentliche auf dem Kalbfelltornister sitzengeblieben; dann ging er samt der Petroleumflasche sehr eilig über die Schwelle und knallte die Türe zu.
Dicht an der Hauswand hatte noch gestern ein Bergasternbusch geblüht. Er mochte vom Wind aus den Gärten der Villenkolonie, die jenseits der Landstraße lag, von Besatzungssoldaten, die überall ihre Baracken mit Blumenzeug umzogen, hierher gebracht worden sein. Nun waren die blassen Sterne tiefschwarz zusammengeschrumpft, die hellen Staubgefäße zu einem nußbraunen Butzen geworden, die Stengel aschengrau. Aladin stieß mit dem Fuß darnach, dann setzte er die Flasche, die er bis dahin umklammert hatte, stillschweigend nieder und riß das Gebüsch mitsamt seinen Wurzeln aus. Indem er noch rodete, kam der Kopf eines Steckenpferdes hervor. Bäh – es war handgeschnitzt, angemalt und stak mit dem Stock in der Erde. Allons, er zog es ans Tageslicht und klemmte es zwischen die Beine, fing lustig zu reiten an. Es ging rings um das Munitionsgebäude, einmal und zweimal und noch einmal. Dazu sang er mit schallender Stimme den Anfang eines Liedchens; ergötzte sich daran. Hopp – endlich sprang sein Gedächtnis wie über einen Stein und half seiner Stimme weiter: »fällt erin den Graben, fressen ihn die Raben. . .«, »die Raben?« Er stutzte, blieb stehen und ließ das Steckenpferd los. »Die Raben! Die Raben! Die Raben!« der Mann bedeckte die Ohren und hörte sich selber rufen, dann wieder stille werden, griff nach der Erdölflasche und wanderte davon. . .
Er ging mit gekrümmtem Rücken dem Leitungsrohre nach, das ihn zum Lager führte und bald offen zutage trat, bald von Unkraut und Unterholz dicht überwuchert wurde. Dabei entfiel ihm der Vorsatz, es frostsicher einzudecken, er hieb mit dem Gürtelmesser die Brombeerzweige ab, wo sie das Rohr verbargen, und geriet, indem er den Kopf beständig nach unten hielt, in einen flimmernden Zustand von Selbstvergessenheit . . . Hallo, hier waren Bögen, aus flachen Ziegelsteinen erbaut, und oben mit einer Rinne versehen, durch welche Wasser schoß. In den Mauerbögen wuchs Gras, und frischer blaßblauer Himmel erfüllte sie, straffte sich zwischen ihnen wie ein gewaschenes Tuch. Sie kamen, wie ihm scheinen wollte, weit aus dem Innern des Landes und führten, ich weiß nicht, wohin . . . Verflucht, er stolperte, hielt sich fest und riß sich die Hände an einer Ranke blutig, erwachte und sah, wie die Mauern zerfielen, um als gewöhnliche Wurzelstümpfe am Rand der Röhre zu hocken. Gut: aus dem Innern des Landes. Er ging in das Innere. Um Wasser zu holen. Nein, Erdöl. Das Wasser kam von selbst. Wo war seine Flasche? Da lag sie und hatte den Korken verloren. Nun, der Kaufmann besaß wohl noch andere, und Geld, er klapperte mit der Börse, war ja genug vorhanden. Dann zählte er an den Fingern ab, was er besorgen wollte: »Wasser. . .« er schauderte, schüttelte sich und dachte an den Regen. »Brot . . .?« »Würmerbrot!« sagte er zornig und stieß mit dem Fuß darnach. Also Erdöl. Richtig. . . nur Erdöl und einen Korken dazu. Ach, ein Korken war gut und verstopfte das Loch, aus dem die Gedanken rannen.
Die Flasche im Arm lief er weiter und kam an einer Schonung mit jungen Buchen vorbei, die man eingesetzt hatte, um Mischwald zu haben, der trotz dieses mageren Bodens schön zu gedeihen schien; hierauf an den riesigen Eisenmasten der Hochspannungsleitung vorüber, die, je nach der Beleuchtung, bald mystischen