Edelbert Richter

Für ein Ende der Halbwahrheiten


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nur durch eine überlegene Macht gebändigt werden kann. Das ist ja auch der Weg des Herrschaftsvertrags, den Hobbes zu Beginn der Neuzeit gewiesen hat. Aber haben jene, die so denken, sich die Tragweite dessen hinlänglich bewusst gemacht? So heißt es bei Hobbes zunächst auf die Innenpolitik bezogen: »Der Souverän eines Gemeinwesens (…) ist den staatlichen Gesetzen nicht unterworfen. Denn da er die Macht besitzt, Gesetze zu erlassen und aufzuheben, so kann er auch nach Gutdünken sich von der Unterwerfung durch Aufhebung der ihm unangenehmen Gesetze und durch Erlass neuer befreien. (…) Es ist auch nicht möglich, gegen sich selbst verpflichtet zu sein, denn wer verpflichten kann, kann die Verpflichtung aufheben, und deshalb ist einer, der nur gegen sich selbst verpflichtet ist, nicht verpflichtet.«2

      Der Souverän darf also morden, stehlen und lügen, d.h. genau das tun, was er seinen Untertanen per Gesetz verbietet, was in seinem Fall aber natürlich einen höheren Sinn hat. So kommt es, dass man die kleinen Verbrecher hängt, die ganz großen dagegen nicht nur laufen lässt, sondern sogar ehrt. Der Souverän muss nicht der gute und weise Richter sein, den wir erwarten, die Hauptsache ist, dass er alle Übeltäter an willkürlicher Gewalt übertrifft. Wenn wir das auf die außenpolitische Ebene übertragen, so brauchen wir uns über das, was die USA sich immer wieder erlauben, also gar nicht zu wundern. Auch die globale Führungsmacht muss nicht glaubwürdig sein und ihrem Missbrauch der Macht sind letztlich keine Grenzen gesetzt.

      Es ist das alte Problem der Begrenzung und der Verrechtlichung von Herrschaft, das sich heute in globaler Dimension stellt. Es steht hinter meinen Erörterungen zum Nationalsozialismus, denn der Sieg über den Nationalsozialismus fiel bekanntlich mit dem Aufstieg der USA zum globalen Hegemon zusammen. Wenn dieser Aufstieg aber die Hoffnungen, die sich an ihn knüpften, nicht erfüllt hat, man denke nur an die Vereinten Nationen, so erscheint zunächst das Dritte Reich in einem anderen Licht. Darüber hinaus drängt sich aber die Frage auf, ob der Staat, der über eine historisch so unvergleichliche Macht verfügt wie die USA, nicht auch unser Denken und unser Urteilsvermögen sehr weitgehend prägen kann. Es gibt meines Erachtens kaum eine größere Herausforderung für die Philosophie, als diesem Verdacht nachzugehen.

      Ein weiteres, sehr elementares Motiv für dieses Buch besteht darin, nicht dumm sterben zu wollen. Ich weile nun schon fast ein dreiviertel Jahrhundert auf dieser Erde und bevor ich von ihr abtrete, wollte ich doch noch etwas Klarheit darüber haben, was es mit der Schuld des Volkes, dem ich angehöre, auf sich hat. Denn es ist ja ausgerechnet das Volk, von dem die ersten beiden »Weltkriege« ausgegangen sind, Kriege, die wirklich die Menschheit als ganze betrafen und erschüttert haben.

      Dass ich kein Fachhistoriker bin, habe ich dabei als Nachteil und als Vorteil zugleich empfunden. Ich musste mich auf die Darstellungen der Fachleute stützen, konnte meist nicht zu den Quellen vorstoßen, sondern hatte schon genug damit zu tun, im Meer der Literatur nicht unterzugehen. Andererseits habe ich von diesen fleißigen Leuten viel gelernt – nicht zuletzt aus den Widersprüchen zwischen ihren Deutungen – und hätte mir ohne ihre Hilfe gar kein eigenes Urteil bilden können.

       Zur Einleitung: »Enttäuschte Liebe« – Historische Hintergründe von Brexit und Trumps Präsidentschaft

      Es hat sich wohl inzwischen herumgesprochen, dass sowohl der Brexit wie auch Trumps Präsidentschaft mehr bedeuten als einen kleinen geschichtlichen Unfall, dass es sich vielmehr um einen Epochenumbruch handelt. Der Spiegel sprach schon im Januar 2017 von einer »Zeitenwende«, vom »Ende des Westens, wie wir ihn kennen«.3 Die Bundeskanzlerin kam, weil die deutschamerikanische Freundschaft ihr ein »Herzensanliegen« ist, erst Ende Mai zu dem Ergebnis: »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sind ein Stück vorbei, das habe ich in den letzten Tagen erlebt.«4 Wobei die charakteristische Formulierung »ein Stück (weit)«, die die Aussage abmildern sollte, leider nicht ins Englische übersetzt werden kann, weshalb die Aufregung darüber in den USA groß war. Joschka Fischer hat dann Ende Juli noch einmal in dieselbe Kerbe gehauen: »Wir sind auf uns gestellt.«5 Er hat darauf hingewiesen, dass es ausgerechnet die Gründungs- und Garantiemächte des Westens seien, die diesen Westen und seine Einheit jetzt infrage stellen.6 Ein zwingender Grund für diese »Selbstzerstörung des Westens« sei ihm bisher nicht eingefallen.

      Nun wird es einen zwingenden Grund wohl auch nicht geben, weil in der menschlichen Geschichte nun einmal Entscheidungen eine große Rolle spielen. Aber nach den Gründen oder zumindest Hintergründen müssen wir natürlich fragen, das ist sogar sehr dringlich, wenn wir selbst die richtigen Entscheidungen treffen wollen.

      Bevor ich darauf komme, möchte ich zunächst noch an andere Umbrüche erinnern, um die Bedeutung des derzeitigen zu verdeutlichen. Wir können durchaus an die Wende von 1989/90 denken, also das Ende des sogenannten realen Sozialismus und die Wiedervereinigung. Damals traf die Umwälzung den Osten, jetzt trifft sie den Westen, aber als wir Ostdeutsche Revolution machten und dann unseren großen Bruder verloren, waren wir durchaus nicht betrübt. Dagegen scheinen die armen Westdeutschen jetzt irgendwie traurig und ratlos zu sein, weil sie gar keine Veränderung wollen und ihren noch größeren Bruder tatsächlich geliebt haben! Diese Liebe wird von ihm nun enttäuscht. Wie hatte Habermas gesagt? »Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte.«7 Was soll aber nur aus dieser Leistung werden, wenn die politische Kultur des Westens verfällt?

      Nach 1989 ging es um die Verwestlichung des Ostens, um die Einführung von Marktwirtschaft und Demokratie. Geht es jetzt etwa umgekehrt um eine Veröstlichung des Westens, um mehr staatlichen Schutz und Autorität? Das ist durchaus möglich. Denn offensichtlich ist die totale Verwestlichung des Ostens nicht gelungen, und selbst wenn sie gelungen wäre, es also gar keinen »richtigen« Osten mehr gäbe, gäbe es ja auch keinen Westen mehr, weil West und Ost in ihrem alten Gegensatz nun einmal aufeinander bezogen sind.

      Gehen wir noch 10 Jahre weiter zurück, so kommen wir zur neoliberalen Wende von 1979/80. Mit ihr wurde zwar der Grund gelegt für den Sieg von 1989/90, man sollte aber nicht vergessen, dass ihr die tiefste Krise des Westens seit der Großen Depression vorausging, das Ende der »Goldenen« Nachkriegszeit, während die Sowjetunion sich in den 1970er Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Einflusses in der Welt befand, weshalb in dieser Zeit auch niemand ihren Zerfall für möglich gehalten hätte. Es ist bemerkenswert, dass auch damals England und die USA gemeinsam diese Wende eingeleitet haben, und zwar unter Rückgriff auf ihre spezifisch liberale Tradition und in Abwendung von der europäischen sozialstaatlichen Tradition. Es wird viel zu wenig beachtet, dass auch dieser Prozess bereits eine Distanzierung von Europa war, eine Art Liebesentzug, verbunden mit der Verschärfung des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion, gegen das »Reich des Bösen« (Reagan). Die Europäer hatten damals kein Interesse an dieser Zuspitzung, und die beiden deutschen Staaten schon gar nicht, weil sie im Falle eines begrenzten Atomkriegs zum Schlachtfeld geworden wären. Das ist von Margaret Thatcher auch ganz offen gesagt worden, und zwar mit derselben Begründung, die später von Linken gegen die Wiedervereinigung vorgebracht wurde, mit der ganz und gar illiberalen Kollektivschuldthese: Die Deutschen hätten ja den Zweiten Weltkrieg verschuldet. Der Westen war somit bereit, das »Land der Mitte« um des Sieges über den Osten willen zu opfern. Das entspricht wiederum sehr genau der neoliberalen Doktrin, denn bei Hayek gibt es in Bezug auf die innere Ordnung keine mittlere Position, nur ein Entweder-Oder.

      Damit zurück zur Frage nach dem Grund für die Selbstabdankung des Westens, die Joschka Fischer offengelassen hat. Vielleicht kann Fischer den Bruch deshalb nicht erklären, weil er wie viele westdeutsche Intellektuelle auf die Gemeinsamkeiten zwischen Angelsachsen und Deutschen fixiert ist und so die Differenzen gar nicht sehen kann. Liebe macht blind!

      Schauen wir auf die unmittelbaren Gründe für den Brexit, so ist doch klar, dass es für viele Engländer schwer zu ertragen ist, einer EU anzugehören, in der Deutschland einen derart maßgebenden Einfluss hat. Man spricht inzwischen wieder von einer deutschen »Halbhegemonie«, ein Begriff, den Ludwig Dehio schon auf das Wilhelminische Reich angewandt hatte.8 Dem Land, das die Briten in zwei Weltkriegen besiegt haben, sollen sie sich jetzt mehr oder weniger unterordnen? Genau deshalb haben sie es doch bekämpft,