nicht mehr so leicht in die Hängematte legen; und ich – ach, ich bin wohl auch nicht sein rechtes Kind: wie hätten wir sonst, kaum dass er tot war, den ganzen bürgerlichen Boden unter den Füßen verlieren können? Denn das taten wir doch ...«
Lola sah sich im Zimmer um.
»So sieht’s überall aus, wo wir kampieren. Und ich sitze auf einem Koffer. Nie kommen die Koffer aus den Zimmern, und sind immer nur halb ausgepackt. Die Jahreszeit wird staubig, der Liebhaber fade: fort von hier! Wohin am Ende? Dort stehen die Ansichten von zu Hause, die Mai mitgebracht hat. Zu Hause! Wenn wir Lust bekämen, einen Ausflug dorthin zu machen, würde ich vor dem Blick auf Rio denken, dass er tatsächlich unvergleichlich schöner ist als der auf Neapel; würde von einem Hotel, wo alles wäre wie in diesem hier, auf Sehenswürdigkeiten ausgehen, die Hitze unerträglich finden und gelassenen Abschied nehmen. Etwas anderes wäre es vielleicht mit der Großen Insel; aber die Pflanzung ist verkauft ... Wohin also am Ende? Danach frage ich, scheint mir, zum ersten Mal. Fange ich etwa an, zu ermüden? Mais Kindernerven hab’ ich nicht grade. Aber das Ende bekommt wohl nur Interesse für mich, weil ich wissen möchte, wo das enden soll, was ich jetzt erlebe.«
»Sehen wir doch nach: geht mich der Mensch wirklich so viel an? Wäre er in Venedig noch so unentbehrlich, wie er’s hier in Barcelona ist? Die Grimani hat uns für Juli eingeladen. Oder was meine ich zu Paris? Das ist noch immer das Amüsanteste ... Ich glaube, es ginge.«
Eine junge Männerstimme ward hörbar. Lola erhob sich hastig.
»Nein, es geht nicht.«
Leicht vorgeneigt, mit fiebrigem Spiel der Finger an der langen Halskette, blickte sie auf die Tür. Es klopfte.
»Gehen Sie in den Salon, bitte. Ich komme gleich.«
Sie machte einige zornige Schritte.
»Warum muss ich auch grübeln! Jedesmal, wenn ich gegrübelt habe, bin ich schwach und gebe ihm dann Anlass, sich einzubilden, was doch nicht wahr ist ... O, heute Abend soll er keinen Vorteil davontragen!«
*
Sie hatte sich beruhigt und ging hinüber. Mit offenem Lächeln begrüßte sie den Besucher.
»Gnädiges Fräulein – da ist alles«, und er zeigte nach dem Paket auf dem Klavier. »Der Bote ist gleich mit mir gekommen.«
»Ist alles darin ... und wird es mir passen?«
Anstatt nach dem Paket zu sehen, betrachtete sie, und ihr Lächeln ward wider ihren Willen noch glücklicher, sein schönes, groß gemeißeltes, fast bartloses Gesicht, in dem die Brauen sich berührten. Auch er gebrauchte seine Worte nur als einen Vorwand, sie anzusehen.
»Ich bin überzeugt ... Es sind genau die Maße, die Sie mir genannt haben.«
Sie bewegte leise, wie verwundert, ihren lächelnden Kopf. Endlich, sich losreißend:
»Es ist gut.«
Rasch ergriff sie das Paket. Er stürzte sich darauf.
»Ich trage es Ihnen hinüber.«
»Doch nicht«, ihr Lächeln ward schlau. »Sie bleiben hier ... und ...«
Sie legte, unter der Tür, den Finger auf die Lippen.
*
In ihrem Zimmer zog sie die Männerkleider an, die Da Silva mitgebracht hatte. Sie verbarg die Brust in den Falten des weichen Piquéhemdes, das Haar unter der halblangen Jünglingsperücke, setzte den runden Hut auf, hängte das Stöckchen über den Arm und trat vom Spiegel zurück, um sich zu mustern. Da stand im gutsitzenden Abendanzug etwas wie ein eleganter Student, mit duftigen Gesichtsfarben und glänzenden braunen Augen, ein sanft verwegenes Lächeln auf den roten Lippen, und die jugendlich raschen Wendungen einer schicken Müdigkeit zuliebe ein wenig verhalten: ein Wesen von beunruhigendem Reiz.
»Aber wie bin ich schön!« sagte Lola einmal übers andere. »Ich bin keine Frau mehr! Jetzt erst sehe ich, wozu meine große Nase gut ist. Die hohe Stirn kommt mir jetzt auch zustatten. Ach! ich kann mir Pais Falte zwischen den Brauen machen. Ob Pai jemals so ausgesehen hat? Nicht ganz so, glaube ich. Der dort im Spiegel erinnert mich an eine Frau; aber nicht sehr lebhaft. Man wird denken: »Er muss eine hübsche Schwester haben.« Für ein verkleidetes Mädchen hält so leicht keiner ihn.«
Sie räusperte sich, führte zwei Finger an den Hutrand und sprach mit tiefer Stimme:
»Sie gehen in den Klub? Ich habe seit gestern Nacht keinen Heller mehr. Nachdem ich alles verspielt hatte, bin ich noch in die Schuld der Gelida gekommen.«
Dies gefiel ihr. Sie lief hinüber, und in der Tür des Salons begann sie sofort dasselbe:
»Sie gehen in den Klub? Ich habe seit gestern Nacht ...«
Da Silva hörte sie, ans Klavier gelehnt und die Stirn in Falten, bis zu Ende an. Er ließ sie näherkommen und sich wenden.
»Es ist ziemlich in Ordnung.«
Er warf noch die von Verachtung schweren Worte hin:
»Bis auf die Krawatte natürlich.«
»Also binden Sie sie mir!«
Er machte sich daran.
»Halten Sie’s so für besser gelungen?«
»Nein, von vorn kann ich’s nicht. Ich kann’s nur, wenn ich die Krawatte grade so halte wie bei mir selbst. So also, wenn Sie gestatten.«
Er trat hinter sie und schob die Arme über ihre Schultern. Seine Arme berührten sie kaum, und doch war sie darin eingeschlossen und spürte einen angstvollen Kitzel. Sie musste auf seine weißen, starken Hände hinabsehen, die gleich unter ihrem Kinn sich bewegten. Wie er den Knoten anzog, streifte seine Wange ihre Schläfe.
»Rascher!« verlangte sie, zwischen den Zähnen.
Er ließ los, ging um sie herum und sah ihr in die Augen. Die seinen hatten wieder das Düstere, Besinnungslose, das sie kannte, und das ihr so gefährlich war. Seine Zähne waren in die Unterlippe gedrückt. Da begann er unvermutet weich:
»Ihr Anblick tut mir weh! Nicht zwanzig Stunden sind’s, dass wir in diesem selben Raum beieinander waren, allein wie jetzt, und der Mond schien herein. Wir hatten musiziert, Ihre märchenhaften Alt-Töne waren verhallt, ich hatte mich in großer Bewegung vom Klavier erhoben, und den Kopf in der Hand betrachtete ich Sie, die Sie, ein Knie auf den Stuhlrand gestützt, das Gesicht nach dem offenen Fenster gewendet hielten. Ich war im Schatten, Ihre Gestalt entlang floss Mondlicht; es rann Ihnen über die Lippen, die sich, Ihnen unbewusst, voneinander lösten; es füllte Ihre Augen; – und mit der beglänzten Hand, die Sie mir überließen, zog ich zu mir hin, in mein Dunkel und an mein Herz, die ganze tiefe nächtliche Süßigkeit, die durch Sie atmete, o Lola!«
Der junge Brasilianer hatte beim Sprechen den Hals hin und her gerückt, wie ein vom eigenen Gesang berauschter Vogel. Nun stand er noch und hörte die Tenor-Arie seiner Sinnlichkeit ausklingen. Lola machte sich von seinem Gesicht los. Sie sah an ihrem Dress hinab – und erleichtert auflachend, warf sie sich ins Sofa.
»Nicht übel, mein Lieber. Etwas kitschig zwar, und auf ein modernes Mädchen werden Sie, fürchte ich, damit nicht wirken ... Sehen Sie, die Krawatte muss ich mir nun doch selbst binden!«
In der Tür zeigten sich der Herzog von Fingado und Herr Aguirre. Beim Anblick des Eindringlings blieben sie mit zurückhaltenden Mienen stehen. Lola versuchte ihre feindselig abwartende Haltung nachzuahmen: da platzte sie aus. Die beiden starrten sie an; dann wandte ihr der massige Vierziger mit angewiderter Miene den Rücken. Der unjunge Zwanziger überwand seinen Schrecken und machte, den spitzen, gelblich gefiederten Schädel herausfordernd im Nacken, zwei Schritte gegen den Feind. Lola lachte heftiger, und Da Silva klärte die Herren auf, die in Ratlosigkeit umschlugen und dann in Bewunderung. Aber hinter ihnen rauschte es, und Frau Gabriel brach, kaum dass sie ein wenig gestutzt hatte, in Jammern aus.
»Wie siehst du aus! Wer hat mir mein Kind so verunstaltet?