Heinrich Mann

Heinrich Mann: Zwischen den Rassen


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wollte noch einen Kuss von mir! Wie kann er fort sein, wenn ich ihm doch noch den Kuss geben soll!«

      Sie taumelte einmal um sich selbst und schlug, unsicheren Laufs, den Weg zum Hause ein. Mitten darauf blieb sie stehen, ließ die Arme fallen, senkte den Kopf; und die rinnenden Tränen wuschen ihr von den Lippen den Kuss, den sie nicht hatte geben dürfen.

      III

      Lola war allein.

      Sie weinte auf einer Bank, zusammengekrümmt, lange und wild. Das Fräulein stand anfangs dabei und flüsterte hier und da ein Trostwort, das fragend klang, als wisse sie es selbst nicht genau. Dann machte sie einige Schritte, sah sich wartend um, verschwand im Hause. Bald kam sie wieder und rief sehr munter, ob Lola diesen schönen Pfirsich möge. Als aber das Kind zornig den Kopf schüttelte und wilder schluchzte, zog das Fräulein sich so rasch zurück, als flöhe sie.

      Die Glocke läutete wieder, und Lola ließ sich fortführen, weil das Fräulein ihr sagte, nun würden die Mädchen kommen und sie weinen sehen. Das Fräulein öffnete die Tür zu ihrem eigenen Zimmer: da sprang kläffend ein kleiner weißer Spitz auf Lola zu, und Lola, die daheim vor Großpais riesigen Hunden keine Furcht gehabt hatte, wich mit einem Aufschrei zurück.

      »Ami!« rief das Fräulein und redete, zu ihm niedergebeugt, ernsthaft auf den Spitz ein. Es half nicht; das Kind und das Tier hatten sich gegenseitig erschreckt; und der Hund musste hinaus, – wo er winselte.

      Nun kramte das Fräulein in einem Schrank, zog ein großes buntes Buch hervor und hielt es Lola entgegen. Sie wollte Lola auf einen Schemel setzen; Lola glitt damit aus, griff um sich und warf ein Glas Wasser über die Handarbeit, neben der es gestanden hatte. Das Fräulein strich ihr die Wange und lächelte. Dann schlug sie das bunte Buch bei der ersten Seite auf; es war ein Affe darauf, ein Ast und noch mehrere Dinge; und wiederholte, auf den Affen zeigend, ein Wort: immer nur das eine. Zuerst beachtete Lola es nicht; dann merkte sie wohl, dass sie es nachsprechen solle: aber sie schwieg; und diese Rache für alles, was mit ihr geschah, tat ihr wohl. Trotzdem richtete das Fräulein seinen Finger jetzt auf den Ast und sagte dazu ein anderes Wort, viele Male. Sie führte Lola auch zu einem weißen Turm, der in einer Ecke des Zimmers ragte, und zu dem Schirm, der davorstand: darauf waren aus bunten Perlen eine Dame und ein Kind, und zu beider Füßen ein Tier, das Lola nicht kannte. Es schien ihr sanft, zärtlich, zum Zerbrechen sein; und seine großen Augen glitzerten, als seien sie voll Tränen. Mitleid durchschauerte Lola, mit dem Tier, mit sich selbst, – und da stammelte sie das Wort nach, das das Fräulein ihr schon längst vorsagte: »Reh«, und weinte, leise und ohne Trotz.

      Wie die Tränen gestillt waren, nahm das Fräulein sie mit zum Essen, an eine lange Tafel, wo viele Mädchen schwatzten und klapperten. Lola aß nichts, aus Traurigkeit; sie saß betäubt da, erschrak, wenn ihr Name genannt ward, und dachte, weh und wund: »Was wollt ihr alle? Was tue ich hier? Warum hat Pai mich nicht mitgenommen?« Nach Tisch ward sie in den Garten gebracht, aber sie schüttelte den Kopf und ging dem Fräulein nach, bis sie wieder im Zimmer und bei dem Reh war: denn das war hier ihr einziger Freund. »Reh, Reh«, flüsterte sie ihm zu. Das Fräulein küsste sie leise auf die Locken und ließ sie mit ihrem Kameraden allein. Als Lola später zu Bett gelegt werden sollte, hatte sie sich schon in Schlaf geweint.

      Beim Erwachen in heller Sonne fiel ihr als erstes das Reh ein; dann der Spitz Ami. Sie bedachte vieles Erlebte und auch, ob sie dies Zimmer schon kenne. Neugierig sah sie sich darin um. Noch ein anderes Bett stand da, aber es war schon verlassen. Sie ließ sich aus dem ihren gleiten und trippelte umher: da trat das Fräulein herein, hob Lola auf ihren Arm, zeigte sich auf die Brust und sagte mehrmals:

      »Erneste.«

      Lola hatte in ihrem rotgeschlafenen Gesichtchen große, aufmerksame braune Augen, die, auf den Mund des Fräuleins gerichtet, ganz leise seitwärts hin und her rückten; ihre blonden Locken hingen wirr geringelt, die leichten Linien ihrer Lippen fügten sich fein ineinander; und am Saume ihres Hemdchens streichelten sich ihre rosigen kleinen Füße. Sie äußerte nichts; aber als sie fand, das Fräulein habe genug »Erneste« gesagt, nickte sie bedächtig, zum Zeichen, dass sie verstanden habe.

      Sie bekam ihren Kakao, grub im Garten, ward, wie die Glocke geläutet hatte, von den Mädchen in einem Ringelreihen geschwenkt und dann wieder von Fräulein Erneste in das Zimmer des Rehes geholt. Der Spitz Ami knurrte nur, und er wedelte dabei. Lola sollte auch heute »Affe« und »Ast« nachsprechen. Sie tat es zerstreut, sah dabei immer das Reh an: sie hatte keinen Sinn für die Dinge, auf die Erneste sie jetzt noch hinzulenken wünschte; und nur zufällig bemerkte sie, dass es sich um die zweite Seite des bunten Buches handelte, und dass dort jedes Bild mit einer Marzipanscheibe bedeckt war. Nahm man sie weg, kamen darunter zum Vorschein: ein Baum, ein Bäcker, ein Bottich. Sie erlernte diese Worte in großer Eile, um zu erfahren, was auf der dritten Seite wäre.

      Von diesen Erlebnissen, die sie interessiert hatten, wollte sie bei Tisch – war nicht heute alles lustiger bei Tisch? – ihrer Nachbarin erzählen, einem Mädchen, dass nur wenige Jahre älter sein konnte. Sie erzählte ausführlich, die andere aber lachte nur und stieß eine dritte an. Lola, in Eifer, kam von dem Reh auf die Tiere daheim; sprach von daheim und von Nene und Mai. Plötzlich ward sie inne, dass alle still waren, zu beiden Seiten des Tisches, und sie ansahen: die meisten mit Neugier, einige spöttisch; – und keine, erinnerte sie sich nun, keine einzige hatte sie verstanden! Errötet, ratlos beschämt, sah sie die Reihen entlang, konnte, zitternden Gesichtes, die Tränen noch gerade hinunterschlucken und beugte sich mit einem kleinen einsamen Lächeln über ihren Teller.

      Nun kam eine Stunde, in der alles durchs Haus sprang und sang. Auch Lola sollte singen, sie tat nur so, als begriffe sie nicht. Da fasste aber Erneste ihre beiden Arme, und die Nase kraus vor Freundlichkeit und während alle umherstanden, sagte sie ihr mehrere Worte, deren jedes ungefähr klang wie »singen«: nur nicht ganz. Schließlich aber fand sie’s wirklich: singen; und da sang Lola. Sie sang näselnd: »Ihr Negerknaben meines Vaters ...«, schloss dabei halb die Lider und sah nun alles, was sie sang, sah die Heimat ... Noch wie sie schwieg, war sie aus dem Schwarm der auf sie Einredenden weit fort.

      Eine Weile darauf fiel ihr ein, dass sie dieses Lied einmal bei der deutschen Großmama gesungen hatte. Seltsam: an den Aufenthalt bei der Großmama hatte sie noch gar nicht wieder gedacht; ihr war, als sei sie von der großen Insel gradeswegs hierher verschlagen, und alles dazwischen war verworren wie ein Schiffbruch. Nun kam ihr eine Fratze in den Sinn, die der lustige Onkel einmal geschnitten hatte: und von da aus fand sie sich in allem wieder zurecht. Ach! Das war doch Lolas Großmama, denn Pai war ihr Sohn, und sie hatte ihn lieb. Eine aufzuckende Hoffnung: Ob Pai nicht bei ihr war? Dass Lola daran nicht früher gedacht hatte! Pai war nicht abgereist, er war bei seiner Mama! Lola ging zu Fräulein Erneste und sagte »Großmama«: nur das eine, bittende Wort; und Erneste verstand es, sie ließ Lola hinführen.

      Die Großmama breitete die Arme aus, Lola aber lief, ohne ihrer zu achten, um sie herum: »Pai! Pai!« – in sein Zimmer, in das Wohngemach, in den Garten: »Pai! Pai!« Sie kehrte von ihrer vergeblichen Runde wieder.

      »Wo ist Pai?«

      Die Großmama bedeutete ihr etwas, Lola wusste wohl, was, aber sie glaubte ihr nicht. Einer der Onkel kam, die Magd ward gerufen, und alle wiederholten dasselbe. Lola schüttelte nicht mehr den Kopf, aber ihre Meinung stand fest. Zuletzt erschien der lustige Onkel und wünschte ihr ›Guten Tag‹ in ihrer Sprache. Immer die zwei Worte, die er sich einst von Pai hatte ins Ohr sagen lassen. »Dummer Papagei«, dachte sie, und sie verlangte fort.

      Sie spähte in jedes Haustor, zerrte ihre Begleiterin in die Läden, die sie mit Pai besucht hatte, und auf einem leeren Platz, wo es wehte, blieb sie stehen und rief flehentlich »Pai!« Keins der trägen Fenster öffnete sich; es fror Lola bitterlich; und die Magd zog sie fort.

      Aber für das bunte Buch war sie nicht mehr zu haben, nicht mehr für den Garten und kaum noch für das Reh. Sie sah jeden mit Misstrauen an, der ein Wort zu ihr sprach: eins dieser unverständlichen Worte, deren Geräusch um sie her war. Zu Fräulein Erneste sagte sie: »das ist nicht wahr«, obwohl sie gar nicht wusste, was das Fräulein gemeint hatte; bei Berührungen brach sie in Geschrei