Alice Pavel nicht unsympathisch war. Eine intelligente Frau, zweifellos, und es war schließlich aller Achtung wert, daß sie sich, aus bescheidensten Verhältnissen kommend, mit eiserner Energie ihren Berufswunsch erfüllt hatte. Wie sie in der Wangenlinie und mancher Kopfbewegung doch Laura glich!
»Schmeckt Ihnen das, was meine Mami gekocht hat?« fragte Laura, die bis dahin weitgehend stumm geblieben war. Die unterschwellige Spannung war groß.
»Warum sagst du denn Sie zu mir, Laura? Du weißt doch, wer ich bin.«
»Meine Mutter, ja. Aber wenn ich Sie doch gar nicht kenne! Zu Fremden sage ich immer Sie.«
Da beugte Alice den Kopf tiefer über ihren Teller. Sie schwieg.
»Ihr werdet euch kennenlernen, wenn ihr nachher einen Spaziergang zusammen macht. Es ist doch so schön draußen.« Vera bemühte sich, möglichst leichthin zu reden. »Du kannst deiner Mutter ja mal das Haus zeigen, worin du so lange gelebt hast.«
Von diesem Spaziergang kam Laura allein zurück.
»Sie ist schon weitergegangen, Mama«, berichtete sie. »Ich glaube, sie wollte jetzt allein sein.« Und, nach einer kurzen Pause, sehr nachdenklich: »Sie hat geweint, wie ich ihr das Karolinen-Haus gezeigt habe. Nicht richtig laut, aber sie hat sich mehrmals die Augen gewischt, und ihr Gesicht war naß, das hab ich gesehen.«
Vera sorgte dafür, daß Alice und Laura noch öfter zusammenkamen. Sie fuhr sie auch einmal zu einem hübschen Ausflugsziel, ließ sie dort und holte sie erst später wieder ab. Ein anderes Mal waren Katrin und Claus da. Sie wußten Bescheid, und sie beäugten verstohlen die Fremde, während sie zusammen ein Spiel machten.
»Wenn sie nicht so altmodisch angezogen wäre und sich das Haar anders machen und ein bißchen anmalen würde, könnte sie ganz hübsch aussehen«, meinte Katrin später.
»Frau Pavel hat anderes zu tun, als sich anzumalen«, wies Vera ihre naseweise Nichte zurecht. Daß sie doch immer auf Äußerlichkeiten bedacht war, diese Katrin!
Bald kam der Tag, an dem Alice zu Vera sagte: »Ich fahre morgen heim, Frau Gerstner. Lauras Liebe gehört Ihnen. Sie sind die Mama für sie. Ich werde ihr immer eine Fremde bleiben. Deshalb muß ich gehen.«
»Es tut mir leid«, murmelte Vera. »Ich habe getan, was ich konnte.«
»Ja, das haben Sie, und dafür danke ich Ihnen. Daß Sie und Ihr Mann so gut sind zu meinem Kind und Laura es hier so wunderschön hat.«
Sie saßen auf der Terrasse an diesem warmen Maientag. Alice ließ ihren Blick über die blühenden Fliederbüsche, die bunten Beete mit den Frühlingsblumen schweifen, bevor sie fortfuhr: »Was könnte ich ihr dagegen schon bieten in unserem armen, geschundenen Land. Mein Verdienst ist gering, ich unterstütze meine Mutter noch davon. Sie ist alt und müde und soll nicht mehr in die Fabrik gehen.«
»Es geht nicht um das, was Sie ihr bieten können, Alice«, sagte Vera ernst. »Die hübschen Kleider, unser Haus, dieses ganze Wohlleben, das Laura nun hier hat, das alles ist nicht ausschlaggebend. Sie hängt mit ihrem ganzen Herzen an uns, und wir haben sie lieb. Das ist es, weshalb man Laura nicht den Boden fortnehmen sollte, darin sie Wurzeln gefaßt hat.«
»Sie haben recht. Laura soll ein glückliches Kind bleiben.« Damit stand sie auf. »Es war schon viel, daß ich sie gesehen habe und Stunden mit ihr verbringen durfte. Davon werde ich zehren.«
Sie gaben einander stumm die Hand, und sie sahen sich an. Vera hatte den Ausdruck von Leere und Verlorenheit, die jetzt in Alices Augen waren, schon einmal gesehen. Hatte sie an jenem Tag gesehen, als die Frau vom Karolinen-Haus Laura mit sich fortzerrte und das Kind sich noch einmal nach ihr umsah…
»Kommt sie nicht mehr wieder?« fragte Laura, als Vera ihr sagte, daß ihre Mutter zurück nach Rumänien wollte.
»Nein«, preßte Vera hervor. Obwohl sie froh und erleichtert sein sollte, bebte Erschütterung über dieses Frauenschicksal in ihr nach.
Scheu sah Laura sie an. »War sie sehr traurig?«
Vera zögerte. »Sie weiß, daß du lieber bei uns bleibst«, wich sie aus.
»O ja, Mama!« Laura schlang die Arme um Veras Hüften. »Das wäre ganz schlimm gewesen, wenn ich von euch weg und nach Rumänien gemußt hätte!« beteuerte sie leidenschaftlich.
*
Im Spätsommer war es, und es roch schon ein wenig nach Herbst, als Vera und Edgar ihren 10. Hochzeitstag hatten. Für den Abend hatten sie Jenny und Dieter eingeladen. Sie waren sich sehr nahe nach einem gemeinsam verbrachten Urlaub mit Katrin, Claus und Laura. Ein geräumiges Ferienhaus an der Ostsee hatten sie gemietet und fröhliches Strandleben genossen.
»Auf euch!« sagte Dieter Sasse herzlich, als der Champagner in den Gläsern perlte. »Daß ihr glücklich bleiben möget bis zu eurer Goldenen Hochzeit und länger!«
»Danke! Den Wunsch geben wir an euch zurück«, lachte der Hausherr, und sie stießen darauf an.
Vera bemerkte, wie Jenny und Dieter sich in die Augen sahen, als sie die Gläser zurücksetzten. Diese beiden hatten zu einer neuen, tiefen Verbundenheit gefunden. Sicher war der Weg schwer gewesen, aber ihr Schwager hatte eingesehen, daß auch er nicht ganz unschuldig an Jennys tiefem Fall gewesen war.
Ach, es war vorbei!
Sie stand auf, um die Kerzen im Leuchter anzuzünden, deren goldene Flämmchen den Glanz in ihrer aller Augen noch vertiefte.
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