Er näherte sich ihr mit der Miene eines Mannes, der das große Los gezogen hat.
Sie küßten sich.
Er bestellte sofort Krimsekt und fummelte an ihr herum. Es war eine Szene wie aus einem Bilderbuch oder besser: aus einem Comic-Strip.
Aber Metzler war seiner Beurteilung nach einer der besten Gehlen-Leute überhaupt. Er stammte noch aus der Zeit der Nescafé-Agenten und Chesterfield-Spione, und sicher hatte er seine Haut nicht nur für ein paar lumpige Carepakete zu Markte getragen. Nach dem Zusammenbruch war die Wildwuchs-Spionage in der sowjetischen Besatzungszone vorübergehend zu einer Art Volkssport geworden. Viele Deutsche hatten sich angewöhnt, in den Engländern die Gentlemen, in den Amerikanern die Halbstarken und in den Franzosen die Hungerleider unter den Siegermächten zu sehen, die Rotarmisten aber nach wie vor als Feinde zu betrachten. Sie konnten sie nicht leiden, sammelten Informationen über die Verbände der Roten Armee wie Zigarettenkippen und brachten sie an den (Gehlen-)Mann. Und wenn sie genügend Stummeln aufgelesen hatten, konnten sie sogar wieder Aktive rauchen. Freilich, die Zeiten dieser Untergrund-Idylle waren vorbei. Wer jetzt zwischen den Machtblöcken herumturnte, kannte sein Risiko, mußte es kennen – außer, er trüge auf zwei Schultern.
Metzler galt als Idealist, als glasklarer Feind des Kommunismus, wenn er dies auch vielleicht ein wenig zu laut und zu häufig beteuert hatte. Das war vom fachlichen Gesichtspunkt aus ein Manko, durch das ich auf ihn aufmerksam geworden war. Gefühle sind in diesem Metier abzuschalten. Gefühle sind, wenn überhaupt, allenfalls als Freizeitbeschäftigung erlaubt. Sie gehören nach Teneriffa, Hawaii oder auf die Bermudas, aber keinesfalls in den mitteldeutschen Untergrund. Emotionen verzerren die Optik. Deshalb können ja auch viele Chirurgen, die Hunderte erfolgreicher Eingriffe hinter sich haben, die eigene Frau nicht operieren; das Gefühl macht ihre Hand unsicher, lähmt ihre Entscheidung.
Soweit die psychologische Seite – aber es gab auch noch eine andere Betrachtungsweise. Stammtischreden, am falschen Ort gehalten, sind nicht nur gefährlich, sondern oft auch faul. Als eifrigste Anhänger des SED-Regimes treten zum Beispiel meistens DDR-Bürger auf, die demnächst über Nacht unter Zurücklassung ihrer Habe sang- und klanglos verschwinden. Menschen, die die rote Attitude als Tarnung wählen.
Das läßt sich natürlich auch umgekehrt betreiben.
Endlich brachte der Ober den Kaffee. „Scheiße“, sagte er und deutete auf den Nebentisch: „Ihr Scheich is jekommen.“
„Treiben sich die beiden hier öfters herum?“ fragte ich ihn beiläufig.
„Nee“, antwortete der Ober. „Ick hab die noch nie jesehen.“
„Sind bei euch noch Zimmer zu haben?“
„Sieht schlecht aus“, erwiderte er, „aber wenn’ Se unser’m Objektleiter ’n paar von Ihren Glimmstengeln spendieren, wirkt das Wunder.“
Ich spendierte dem Ober noch einen für den eigentlich überflüssigen Tip.
Er ließ sich nicht lumpen. „Seh’n Se zu, daß Sie ’ne ungerade Nummer bekommen, diese Zimmer jeh’n nach vorne raus. Hinten is ’ne Baustelle, die arbeiten dort ooch nachts.“
Ich ging an die Rezeption, legte die „Stuyvesants“ wie zufällig auf den Tisch. Ich brauchte keine Hemmungen zu haben. Westdeutsche, sogar amerikanische Zigaretten waren in jedem „Exquisit-Shop“ zu haben, freilich nur für Leute mit sehr viel Geld, für Handwerker also, für Schieber, Parteibonzen, Agenten oder Privilegierte mit hilfreicher Verwandtschaft im Westen.
Der Mann sah mehr auf das Päckchen als in mein Gesicht, jedenfalls hatte er begriffen.
„Eine Nacht nur“, sagte ich. „Höchstens zwei.“
Schon bevor der Portier nach dem Schlüssel griff, stellte ich fest, daß er mir das Zimmer Nr. 702 geben wollte. Immerhin auf der selben Etage wie Metzler. Ich schob das Päckchen noch ein bißchen näher an ihn heran, so daß er sehen konnte, daß es noch mindestens sieben oder acht Zigaretten enthielt.
„Vorne hinaus hätten Sie wohl nichts mehr“, versuchte ich mein Glück. „Ich schlafe schlecht und habe morgen eine ganz wichtige Parteisitzung.“ Ich zückte meinen Funktionärs-Ausweis.
Der Portier betrachtete ihn lustloser als meine anderen Fürsprecher; er warf einen Blick in das Gästebuch. „Aber nur für eine Nacht, Genosse Stenglein“, brummelte er, schob die „Stuyvesant“ ein und gab mir den Schlüssel für Zimmer Nr. 707.
Ich bedankte mich durch ein Kopfnicken und fuhr mit dem Lift hoch. So oder so würde mir eine aufregende Nacht bevorstehen. Ich wusch mir die Hände. Ich hatte nur eine kleine Tasche bei mir. Mein konspiratives Gepäck war im Kofferraum des „Trabant“ verblieben. Würde es gefunden, hätten die SSD-Leute noch lange nicht mich. Griffen sie mich, lägen die Beweise für meine Untergrundtätigkeit im Auto. Einen Zusammenhang zwischen dem Wagen und mir konnten sie nicht herstellen. Ich hatte peinlich darauf geachtet, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
Ich ging wieder nach unten, trat in den strömenden Regen hinaus und stellte fest, daß Metzler in einem alten Vorkriegs-„Kadett“ mit Berliner Nummer angereist war; das Prachtstück stand neben dem Eingang, ziemlich genau unter meinem Fenster. Ich konnte es leicht im Auge behalten, aber es sah nicht aus, als wollte der Verfolgte nächtliche Spritztouren unternehmen.
Ich ging in den Speisesaal. Der Ober reichte mir die Karte. Darüber stand: Essen Sie aus Anlaß der Woche der deutsch-sowjetischen Freundschaft Filet Stroganoff. Man lernt nicht aus. Dieser Stroganoff muß ein Russe gewesen sein.
Ich grinste und bestellte es.
„Stroganoff ist aus“, sagte der Kellner grob. „Aber wenn Sie etwas für die Verbesserung unserer Beziehungen mit den russischen Freunden tun wollen“, erwiderte er ernsthaft ohne eine Spur von Humor, „nehmen Sie Borscht.“
Sie saßen hinten links in der Ecke und verschlangen einander mit den Blicken, während sie aßen. Die zweite Flasche Krimsekt stand am Tisch. Ich wettete mit mir selbst, daß Metzler eine dritte aufs Zimmer hochschikken ließe. Ich gewinne meistens, wenn ich mit mir selbst wette.
Sie machten es mir leicht.
Ich ging nach oben.
Sie folgten wie gewünscht.
Es war nur eine dünne Sperrholzwand zwischen unseren Zimmern, so daß ich beinahe jedes Wort und jedes Geräusch mitbekam, obwohl sie das Radio eingeschaltet hatten. Ich erfuhr als erstes, daß Metzlers vollsaftige Dreißigerin eine späte Tochter August des Starken sein mußte, des Liebesmonarchen, der gesagt haben soll: „Wir Sachsen sind ein kleines, aber geiles Volk.“
Sie alberten miteinander, und ich hoffte, daß ich mich in gleicher Situation etwas interessanter benehmen würde. Der Dialog war lächerlich, aber jedenfalls mehr sexuell als subversiv. Dann machten sie mich zum Voyeur wider Willen, und ich erinnerte mich an das Dichterwort: „Und die Sächsin wirtschaftet, bis das Bett kracht.“ Ich fragte mich, von wem es stammte, es fiel mir nicht ein.
Ich starrte zum Fenster hinaus, auf den jetzt leeren Platz vor dem Hotel. Eine gepflegte Anlage wurde durch ein häßliches Transparent verunstaltet: Ewige Freundschaft mit der Sowjetunion – das ist der Herzschlag unseres Lehens.
Die DDR ist nicht arm an solcherlei Sinnsprüchen. Mochten sich seit dem Einmarsch der Roten Armee die Verhältnisse in Mitteldeutschland konsolidiert haben: Die Vergewaltigung der deutschen Sprache gehörte weiterhin zum schlechten Ton.
Auf einmal wußte ich, daß das Wirtschafterinnen-Zitat von Kurt Tucholsky stammte. Es änderte nichts daran, daß ich allein war und mir mit zunehmenden Pausen vorführen lassen mußte, wie stürmisch die Zweisamkeit sein kann.
Für mich war der Fall erledigt. Es war nicht meine Sache, herauszubekommen, wer Metzler diese mobile Puppe ins Bett gelegt hatte. Selbst wenn sie für das „Ministerium für Staatssicherheit“ arbeitete, war sie jedenfalls voll bei der Sache. Einer von Pullachs Top-Agenten hatte sich einen Verstoß gegen die lebenserhaltenden Regeln des Untergrunds erlaubt. Das war bedauerlich, aber vielleicht auch unvermeidlich.
Wir