Hugo Bettauer

Die freudlose Gasse


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und nichts hat sich gerührt. Ein paar Minuten vor zehn bin ich zu der Zimmertür hingegangen und habe geklopft, aber keine Antwort bekommen. Immer wieder habe ich geklopft und schließlich sogar mit der Faust auf die Türe geschlagen, aber es hat sich nichts gerührt. In meiner Angst bin ich dann zur Hausmeisterin gelaufen, die hat einen Polizeimann geholt und der Schlosser aus dem Nebenhaus ist gleich mitgekommen.“

      Frau Merkel begann wieder zu schluchzen.

      „Der fremde Herr muß die Türe hinter sich abgesperrt und den Schlüssel mitgenommen haben. Der Schlosser hat aber mit einem Haken gleich öffnen können. Es war finster im Zimmer und wie ich das Licht aufgedreht habe, bin ich beinahe vor Schrecken umgefallen, denn auf dem Bett lag die Leiche.“

      Frau Merkel konnte nun abtreten und der Polizeipräsident gab dem Journalisten weitere Erläuterungen.

      „Der Polizeiarzt, Dr. Schimmel, war gleichzeitig mit uns um halb elf Uhr hier. Bitte, Herr Doktor, sagen Sie nochmals, was Sie festgestellt haben.“

      Der Arzt strich seinen graumelierten Bart zurecht, nahm ein Blatt Papier, das er mit Notizen vollgekritzelt hatte, zur Hand und sagte:

      „Vor mir lag die Leiche einer Frauensperson von etwa 22 bis 25 Jahren. Der Tod konnte nicht früher als vor zwei Stunden, nicht später als vor anderthalb Stunden eingetreten sein, also zwischen neun und halb zehn Uhr abends. Der Tod ist zweifellos gewaltsam durch Erdrosselung herbeigeführt worden. Eine kräftige Hand scheint ohne vorhergegangenen Kampf der Frau den Kehlkopf zerdrückt zu haben. Nach gewissen Feststellungen, die ich machen konnte und deren Richtigkeit die Obduktion der Leiche zu erweisen hat, ist der Ermordung eine Liebesumarmung vorangegangen. Das wäre alles, was ich bei oberflächlicher Untersuchung feststellen konnte.“

      „Welche Theorie haben die Herren?“ fragte der Journalist nach einer Pause.

      Hofrat Schmitz ergriff das Wort.

      „Am naheliegendsten ist wohl die Vermutung, daß es sich um die Tat eines Perversen, um einen Lustmord handelt, obwohl nach den bisherigen Erfahrungen Lustmörder auf Blutvergießen ausgehen, was hier nicht der Fall ist. Auf dem Tisch hier lag das goldene Täschchen, das zweifellos Eigentum der Ermordeten ist. Da sich in ihm nur ein Spitzentuch, aber keinerlei Geldbetrag gefunden hat, ist auch die Annahme eines Raubmordes zulässig. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß eine Dame Geldbeträge in einer Höhe bei sich trägt, die einen so komplizierten und vorbereiteten Raubmord rechtfertigen würden.“

      Einer der Unterbeamten, ein noch junger Mensch mit intelligenten Gesichtszügen und guten Manieren, trat vor, räusperte sich und sagte:

      „Gestatten die Herren, daß ich eine Bemerkung mache. Eine Dame, die so kostbare Pelze und Kleider trägt und, wie der Herr Redakteur vorhin mitteilte, eine große Abendgesellschaft hätte besuchen sollen, wird doch sicher Schmuck bei sich gehabt haben. Bei der Leiche wurde aber nicht ein einziges Schmuckstück gefunden!“

      Polizeipräsident und Hofrat nickten beifällig und letzterer sagte:

      „Sehr richtig, Herr Horak, gut beobachtet. Wir werden also heute noch durch das Dienstpersonal der Ermordeten feststellen müssen, was Frau Leid an Schmuck bei sich gehabt hat.“

      Lebhaft erklärte Demel:

      „Ganz sicher ihre wunderbare Perlenschnur! Doktor Leid, der ja aus sehr reichem Hause stammt, hat sie von seiner Mutter geerbt und diese von einer Großtante, die sehr schön gewesen war und die Perlen aus England als Geschenk eines indischen Fürsten mitgebracht hatte. Vor einigen Monaten hat ein Juwelier die aus großen, erlesenen Perlen bestehende Schnur auf hunderttausend Dollar, das sind sieben Milliarden Kronen, geschätzt. Außerdem pflegte Frau Leid auch anderen sehr wertvollen Schmuck zu tragen, den ihr Gatte ihr im Verlaufe der Ehe geschenkt hat.“

      Der Polizeipräsident und der Chef der Sicherheitspolizei tuschelten miteinander, dann erklärte der letztere, daß nunmehr die Theorie eines Lustmordes fallen gelassen werden könne. Es müsse nur schleunigst festgestellt werden, was Frau Leid an Schmuck und Geld bei sich gehabt habe. Dies konnte bald geschehen, da inzwischen der Detektiv Horak, ohne erst einen Auftrag abzuwarten, mittels Automobils das Stubenmädchen der Frau Leid aus der Wohnung am Arenbergring hatte herbeiholen lassen. Das Mädchen, das angesichts der Leiche ihrer Herrin beinahe in Ohnmacht gefallen wäre und fassungslos zu schluchzen begann, gab, nachdem es sich ein wenig beruhigt hatte, folgendes an: Frau Lia Leid habe, als sie kurz vor sieben Uhr in einem herbeigeholten Autotaxi das Haus verließ, nicht nur die Perlenschnur, sondern auch fast ihren ganzen sonstigen Schmuck angelegt, so einen ungemein kostbaren Diamantring, einen Ring mit einem Smaragd von außerordentlicher Größe, einen Schmetterling, der aus achtzig schönen Steinen bestand, mehrere Nadeln und ein Armband, das der Herr Doktor zum Geburtstag der gnädigen Frau für dreihundert Millionen gekauft hatte. Als sie die gnädige Frau gefragt habe, ob dies nicht zu viel Schmuck auf einmal sei, habe Frau Doktor lachend erwidert: „Aber, Marie, haben Sie denn eine Ahnung, was für Protzen bei den Rosenows verkehren? Und außerdem, jemand, der mich sehr gern hat, liebt es, wenn ich viel Schmuck trage.“

      Die Herren wechselten bedeutungsvolle Blicke und der Chef der Sicherheitspolizei begann das Stubenmädchen einem Verhör zu unterziehen.

      „Sie müssen uns die Wahrheit sagen, dürfen nichts verschweigen. Die unglückliche Frau ist von einem Schurken ermordet worden, und wir alle haben das größte Interesse, ihn zu erwischen. Es kann dabei auf jedes Wort ankommen, das Sie sagen.“

      Marie weinte bitterlich in ihr Taschentuch hinein. „Die arme gnä Frau, sie war immer lustig und lieb. Und der gnädige Herr, der tut mir noch mehr leid, er hat ja die gnädige Frau so sehr geliebt. Bitt’ schön, Herr Polizeirat, fragen Sie nur, ich werde alles sagen, was ich weiß.“

      „Gut, das ist vernünftig. Also, haben Sie heute an Frau Leid irgend etwas Auffälliges im Benehmen bemerkt?“

      „Jetzt, wo das geschehen ist, fällt mir auf, daß sich die gnädige Frau, bevor sie weggegangen ist, mehr parfümiert hat als sonst und auch mehr in Eile war. Sonst ist es ihr nicht darauf angekommen, um eine halbe Stunde zu spät in die Oper zu kommen. Aber heute hat sie sich sehr getummelt.“

      „Glauben Sie, daß die Dame einen größeren Geldbetrag bei sich gehabt hat?“

      Marie dachte einen Augenblick nach.

      „Jawohl, ganz sicher. Da unser Auto in Reparatur ist, mußte die gnädige Frau mit einem Autotaxi fahren und im letzten Augenblick hat sie noch das Täschchen geöffnet, um nachzusehen, ob sie Kleingeld habe. Ich sah dabei in der Tasche eine ganze Rolle von Fünfhunderttausendkronen-Noten.“

      „Und nun überlegen Sie genau: Wissen Sie, ob und mit wem Frau Leid in letzter Zeit Beziehungen unterhalten hat? Es wird Ihnen, wie ich sehe, schwer zu antworten, aber gerade das ist das Wichtigste. Frau Leid ist in einem obskuren Absteigequartier, hier in diesem Zimmer, von einem Mann ermordet worden. Dieser Mann kann nur ihr Liebhaber gewesen sein. Wissen Sie, wer da in Betracht käme?“

      Wieder weinte Marie. Dann sagte sie entschlossen:

      „Die arme gnädige Frau! Wenn sie unrecht getan hat, so hat sie es mit dem Leben gebüßt. Also — ich glaube nicht, daß es die gnädige Frau mit der Treue sehr ernst nahm. Ich bin, seitdem die Herrschaften geheiratet haben, also seit drei Jahren im Haus. Vor drei Jahren hat es schon angefangen. Der erste war ein russischer Ingenieur, der jetzt wieder in Moskau ist, dann später ein rumänischer Attaché. Mit dem hat es fast ein Jahr gedauert, und wie er nach Paris gegangen ist, hat die gnädige Frau sehr geweint. Später kam dann ein ganz junger Sänger von der Volksoper oft ins Haus, Herr Kurmann. Ob sie etwas miteinander gehabt haben, weiß ich nicht, aber geküßt haben sie sich. Ich habe es selbst gesehen. Im Sommer, als die gnädige Frau nach Westerland gefahren ist, hat sie mir lachend gesagt: ‚Marie, ich bin froh, daß ich den Kurmann loswerde, er ist dumm wie ein echter Tenor. Na, und viel tüchtiger als mein Mann ist er auch gerade nicht!‘“

      Die Herren von der Polizei lächelten belustigt, Demel biß sich fast die Lippen wund. So also hatte die Frau vor ihrem Stubenmädchen über den betrogenen Gatten und den Liebhaber gesprochen! War das nicht überhaupt die moderne Moral jener Frauen, die