ist mit ihren Werken zum Mythos verschmolzen, mit Klischees beladen ist dieses prototypische Bild des Mädchens aus der Gosse, das zur berühmten Sängerin wird, wir sehnen uns nach diesen schmutzigen Pariser Straßen aus ihren Liedern, in denen man sich so schmerzhaft-schön verlieben und wieder trennen kann.
Paris war in der Literatur und Kunst schon lange vor der Piaf ein Mythos, Walter Benjamins Hauptstadt des 19. Jahrhunderts ein untergehender Stern, als Édith Giovanna Gassion anfing in ihren Straßen zu singen und dem Mythos von Paris ein neues Thema gab – und eine Stimme. Viele ihrer Lieder sind nah an ihr dran, aber rein autobiografisch ist natürlich keines. Glaubwürdigkeit konnte sie vor allem dadurch vermitteln, dass sie von Protagonisten ihres Milieus sang, Schicksalsgefährten, deren innerliche Zerrissenheit sie in ihren Auftritten mit kongenialer Gestik zum Leben erweckte. »Ein ganzes Volk, das von der Straße nämlich, erkannte sich in ihr wieder«, schrieb Paris-Match. »Sie gehörte genauso zu den Pflastersteinen von Paris wie das Ruckedigu der Tauben, der Heidenlärm der Müllmänner, die Schritte der Arbeiter bei Tagesanbruch und die unentschiedene Gehweise eines Passanten, der erst um zwei Uhr in der Frühe nach Hause geht.«
Unsterblich machte sie sich – auf der Grundlage ihrer unverwechselbaren Stimme und Performance – aber vor allem durch Legendenbildung, die erfolgreiche Verschmelzung von Person und Persona: Ihre Lebensgeschichte mag zweifelsohne eine Erzählung wert sein, aber die Boulevardpresse, Bewunderer, Neider und Édith Piaf selbst haben wohl zu ähnlichen Teilen dazu beigetragen, dass im Nachhinein niemand mehr Dichtung von Wahrheit zu unterscheiden vermag. Biograf Jens Rosteck nennt gleich vier bekannte Erzählvarianten von Édiths Geburt: Sie selbst erzählte nämlich mit Vorliebe davon, wie ihre Mutter mit ihr auf den Straßen von Paris niederkam, obwohl das Geburtsregister eine normale Krankenhausgeburt dokumentiert. Der Rest ist eine Mischung aus Sozialromantik, Künstlerroman und Film noir: Édith kommt 1915, im zweiten Jahr des Großen Krieges, zur Welt. Die Eltern stammen beide aus nomadisch lebenden Zirkusfamilien. Der Vater tritt als Schlangenmensch auf. Die Mutter verkauft Nougatriegel auf Jahrmärkten und versucht sich als Gelegenheitssängerin. Für ein Engagement in Konstantinopel verlässt sie Édith früh, überlässt sie der Großmutter und den Bruder, noch ein Säugling, der Fürsorge. Die Oma mütterlicherseits hat einen Flohzirkus, die Oma väterlicherseits ein Bordell. Als Édith etwa drei Jahre alt ist, nehmen sich »Maman Tine« und ihre »Mädchen« dem stark verwahrlosten Kind an. Wegen einer Augenentzündung droht sie zu erblinden. Dem Mythos zufolge bringt erst eine Pilgerfahrt zur heiligen Thérèse von Lisieux die Heilung. Noch in späteren Jahren wird Édith tiefgläubig bleiben und regelmäßig Kerzen zu Ehren ihrer Schutzheiligen entzünden. Als Siebenjährige geht sie mit ihrem Vater auf Wanderschaft. Irgendwann ist der Vater zu alt für seine artistischen Nummern und Édith singt auf der Straße. Nach Jahren unter Kleinganoven, Zuhältern und Dirnen ist die kleine zierliche Zwanzigjährige längst keine Unschuldige mehr, als der Nachtclubbesitzer Louis Leplée sie schließlich entdeckt. Wegen ihrer Körpergröße von kaum 1,47 Metern gibt Leplée ihr den Namen »La Môme« – die Göre/ der Fratz und »Piaf« – Pariser Slang für Spatz: Als La Môme Piaf feiert sie erste Erfolge vor einem echten Konzertpublikum. Ein kalkulierter Skandal-Erfolg: Das Stimmwunder von der Straße verleiht den ausgewählten Balladen die nötige Prise Sozialrealismus.
Aus der Retrospektive scheint ihr Ruhm ab einem gewissen Punkt nicht mehr aufzuhalten, gleichzeitig fasziniert ihre Ausdauer und enorme Widerstandskraft: Ein Mordverdacht, unglückliche Männergeschichten, Todesfälle, Morphium- und Alkoholsucht, Entziehungskuren, körperlicher Verfall – immer wieder öffnet sich der Vorhang für Édith.
Keine vierzig Liedtexte ihres umfangreichen Repertoires hat Édith Piaf selbst verfasst.
»Ich wälzte mich in meiner Dummheit wie ein kleines schmutziges Tier im Schlamm, und ebenso gefiel ich mir in der Hässlichkeit«, schreibt sie in ihrer Autobiografie. »Je blöder die Chansons waren, desto hässlicher kam ich mir vor und desto zufriedener war ich. Ich empfand eine Art übler Freude am Zerstören, am Zerstören meiner selbst und am Besudeln alles Schönen.«
Darunter ist nur eins, das einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat: »La vie en rose« (1946) entwarf sie angeblich auf einem Tischtuch, um eine befreundete Sängerin aufzuheitern. Marianne Michel aber floppte mit einer ersten Version des Titels. Auch benötigte Édith einen Paten für die Musik, jemanden, der sich als Komponist ausgab, da sie bei der französischen Verwertungsgesellschaft Sacem nicht als Tonsetzerin angemeldet war (und auch nie Noten lesen konnte). Aber viele Musiker wollten mit dem banalen Liedchen nichts zu tun haben – erst im Nachhinein sollte eine ganze Reihe Männer einen Teil der Urheberschaft für sich beanspruchen. Multiple Autorenschaft oder nicht, der Titel wurde zu ihrem ersten Welthit und ist bis heute auch in unzähligen Interpretationen bekannt.
Bemerkenswert ist auch die fast dreißigjährige Zusammenarbeit mit der Komponistin Marguerite Monnot, von der die Melodien etwa zu »Mon légionnaire« (1937), »Hymne à l’amour« (1950) oder »Milord« (1959) stammen. »Ein derartiges weibliches Künstlergespann ist damals selten«, schreibt Charles Dumont. Schließlich: »Non, je ne regrette rien« (1960) – die Entstehungsgeschichte kann man in Rostecks Biografie nachlesen. Édith Piaf rettet mit dem Jahrhundertsong das Pariser Olympia-Theater vor der Schließung und brennt sich als die Unzerstörbare in das kollektive Gedächtnis ein.
Als Édith Piaf im Oktober 1963 im südfranzösischen Placassier stirbt, schmuggeln ihre Gefährten den Leichnam in einem Krankenwagen nach Paris. Es war Édiths Wunsch, in Paris zu sterben. Ein Arzt fälscht den Totenschein. Ein letztes Mal mussten andere für sie flunkern, damit die Geschichte ein rundes Ende hat.
Jasper Nicolaisen
Hildegard Knef
• ERSTE SHELLAC 1952
Hildgard Knef, puh, nee. Weiß ich wenig drüber. War das nicht, war die. Hieß sie nicht eigentlich Hildegarde Neff? Oder Neft? War sie nicht nackt in einem Film nach dem Krieg? Sang sie nicht für Nazis, gegen Nazis, war sie nicht blond und blauäugig, wollte sie nicht keinen Fuß mehr auf deutschen Boden setzen, war dies nicht Marlene Dietrich? Sang sie nicht Schlager? Sprach sie nicht überwiegend Französisch oder Schwedisch, fuhr sie nicht mit Autos durch Italien? Heiratete sie nicht einen Filmmogul, der sie in Amerika groß herausbrachte, eroberte sie nicht Hollywood? War sie nicht Zeitgenossin Rainer Werner Fassbinders, saß sie nicht auf Gottschalks Sofa, gehörte sie nicht zum »Inventar der alten Bundesrepublik«? Wollten wir nicht nichts mit ihr zu tun haben? Vermengte sie nicht Jazz und Pop und Radioswing mit deutschen Texten, war sie nicht eine weibliche Harald Juhnke? Sollte es nicht für sie rote Rosen, sollte es nicht Acid regnen für sie? Trat sie nicht in Form einer Punkband in einem Film über die erste schwule Liebe auf, sagte sie nicht mit siebzehn still ich will nie lügen, betrügen? War sie nicht überhaupt selber schwul? Schrieb sie nicht eine Autobiografie mit dem Titel der geschenkte Gaul? Sollten wir ihr nicht nicht ins Maul schauen? Haben wir dies nicht auch nicht getan? Kannten wir sie überhaupt? Kennen wir sie überhaupt? Sagte nicht Karl Lagerfeld über sie, die war nie in Paris, die kennen wir hier nicht? War sie nicht nach heutigen Maßstäben zu dick, war sie nicht eine Ikone der Schönheit? Kam sie nicht im tiefsten Winter zur Welt, hat dreimal geniest, sich müde gestellt, war der Vater nicht wütend, er wollte einen Sohn, sie sah sich so um und wusste auch schon: von nun an geht’s bergab? Haute nicht nichts sie um, aber wir? War sie nicht bekannter als Rammstein, bevor Rammstein kam? Hatte sie nicht Heimweh nach dem Kurfürstendamm? Verebbte nicht ihre Kraft, umflutete sie nicht Angst? Erstickte sie nicht die Nacht, erschreckte sie nicht der Tag? Schoss er ihr nicht einen Ring aus Aluminium und eine Rose aus Papier? Glaubte sie nicht, nie eine Dame werden zu können? Wurde sie nicht von Heike Makatsch verkörpert?
Hildegard Knef, 1969
Sie möchte noch ein wenig reden. Wir müssen nur zuhören und auch nichts verstehen.
Wer Pop liebt, wer vielleicht sogar vom Punk kommt, der hat für Hildegard Knef nichts übrig – es sei denn Extrabreit, mit denen Knef noch sang, gelten als Punk, oder man