ihr Gesicht ein seltener Falter, den er jetzt noch bewundern, aber im nächsten Moment aufspießen würde. Er hieß Lambert Schulte-Bückendorf und war, was man im Münsterland früher einen Pohlbürger nannte. Aus alteingesessener Familie stammend. Oder was man so alteingesessen nennt. Jedenfalls lebten die Schulte-Bückendorfs in Herten und Umgebung, soweit die Erinnerung der Ältesten zurückreichte. In einer Gegend, in der während der Industrialisierung buchstäblich kein Bach in seinem Bett blieb, hieß das: Die Bückendorfs besaßen hier Ländereien, als die Schlotbarone kamen und die Preußen Kanäle ausheben ließen. Seit der Invasion der Montanindustrie in die zuvor nicht besonders wertvollen Auen zwischen Lippe und Emscher galten die Bückendorfs – aus denen irgendwann im späten 19. Jahrhundert die Schulte-Bückendorfs wurden, dank einer für beide Seiten vorteilhaften Liaison zwischen Landbesitz und Jungunternehmertum – als wohlhabend. In einer Gesellschaft, deren Zusammensetzung seither in jeder Generation mächtig durchgeschüttelt wurde, haftete ihnen deshalb etwas Patrizierhaftes an. Ein Hauch von Buddenbrook.
So wollte Emma die Geschichte anlegen: als Saga der Buddenbrooks von Herten. Das hatte sie mit Tanja so besprochen. Tanja fand die Idee Klasse. Sie hatte gekichert: »Aber wer ist dann Lambert? Hanno Buddenbrook? Ob ihm das gefällt?« Tanja hatte prüfend die Lippen gespitzt und die Augen halb geschlossen, als schmeckte sie dem Abgang eines Trollingers nach.
Jedenfalls schien Emma diesem Hanno namens Lambert zu gefallen. Oder nein, verstand sie: Lambert gefällt sich selbst, weil er denkt, mein Erröten gelte ihm. Was ihren Ärger über sich selbst und darüber, dass sie diesen Auftrag angenommen hatte, nur noch weiter steigerte. Vermutlich glühte ihr Gesicht jetzt feuerrot.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?« Lambert Schulte-Bückendorf griff, ohne Emmas Antwort abzuwarten, zu einer grünen Flasche San Pellegrino, schraubte den Deckel auf, als entkorke er Champagner, goss gefühlvoll ein zartwandiges Wasserglas zu zwei Dritteln voll und reichte es ihr über den Schreibtisch hinweg. Wenn man denn von Schreibtisch sprechen konnte. Das Silbertablett mit Wassergläsern stand am Rande einer ausladenden Schieferplatte. Die wiederum ruhte auf einem Chromgestell und wirkte auf unterkühlte Art protzig, fand Emma. Sie hatte nicht um das Wasser gebeten, nahm es jetzt dennoch, bedankte sich artig, indem sie ihrem Gastgeber lächelnd zunickte, und führte das Glas zum Mund. Sie war sich bewusst, auch wenn sie nicht hinsah, dass ihr Interviewpartner auch jetzt jede ihrer Bewegungen und Regungen registrierte. Eigentlich wäre das mein Job, schalt sie sich: eigentlich sollte ich hier beobachten und zwar ihn. Was wird das hier eigentlich: ein Interview oder Anmache? Hält der Kerl sich für Mister Unwiderstehlich? Und mich für ein Mäuschen, das er mal eben zwischendurch vernaschen kann?
Statt die Frage nach dem Erfolgsrezept zu wiederholen, hörte Emma sich plötzlich fragen: »Haben Sie eigentlich Fifty Shades of Grey gelesen?« Diese Sado-Maso-Schmonzette, die Geschichte einer Romanze zwischen Kater und Mäuschen, Gartenlaube trifft Folterkeller, war seit Wochen in den Bestsellerlisten und gerade frisch verfilmt worden. Emma lehnte sich auf ihrem Stuhl so weit zurück, wie der Kippmechanismus des zweifellos sündhaft teuren Stahlrohrmöbels es zuließ, und schlug die Beine übereinander, bedauernd, dass sie wie immer eine Jeans trug und keinen Minirock: das hätte Herrn Schulte-Grey-Bückendorf sicher noch mehr beeindruckt. Emma zielte mit der Bleistiftspitze notierbereit und klischeegerecht gen Reporterblock auf ihrem Schoß und gab ihrem Gesicht mit leicht geöffneten Lippen einen Ausdruck naiver Neugier.
»Nein.« Kurze Pause. »Sie?« Lambert Schulte-Bückendorf schien die Frage kein bisschen zu irritieren, so deplatziert sie offenkundig war in einem Recherche-Gespräch über die Firmengeschichte der erfolgreichsten Reifengroßhandlung der Emscher-Lippe-Zone. Die aufzuschreiben war Emmas Auftrag. Für die nächste Nummer der Lippe Revue. Das war ein vierteljährlich erscheinendes Hochglanzmagazin voller Anzeigen umrahmt von Texten, die aussahen wie journalistische Produkte. Sie handelten von tollen Künstlern, begnadeten Galeristen, wahnsinnig erfolgreichen Anwaltskanzleien und verantwortungsvollen Unternehmern; von »corporate citizens«, wie das auf Neudeutsch hieß. Also von jenen Leuten und Firmen, die für das Heft bezahlten. Tanja Dückers gab die Lippe Revue jetzt seit mehr als zwanzig Jahren heraus und lebte gut davon. So gut jedenfalls, dass sie arbeitslosen Journalisten wie Emma ein durchaus anständiges Honorar dafür bezahlte, Geschichten zu schreiben, die sich gut lasen, mit einer Prise Witz und Frechheit gewürzt, die dabei aber immer ein warmes, gütiges Licht auf die Region und ihre wohlhabenden Bewohner warfen. Die weniger oder gar nicht Wohlhabenden kamen in der Lippe Revue nicht vor, oder bestenfalls als Dekoration.
Emma ließ die Antwort auf Lambert Schulte-Bückendorfs Rückfrage offen und fragte stattdessen: »Hat Ihnen noch niemand gesagt, dass Sie dem Schauspieler in der Romanverfilmung ähnlich sehen?« Kein Stück sah dieser westfälische Reifenjungmogul aus wie Jamie Dornan, dieser All American Beauty Boy mit sagenhaftem Vermögen und ausgeprägtem Hang zum Sadismus aus der Bestseller-Verfilmung, dessen plakatiertem Porträt derzeit nirgends zu entkommen war. Aber Emmas Gegenüber schien der Vergleich zu behagen. Ja, Schulte-Bückendorf schien sogar mühsam das Verlangen unterdrücken zu müssen, mit der Rechten über sein gewelltes rotblondes, schon etwas schütter werdendes Kopfhaar zu streichen. »Dann wären Sie ja – wie heißt die Heldin gleich – Anastasia?«
Emma sah schon die Schlagzeile zu ihrer Story vor sich: »Die geheimen Sado-Maso-Träume des Reifenbarons«. Das gäbe Gesprächsstoff! Emma beschloss, die SM-Variante der Firmengeschichte in jedem Fall zu schreiben, einfach so. Mal sehen, wie Tanja reagieren würde. Auf jeden Fall fühlte Emma sich jetzt schlagartig besser. Auch wenn ihr klar war, dass diese Geschichte nie das Licht der medialen Öffentlichkeit erblicken würde. Vermutlich würde die Schlagzeile lauten: »Alles läuft rund beim Reifen-Prinz«. Oder so ähnlich.
Aber warum nicht mal austesten, wie weit der Reifenprinz gehen würde? Emma senkte verschämt den Kopf – und hob ihn wieder an, sah Lambert Schulte-Bückendorf direkt in die Augen – nur um Sekundenbruchteile später den Blick wieder zu senken. Sie fand sich toll dabei. Fast filmreif. Schade, dass sie jetzt kein Selfie schießen konnte.
Schulte-Bückendorf lehnte sich vor und drückte auf eine Taste seiner Telefonanlage: »Frau Beiersdorf? Ich möchte in der nächsten halben Stunde nicht gestört werden. Von niemanden. Haben Sie verstanden?«
»Auch nicht vom Herrn Konsul?« Als der »Herr Konsul« wurde Lamberts Vater in der Firma tituliert, seit er im letzten Jahr aus dem »operativen Geschäft« ausgeschieden war und der Junior die Geschäftsführung übernommen hatte. Dieser Stabwechsel vom Reifenkönig zum – noch unverheirateten – Kronprinz war Anlass der großen Reportage, die zu schreiben Emma hergekommen war. Lambert Senior agierte derweil als Honorarkonsul von Thailand.
»Von niemandem.«
Emma wurde schlagartig klar, dass sie zu weit gegangen war. Der nahm ihr Rollenspiel ernst, der Reifenprinz! Wer weiß, vielleicht vernaschte er regelmäßig junge Reporterinnen oder Praktikantinnen und Sekretärinnen? Hier, auf seinem Schieferplateau. Womöglich hatte er tatsächlich einen Hang zu sado-masochistischen Sexspielen? Und vermutete nun in ihr, Emma Schneider, eine Gleichgesinnte, eine willige Gespielin. Höchste Zeit, das Theater zu beenden.
Oder vielleicht doch noch nicht sofort? Emma war hin- und hergerissen zwischen dem Drang aufzuspringen und das Reifenhaus Schulte-Bückendorf fluchtartig hinter sich zu lassen – und professioneller Neugier: wie würde das weitergehen? Als was würde sich der Reifenprinz entlarven? Dass sie eigentlich hier war, um eine öde Auftragsgeschichte zu schreiben und Geld zu verdienen, endlich wieder, verdrängte sie. Auch wenn ihr, auf einer tieferen Ebene ihres Bewusstseins, sonnenklar war, dass sich für »Die Sado-Maso-Träume des Reifenprinzen« allenfalls die Bildzeitung oder irgendwelche Skandalblogs interessieren würden – für die sie, Emma Schneider, niemals schreiben würde –, aber sicher nicht Tanja Dückers und die Lippe Revue. Sie wäre ihren ersten Auftraggeber als freie Journalistin schon wieder los, bevor sie auch nur einen Euro zurückgelegt hätte.
Fast ein halbes Jahr war es jetzt her, dass Emma ihren Job als Redakteurin der Halterner Post verloren hatte. Das Blatt wurde eingestellt, von jetzt auf gleich. Im Sinne einer »leider unvermeidlichen Kostenminimierung« des Verlages. Emmas journalistische Karriere war abrupt beendet, kaum dass sie sich warmgeschrieben hatte.
»Es ist Ihnen doch recht, dass wir für eine Weile