Andreas Malm

Klima|x


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– die Erwartung, die globale Erwärmung folge den Gesetzen linearer Kausalität, ticke gleichmäßig wie ein Uhrwerk, reihe, gemäß dem steinalten Dogma des natura non facit saltum, einen infinitesimalen Stressor an den nächsten – war lange Zeit eine schädliche ideologische Brille, die Wissenschaftler*innen längst schon abgelegt haben. Diese Entwicklungen überschlagen sich mittlerweile dermaßen rasch, dass allein innerhalb weniger Tage im März 2020 mehrere neue Entdeckungen veröffentlicht wurden: Beispielsweise stellte sich heraus, dass die Rekordhitze des letzten Sommers in nur zwei Monaten 600 Milliarden Tonnen des grönländischen Eises in den Ozean hat brechen lassen. Diese eine Ladung führte zu einem Anstieg des globalen Meeresspiegels um 2,2 Millimeter – so viel mehr Munition für die nächsten Sturmfluten. Eine andere Untersuchung ergab, dass die polaren Eiskappen mittlerweile um ein Siebenfaches schneller schmelzen als noch in den 1990er-Jahren. Und am 10. März präsentierte die Zeitschrift Nature Communications mit einer empirischen Modellstudie einen weiteren Nagel im Sarg des Gradualismus: Darin wurde gezeigt, wie rapide der Zusammenbruch regionaler Ökosysteme, etwa der Amazonas-Regenwald oder die karibischen Korallenriffe, vonstattengehen könnte – über wahrnehmbare menschliche Zeiträume von Jahren und Jahrzehnten hinweg –, und dazu aufgerufen, sich auf Veränderungen einzustellen, die »sich schneller ereignen, als bisher durch unser traditionelles lineares Verständnis der Welt angenommen«. Dies wirkt, gelinde gesagt, eher wie das Gegenteil von graduell: vielmehr wie eine kaskadenartige Reihe abrupter Zerstörungen.

      Und dennoch scheint den jeweiligen zeitlichen Profilen von Covid-19 und Klimawandel etwas innezuwohnen, was die antithetischen Reaktionen einigermaßen erklärt. Doch was genau? Wenn man über diese Frage nachdenkt, sollte man keinesfalls vergessen, dass es sich beim Explanandum nicht um die unterschiedlichen von der Bevölkerung ausgehenden Reaktionen handelt: Es waren weder die Französ*innen, Brit*innen oder Australier*innen, die sich zusammenfanden und den Lockdown beschlossen – dieser ereignete sich viel zu schnell, als dass demokratisch darüber beratschlagt hätte werden können –, noch waren sie es, die die Entscheidungen getroffen hatten, wesentliche Emissionssenkungen in eine nichtssagende Zukunft hinauszuzögern, eine politische Entscheidung, die nebenbei bemerkt für Massenproteste in etwa so empfänglich ist wie diejenige der Austerität. Wie also konnte es dazu kommen, dass die Staaten in den entwickelten kapitalistischen Ländern durch das Virus derart übermäßig in Aufruhr versetzt wurden? Indem – wie ein Beobachter nahelegte – zumindest zu Beginn der Pandemie die Opfer von Covid-19 tendenziell der Kernwählerschaft der im Aufstieg begriffenen Rechten anzugehören schienen: alte »weiße« Menschen. »Anders als die Klimakrise bedroht das Virus vorwiegend ältere Menschen – den Kern der Unterstützer*innen rechter Parteien – und weniger Millennials«, und keine Regierung würde die nächste Wahl überleben, wenn sie gerade diese ins offene Messer laufen ließe. Dies zumindest scheint ein Teil der Geschichte zu sein.

      Doch natürlich ist es komplizierter, schließlich sind auch alte »weiße« Menschen bisher keineswegs von der globalen Erwärmung verschont geblieben. So kochte Europa im Jahr 2003 regelrecht im bis dahin heißesten Sommer; auf dem Höhepunkt der Hitzewelle kamen schätzungsweise 30 000 Menschen ums Leben, die Hälfte davon in Frankreich. Im Laufe von zwanzig Augusttagen fiel ihr ein bestimmter Teil der französischen Bevölkerung geradezu scharenweise zum Opfer – nämlich die über 65-Jährigen mit Vorerkrankungen, die zu den Opfern eines Mortalitätsvorgangs wurden, der eindeutig auf den zugrunde liegenden Trend zurückzuführen ist. Im Sommer 2019 wiederum beendeten zwei Hitzewellen das Leben von rund 1500 Französ*innen, ebenfalls hauptsächlich ältere Menschen. In ganz Ostaustralien drang der Rauch von den Buschbränden in die Lungen; innerhalb von 19 Wochen tötete er in den vier am schlimmsten betroffenen Bundesstaaten mehr als 400 Menschen, viele davon im Seniorenalter mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die nicht mehr in der Lage waren zu atmen. Und dann ist da noch die Sache mit dem gesundheitsschädlichen Feinstaub, der anderen Ursprungs ist. Als sich im Februar 2020 die Schadstoffdecke über Städten wie Wuhan und Shanghai lichtete, wurde es in einem solchen Maße leichter, die Luft zu atmen, dass nach den Berechnungen eines Wissenschaftlers der Universität Stanford das Leben von 4000 Kindern unter fünf Jahren sowie von 73 000 erwachsenen Personen über 70 Jahren verschont blieb. Im Vergleich hieße das, dass in etwa zwanzig Mal mehr Leben durch die Luftverbesserung gerettet wurden, als bis zum aktuellen Stand Menschen in diesen Städten an Covid-19 starben. Bei dem unbeabsichtigten Nebeneffekt handelte es sich also um die weitaus größere Rettungsaktion. Streng darauf bedacht, der Interpretation zuvorzukommen, Pandemien seien Allheilmittel, wollte der Forscher lediglich »die oftmals verborgenen gesundheitlichen Folgen des Status quo« aufzeigen – »unsere normale Art, Dinge zu tun, bedarf womöglich einer Störung«. Und auf ein gewisses Maß an Absurdität wiesen manche hin, als sie die gleiche Ausgewogenheit – mehr gerettete Leben aufgrund der Vermeidung von Luftverschmutzung als durch die Vermeidung von Infektionen – innerhalb der europäischen Länder voraussagten, darunter Frankreich, wo ein Wissenschaftler nüchtern feststellte, dass »dies ziemlich faszinierende Zeiten« seien.

      Aber gerade auch die Eindämmung der Pandemie hielt die Sterblichkeitsrate niedrig. Selbstverständlich wusste niemand, wie tödlich sie noch werden konnte. Eine Schätzung von Ende März ging davon aus, dass Covid-19 ohne Interventionen allein 2020 40 Millionen Menschen das Leben kosten würde – wahrlich eine erschreckende Zahl (mehr als fünfmal so hoch wie die jährliche Anzahl an Todesopfern aufgrund von Luftverschmutzung). Die Regierungen sahen sich mit der Aussicht konfrontiert, dass Hundertausende, wenn nicht sogar Millionen Menschen in ihren Betten dahinsiechen und verenden würden. Anfang April war es schließlich offensichtlich geworden, dass das Potenzial für solch ein Massensterben am größten im Globalen Süden war – an Orten wie Dharavi –, wo das volle Ausmaß von Covid-19 erst noch bevorstand. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehrere Tausende in Italien, Spanien, Großbritannien und den USA gestorben. Und genau hierin könnte ein Schlüssel für die Divergenz liegen, nämlich in dem, was wir die Zeitachse der Betroffenheit nennen wollen. Wie Bill McKibben bereits bemerkte, fordert der vom fossilen Kapital geführte Krieg, der mithilfe der Atmosphäre als Medium tötet, seine ersten Opfer unter denjenigen, »die am wenigsten zur Krise beigetragen haben« – also unter den Armen im Globalen Süden. Zwar mag es sich dabei letztlich um »einen Weltkrieg [handeln], der gegen uns alle gerichtet ist«, doch werden die Reichen die Letzten sein, die ihr Leben lassen müssen. Für Covid-19 verlief die Zeitachse zumindest anfangs weitgehend in die genau entgegengesetzte Richtung: Die Ersten, die nicht nur vereinzelt durch das Virus zu Tode kamen, waren Menschen im reicheren Norden. So können wir etwa den Zeitpunkt mit großer Genauigkeit bestimmen, an dem das Virus zu einer wirklich globalen Krise mutierte – und es war nicht, als es durch den Iran fegte: Es geschah, als in Italien, genauer gesagt in der wohlhabenden nördlichen Region Lombardei, Hunderte Menschen zu sterben begannen. Das war der Moment, in dem die westlichen Regierungen in Panik gerieten. Und zu allem Überfluss erkrankte auch noch eine Reihe an Prominenten und Politiker*innen – Tom Hanks und seine Frau, Plácido Domingo, Kristofer Hivju, Patrick Devedjian, Rand Paul, Harvey Weinstein, Prinz Charles, Prinz Albert II. von Monaco, der Generalsekretär der rechtsextremen spanischen Partei Vox und, selbstredend, der Premierminister des Vereinigten Königreichs –, nicht zu vergessen die Luxuskreuzfahrtschiffe, deren Passagieren und Crews ein besonders fiebriges Plätzchen in der Hölle vorbehalten war. Keine dieser Personen oder Instanzen war durch die Klimakrise einem hohen Risiko ausgesetzt. Und ebenso wenig hatte der IPCC Europa je zu ihrem »Epizentrum« erklärt, wie es die WHO Mitte März in Bezug auf Corona tat. Nun gibt es einen ganz bestimmten Grund dafür, weshalb Covid-19 unter anderem Mitglieder der Führungsschicht und Einwohner*innen der entwickelten kapitalistischen Länder zu ihren ersten Opfern erkoren hatte, und wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, ist jedoch eine andere: Welchen Unterschied machte es?

      Ziehen wir eine kontrafaktische Zeitachse der Betroffenheit in Betracht, die jener der Klimakrise näherkommen würde. Stellen wir uns vor, Covid-19 wäre im Februar 2020 vom Iran in den Irak gehüpft, hätte ein paar Tausende in Basra und Bagdad getötet, wäre dann nach Haiti übergesprungen, wo es 5000 weiteren Menschen das Leben gekostet hätte, bevor es dann nach Bolivien und Mosambik abgebogen wäre und ein paar zusätzliche Trupps der gleichen Größenordnung aus dem Weg geräumt hätte, während in London, Paris und New York die Zahl der Patient*innen in den unteren Hunderten verblieben wäre.