Mutter das Schreiben mit der Zusage aus dem Briefkasten holte und öffnete, zog er sich in sein Zimmer zurück. Er hatte fest damit gerechnet, zeigen wollte er das nicht, seine Eltern sollten überrascht sein, sie sollten sich freuen. Für ihn. Nur für ihn. Dieses eine Mal.
Sie hatten nie Probleme mit ihm gehabt. Marcus war ein guter Schüler, das Lernen fiel ihm nicht schwer. Vor Prüfungen täuschte er Nervosität vor, damit seine Mitschüler ihn nicht für einen Streber hielten. Er gewann Gedichtwettbewerbe, nahm an Kreismeisterschaften in Mathematik teil, seit langem hätte er auf eine Spezialschule für Hochbegabte gehen können. Aber er wollte nicht. Er las viele Bücher, war aber auch viel draußen. Sein Zimmer war stets aufgeräumt, sein Bett gemacht, er wollte seinen Eltern keine Angriffsfläche bieten. Überall erzählte sein Stiefvater herum, wie stolz er auf ihn sei, Marcus hasste das, ihm selbst erzählte Klaus Schneider nichts. Zehn Jahre hatte Marcus nun mit ihm zusammengelebt, er hatte seine Ignoranz ertragen, seinen Egoismus, seine Komplexe. Es reichte, er musste raus aus Weimar, weit weg. Er war überglücklich, dass er nun die Chance dazu hatte. Dank des Fußballs.
Am ersten Tag blieben die Bälle liegen. Marcus und die anderen Neulinge in der Kinder- und Jugendsportschule mussten laufen, Runde um Runde. Die Trainer standen am Rande des Platzes und beobachteten sie, die Arme in die Hüften gestemmt. Sie wollten von Beginn an zeigen, wer das Sagen hatte. Marcus durchschaute das, er hatte nichts anderes erwartet. Er lebte nun ein neues Leben. Er trainierte nicht mehr dreimal in der Woche bei Motor Weimar, sondern zweimal am Tag in Erfurt. Morgens und abends, dazwischen lagen sechs, sieben oder acht Stunden Schule, Freizeit gab es kaum. Ab Sommer 1984 ordnete er sich dem Fußball unter, er glaubte fest daran, Profi werden zu können, in der Oberliga, am liebsten für Rot-Weiß Erfurt, jenen Traditionsverein, der in den fünfziger Jahren zweimal Meister geworden war.
Auswahlmannschaft: Marcus (unten, 2. v.l.) spielt 1984 im Team des Bezirkes Erfurt bei einem Turnier in Waren an der Müritz.
Zu Beginn nahm Marcus jedes Detail auf. Er war stolz auf Schuhe, Bälle und Trainingsanzug, die er zur Begrüßung erhalten hatte. Und auf die Apfelsinen, die es öfter gab als anderswo. Marcus glaubte, er sei privilegiert, er stand in der Straßenbahn, schaute hinaus und genoss die Perspektiven einer größeren Stadt. Im Internat, einem grauen, unscheinbaren Betonklotz in der Nähe des Steigerwaldstadions, saß er in seinem Zimmer, schaute hinaus aus dem Fenster und wartete auf die Erwachsenen, die Olympiasieger, die Weltmeister, die auf dem weitläufigen Gelände ein- und ausgingen. In Erfurt trainierten nicht nur Fußballer, sondern auch Schwimmer, Leichtathleten, Radsportler oder Eisschnellläufer. Sie alle hofften auf sportlichen Ruhm, und der Staat hoffte mit. Das Regime der DDR missbrauchte seine Athleten als Botschafter bei internationalen Wettbewerben. Der Preis dafür war hoch. In den Trainingszentren und den Sportschulen wurde nichts dem Zufall überlassen, Marcus wunderte sich über die breiten Schultern, die behaarten Beine und die tiefen Stimmen der Eisschnellläuferinnen und Schwimmerinnen, von Staatsdoping sollte er erst Jahre später hören.
Marcus wäre niemals auf die Idee gekommen sich zu beschweren, es ging ihm gut. Die schlechte Luft in dem engen Viererzimmer, die durchgelegenen Matratzen, das frühe Aufstehen, das harte Training und der Stress in der Schule störten ihn wenig. Auch die strenge Trennung im Internat zwischen Jungen und Mädchen interessierte ihn überhaupt nicht. Er war weg von zu Hause, er war frei, niemand ließ ihn spüren, er sei wertlos. Niemand ertränkte ihn mit Problemen und Geschichten, die er schon tausend Mal gehört hatte, niemand missbrauchte ihn emotional. Es war nicht so, dass sich Marcus im Internat einer Gruppe anschloss und aus dem nachdenklichen Junge plötzlich ein unbekümmerter Spaßvogel wurde, er war Einzelgänger und blieb es auch.
Einsam allerdings fühlte er sich nicht mehr, er war einer von vielen, die sich durchbeißen mussten. Seine Mitspieler schätzten ihn, denn er war ein Spieler, der sich nicht mit seiner Begabung zufrieden gab, er trainierte hart, wurde stetig besser. Er liebte das kunstvolle Spiel. Auf dem Rasen suchte er selten die einfache Lösung. Warum abspielen, wenn er vorher noch einen Gegner mit einem Übersteiger in die Irre führen konnte? Warum den Ball hart aufs Tor treten, wenn er ihn auch gefühlvoll in den Winkel streicheln konnte? Marcus raste mit wehenden Locken über den Platz, den Ball vergaß er nie. Er war durchtrainiert und kleiner als die anderen. Er stand für das ästhetische Spiel, seine Mitspieler nannten ihn bald nur noch Schnibbel.
Marcus gehörte zweifellos zu den besten Spielern des Internats. Auf einem Stadtfest in Erfurt wurde er an einem Nachmittag gemeinsam mit anderen Spielern auf die Showbühne gebeten. Vor hunderten Zuschauern sollten sie den Ball tanzen lassen. Marcus jonglierte, ohne Probleme, ohne Pause, und die Gäste staunten.
Ähnlich war es beim Training in der KJS. Marcus tänzelte wie Rastelli über den Platz, sein Nacken drohte starr zu werden, wenn er den Ball mit dem Kopf dutzende Mal über seinen Körper tippte. Hätte der Trainer ihn nicht zum Aufhören bewegt oder die Einheit abgebrochen, Marcus hätte vermutlich die ganze Nacht weitergemacht. Er hatte sich eine hervorragende Technik angeeignet, das Jonglieren hatte er jahrelang im heimischen Innenhof geübt.
Marcus hatte die Fähigkeit, Spielzüge zu erahnen und Erfolg versprechende Angriffe mit einem Pass einzuleiten. Zu Fehlpässen und planlosen Flanken ließ er sich selten hinreißen. Er liebte das Dribbling, Fußball war für ihn eine Kunstform auf dem Rasen. Bald galt er als eine der Nachwuchshoffnungen des DDR-Fußballs. Einer seiner Trainer von Rot-Weiß Erfurt sagte ihm einmal: „Du hast große Möglichkeiten. Nutze Sie auch.“ Marcus merkte, dass sich sein Coach zügeln musste. Ausschweifendes Lob für den Einzelnen war tabu, es zählte das Kollektiv.
EXKURS:
Im Spiel der Aussätzigen
Der offene Rassismus wurde aus den Profiligen verdrängt. Fans flüchten sich in weniger tabuisierte Diskriminierungen – vor allem in Homophobie
Schicksalsspieler: Justin Fashanu im Trikot vom Norwich City. Er erhängte sich 1998.
Zwei Polizisten mussten Justin Soni Fashanu abführen. Er hatte sich geweigert, den Trainingsplatz zu verlassen. Brian Clough, der strenge Trainer von Nottingham Forrest, hatte den Stürmer 1982 rausgeschmissen. Er hatte erfahren, dass sich Fashanu in der Schwulenszene bewegte, obwohl er vorgegeben hatte, eine heterosexuelle Beziehung zu führen. Clough wollte die „verdammte Schwuchtel“, wie er es formulierte, nicht mehr in seiner Mannschaft haben. Das große Talent Fashanu, das bei Norwich City Ende der siebziger Jahre groß aufgespielt hatte, wurde zum Spottpreis weitergereicht. Er flüchtete in die USA, später nach Kanada, litt zudem unter einer Knieverletzung – doch von dieser Entlassung sollte sich der Sohn eines nigerianischen Anwalts nicht mehr erholen.
Justin Fashanu kehrte zurück nach England und wagte 1990 ein öffentliches Coming-out. Das Boulevardblatt The Sun bezahlte ihm dafür 80.000 Pfund, sein Bruder hatte ihm die gleiche Summe geboten, wenn er sich nicht bekennen würde. Fashanu verknüpfte sein Outing mit dem Schicksal eines schwulen Freundes, der sich umbrachte, weil dessen Eltern ihn verstoßen hatten. Nun wollte er ein Zeichen setzen, aber es ging weiter abwärts. Er tingelte durch Talkshows, trat einer Sekte bei und behauptete, dass auch Politiker aus dem Parlament zu seinen Liebhabern gezählt haben sollen. Im März 1998 beschuldigte ihn ein 17-jähriger Junge aus Maryland, USA, dass er ihn vergewaltigt habe. Beweise gab es nicht, doch die britische Presse fällte trotzdem ein vernichtendes Urteil.
Justin Fashanu hörte das Gerücht, dass er von der Polizei gesucht würde. Er zerbrach am öffentlichen Druck: am 2. Mai 1998 erhängte er sich in einer Garage in London, er wurde 37 Jahre alt. In einem Abschiedsbrief, den die BBC Monate später veröffentlichte, bekräftigte er noch einmal, dass der Junge bereitwillig Sex mit ihm gehabt haben soll: „Schwul und eine Person des öffentlichen Lebens zu sein, ist hart“, schrieb er. „Ich fühlte, dass ich wegen meiner Homosexualität kein faires Verfahren bekommen würde.“ Das Verfahren wegen Vergewaltigung wurde eingestellt.
In der Geschichte des europäischen Spitzenfußballs ist Justin Fashanu