Sir Arthur Conan Doyle

Das Zeichen der Vier


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schliessen. Ihr dunkelgraues Wollenkleid hatte weder Besatz noch sonstige Verzierung, und ihre kleine Kopfbedeckung von derselben matten Farbe war nur an der Seite durch einen winzigen weissen Federstutz gehoben. Zwar besass sie weder regelmässige Züge, noch schöne Formen, doch war der Ausdruck ihres Gesichts höchst liebenswürdig und anziehend; aus ihren grossen, blauen Augen sprach Geist und Leben. Ich hatte in drei verschiedenen Weltteilen die Frauen vieler Nationen gesehen, aber niemals war mir ein Gesicht vorgekommen, in welchem sich so deutlich eine empfängliche, edle Natur ausprägte. Es entging mir nicht, dass, als sie den Sitz annahm, den Holmes ihr darbot, ihre Lippe zitterte und ihre Hand bebte; in ihrem ganzen Wesen sprach sich eine tiefe, innere Erregung aus.

      „Ich komme zu Ihnen, Herr Holmes, sagte sie, weil sie der Dame, in deren Familie ich lebe, Frau Cäcilie Forrester, einmal behilflich gewesen sind, eine kleine, häussliche Verwicklung aufzuklären. Die Güte und Geschicklichkeit, welche Sie damals bewiesen, hat grossen Eindruck auf sie gemacht.“

      „Frau Cäcilie Forrester“, — wiederholte er nachdenklich. „Ja, ja, ich erinnere mich, ich hatte Gelegenheit, ihr einen kleinen Gefallen zu tun. Es war eine höchst einfache Sache.“

      „Sie hielt sie damals durchaus nicht dafür. Von meinem Fall werden Sie indessen schwerlich dasselbe sagen. Ich kann mir kaum etwas vorstellen, das noch sonderbarer und unerklärlicher wäre, als die Lage, in der ich mich eben jetzt befinde.“ Holmes rieb sich die Hände, seine Augen glänzten. Er sass weit vorgebeugt da; aus seinen scharfgeschnittenen; falkenartigen Zügen sprach die gespannteste Aufmerksamkeit.

      „Teilen Sie mir Ihren Fall mit,“ sagte er in kühlem Geschäftston.

      Ich befand mich in peinlicher Verlegenheit.

      „Sie werden entschuldigen,“ murmelte ich, mich von meinem Platz erhebend.

      Allein zu meiner Überraschung machte die junge Dame eine Bewegung, als wolle sie mich zurückhalten.

      „Wenn Ihr Freund die Güte hätte zu bleiben,“ rief sie, „so könnte er mir einen unschätzbaren Dienst leisten.“

      Ich setzte mich wieder.

      „Die Tatsachen,“ fuhr sie fort, „sind kurz folgende: Mein Vater war Offizier in einem indischen Regiment und schickte mich als kleines Kind in die Heimat. Meine Mutter war gestorben, und da ich keine Verwandten in England hatte, ward ich in einer guten Pension in Edinburg untergebracht, wo ich bis zu meinem siebzehnten Jahre blieb. Im Jahre 1878 erhielt mein Vater, als ältester Hauptmann seines Regiments, einen zwölfmonatlichen Urlaub und kehrte heim. Er telegraphierte mir von London aus, dass er dort glücklich angekommen sei, und gab mir ,Langham-Hotel‘ als seine Adresse an, wo ich ihn sogleich aufsuchen sollte. Die Botschaft war, wie ich mich erinnere, voller Liebe und Güte. Ich folgte seiner Anweisung, erfuhr jedoch im Langham-Hotel, dass Hauptmann Morstan zwar daselbst abgestiegen, aber am vorigen Abend ausgegangen und nicht wiedergekommen sei. Ich wartete den ganzen Tag, ohne Nachricht zu erhalten. Am Abend riet mir der Hotel-Direktor, mich in Verbindung mit der Polizei zu setzen. Wir machten nun Anzeigen in allen Zeitungen, allein unsere Nachforschungen blieben ohne Erfolg; von jenem Tage an bis heute hat man nie mehr etwas von meinem unglücklichen Vater gehört. Er kam in die Heimat mit sehnsüchtigem Herzen, er hoffte Frieden und Behagen zu finden, — statt dessen —”

      Sie brach ab; Schluchzen erstickte ihre Stimme.

      „Das Datum?“ fragte Holmes, sein Notizbuch öffnend.

      „Er verschwand am 3. Dezember 1878 — vor fast zehn Jahren.“

      „Sein Gepäck?“

      „War im Hotel geblieben. Ausser Kleidern und Büchern fand sich nur eine ansehnliche Sammlung von Seltenheiten von den Andamanen-Inseln vor. Mein Vater war einer der kommandierenden Offiziere des Wachtpostens der dortigen Verbrecherkolonie gewesen.“

      „Hatte er irgend einen Freund in der Stadt?“

      „Nur einen unseres Wissens — Major Scholto von seinem Regiment, dem 34. der Bombay-Infanterie. Der Major hatte kurz zuvor den Abschied genommen und wohnte in Ober-Norwood. Natürlich setzten wir uns mit ihm in Verbindung; aber er wusste nicht einmal, dass sein früherer Kamerad in England sei.“

      „Ein sonderbarer Fall,“ bemerkte Holmes.

      „Das Seltsamste muss ich Ihnen erst noch mitteilen. Vor ungefähr sechs Jahren, oder um ganz genau zu berichten, am 4. Mai 1882 — erschien in der ,Times‘ eine Aufforderung an Fräulein Mary Morstan, ihre Adresse anzugeben, mit dem Bemerken, dass es nicht ohne Nutzen für sie sein würde. Weder Name noch Ort war beigefügt. Ich hatte gerade zu der Zeit die Stelle als Erzieherin im Hause der Frau Forrester angetreten, und auf ihren Rat liess ich meine Adresse in die Zeitung rücken. Noch am selben Tage kam mit der Post eine kleine Pappschachtel für mich an, welche eine sehr grosse, glänzende Perle enthielt. Kein Wort war beigefügt. Seitdem ist mir jedes Jahr am gleichen Datum eine solche Schachtel mit einer Perle zugekommen, immer ohne irgendwelchen Aufschluss über den Absender. Die Perlen sind nach dem Urteil eines Kenners seltene Stücke von bedeutendem Wert. Sie können sich selbst überzeugen, dass sie schön sind.“

      Sie öffnete eine flache Schachtel, in der sechs der schönsten Perlen lagen, die ich je gesehen.

      „Ihre Mitteilung ist höchst interessant,“ sagte Holmes. „Hat sich sonst noch etwas ereignet?“

      „Ja, und zwar erst heute. Deshalb bin ich hier. Diesen Morgen erhielt ich einen Brief — bitte lesen Sie!“

      „Besten Dank! Auch das Couvert, wenn ich bitten darf! Poststempel London SW. Datum 17. Juli. Hm! Auf der Ecke der Abdruck eines Mannsdaumens — vermutlich des Briefträgers — Papier von der besten Sorte, Couvert desgleichen. Der Mann ist wählerisch in Schreibmaterialien. Keine Anrede. Stellen Sie sich heute abend um sieben Uhr vor dem Lyceum-Theater ein. Wenn Sie Misstrauen hegen, bringen Sie zwei Freunde mit. Es ist Ihnen Unrecht geschehen, und Sie sollen Ihr Recht haben. Bringen Sie niemand von der Polizei. Sollten Sie das doch tun, so ist alles vergebens. Ihr unbekannter Freund. — Wahrhaftig ein interessantes kleines Geheimnis! Was gedenken Sie zu tun, Fräulein Morstan?“

      „Darüber wollte ich eben Ihren Rat hören.“

      „Nun, dann werden wir sicherlich hingehen — Sie und ich und — jawohl — Doktor Watson ist gerade der richtige Mann. Der Brief sagt: zwei Freunde. Wir haben schon früher einmal zusammengearbeitet, er und ich.“

      „Würde er aber auch mitkommen wollen?“ fragte sie mit bittender Gebärde.

      „Es wird mir ein Vergnügen sein, mich Ihnen nützlich zu erweisen,“ rief ich lebhaft.

      „Sie sind beide sehr gütig,“ erwiderte sie. „Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt, und wüsste keinen Freund, an den ich mich wenden könnte. Wird es früh genug sein, wenn ich um sechs Uhr hier bin?“

      „Kommen Sie ja nicht später,“ gab Holmes zur Antwort. „Noch eine Frage: Ist dies die nämliche Handschrift, wie auf den Adressen der Perlschachteln?“

      „Sehen Sie selbst,“ antwortete sie, ihm ein halbes Dutzend Papierschnitzel vorzeigend.

      „Sie sind ja eine wahre Muster-Klientin. Sie haben das richtige Verständnis. Das ist schön!“ Er breitete die Zettel auf dem Tisch aus, und sein rascher, scharfer Blick wanderte von einem zum andern. „Der Schreiber hat seine Hand verstellt, ausgenommen bei dem Brief, darüber kann kein Zweifel bestehen. Sehen Sie, wie das griechische & überall durchbrechen will, und hier den Schnörkel am Schluss! Sie stammen unzweifelhaft von derselben Person. Ich möchte keine falschen Hoffnungen erregen, Fräulein Morstan, aber — besteht irgend eine Ähnlichkeit zwischen dieser Handschrift und derjenigen Ihres Vaters? —“

      „Nicht die geringste.“

      „Das dachte ich mir wohl. Also um sechs Uhr werden wir Sie erwarten. Erlauben Sie mir, die Papiere zu behalten, ich kann vielleicht vorher noch etwas in der Sache tun. Es ist erst halb vier. Auf Wiedersehen!“

      „Auf Wiedersehen,“ schloss die junge Dame in heiterm Ton, steckte die Schachtel mit den Perlen wieder