Michael Connelly

Schwarzes Echo


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schwarzbraun und gaben nur selten Gefühle oder Absichten preis.

      Die Röhre lag über der Erde und verlief etwa fünfzig Meter an der Zufahrtsstraße zum Wasserbecken entlang. Drinnen wie draußen war sie verrostet. Sie war leer und unbenutzt, sah man von denen ab, die ihr Inneres als Unterkunft oder ihr Äußeres für Graffiti benutzten. Bosch hatte keine Ahnung, wozu sie diente, bis der Aufseher der Anlage es ihm mitteilte. Die Röhre war ein Schlammschutz. Heftiger Regen, sagte der Aufseher, könne Erdmassen lösen und Schlamm von den Hügeln ins Becken abrutschen lassen. Die einen Meter dicke Röhre, die von irgendeinem vergessenen Projekt stammte, war zum Schutz des Wasserreservoirs in einem gefährdeten Bereich angebracht worden. Sie wurde von einer zentimeterdicken Eisenstrebe gehalten, die im Beton darunter eingegossen war.

      Bosch hatte seinen Overall angezogen, bevor er in die Röhre kroch. Die Buchstaben LAPD prangten in weißer Farbe auf dem Rücken. Nachdem er ihn aus dem Kofferraum des Wagens geholt und übergezogen hatte, fiel ihm auf, dass das Ding wahrscheinlich sauberer war als der Anzug, den er damit schützen wollte. Aber er trug ihn trotzdem, denn er hatte ihn schon immer getragen. Er war ein methodisch vorgehender, von Haus aus misstrauischer Detective.

      Als er mit einer Taschenlampe in der Hand in den feucht riechenden, beängstigend engen Zylinder kroch, spürte er, wie sich seine Kehle zusammenzog und sein Herz schneller schlug. Eine vertraute Leere packte seine Eingeweide. Angst. Dann aber knipste er die Lampe an, und mit der Dunkelheit verflog auch das unangenehme Gefühl. Er machte sich an die Arbeit. Jetzt stand er auf dem Damm und rauchte und dachte nach. Crowley, der wachhabende Sergeant, hatte recht gehabt, der Mann in der Röhre war mit Sicherheit tot. Aber er hatte ebenso unrecht gehabt. Es würde kein einfacher Fall werden. Harry würde nicht rechtzeitig zu Hause sein, um sich aufs Ohr zu hauen oder die Dodgers auf KABC anzuhören. Hier lief irgendwas falsch. Harry musste keine drei Meter weit in die Röhre kriechen, um sich seiner Sache sicher zu sein.

      Es gab keine Spuren in der Röhre. Oder besser gesagt, es gab keine brauchbaren Spuren. Der Boden war bedeckt mit trockenem, orangefarbenem Schlamm und lag voller Papiertüten, leerer Weinflaschen, Wattefetzen, gebrauchter Spritzen, Schlafstellen aus Zeitungspapier – Abfall von Obdachlosen und Drogenabhängigen. All das hatte sich Bosch im Licht der Taschenlampe angesehen, als er sich langsam der Leiche näherte. Und er fand keine erkennbare Spur, die der Tote, der mit dem Kopf voran in der Röhre lag, verursacht haben konnte. Irgendwas stimmte da nicht. Wenn der Tote aus eigenem Antrieb hineingekrochen war, musste es Anzeichen dafür geben. Wenn er hineingezogen worden war, hätte man es auch sehen müssen. Aber es war nichts festzustellen, und das war nicht das Einzige, was Bosch beunruhigte.

      Als er bei der Leiche war, sah er, dass das Hemd des toten Mannes – ein schwarzes, am Kragen offenes Militärhemd – über seinen Kopf gezogen war und die Arme sich darin verheddert hatten. Bosch hatte schon genug Leichen gesehen, und er wusste sehr wohl, dass während der letzten Atemzüge buchstäblich nichts unmöglich war. Er hatte an einem Fall gearbeitet, bei dem sich ein Mann in den Kopf geschossen hatte und dann, bevor er starb, die Hosen wechselte, weil er offenbar nicht wollte, dass man seine Leiche mit Exkrementen verschmiert fand. Doch das Hemd und die Arme des Toten in dem Rohr konnte Harry so nicht hinnehmen. Für Bosch sah es aus, als hätte jemand die Leiche am Kragen in die Röhre gezerrt.

      Bosch hatte den Toten weder angerührt noch das Hemd vom Gesicht gezogen. Er hatte gesehen, dass es sich um einen männlichen Weißen handelte. Er fand keinen direkten Hinweis auf die tödliche Verletzung. Nachdem er die Leiche untersucht hatte, schob sich Bosch vorsichtig über sie hinweg, wobei sein Gesicht bis auf zehn Zentimeter an ihn herankam, und kroch dann die dahinter liegenden vierzig Meter ab. Er fand weder Spuren noch sonst irgendwas von Wert. Nach zwanzig Minuten stand er wieder im Sonnenlicht. Dann schickte er einen Tatortspezialisten namens Donovan hinein, der die Lage der Abfälle aufzeichnen und die Position der Leiche auf Video festhalten sollte. Donovans Miene verriet seine Überraschung darüber, wegen eines Falles, den er als Überdosis abgeschrieben hatte, in das Rohr kriechen zu müssen. Wahrscheinlich hat er Karten für die Dodgers, dachte Bosch.

      Nachdem er Donovan die Röhre überlassen hatte, steckte sich Bosch eine Zigarette an und trat an das Geländer des Damms, um auf die stinkende Stadt hinabzusehen und vor sich hinzubrüten.

      Am Geländer konnte er den Verkehrslärm hören, der vom Hollywood Freeway herauftrieb. Aus dieser Entfernung klang er beinah sanft. Wie ein stiller Ozean. Durch den Canyon sah er blaue Swimmingpools und spanische Ziegeldächer.

      Eine Frau in einem weißen Top und hellgrünen Jogging-Shorts lief auf dem Damm an ihm vorbei. Ein kleines Radio hing an ihrem Hosenbund, und ein dünner, gelber Draht führte zu den Kopfhörern, die in ihren Ohren steckten. Sie schien in ihrer eigenen Welt zu sein, nahm die Ansammlung von Polizisten gar nicht wahr, bis sie an das gelbe Band am Ende des Damms kam, das den Tatort absperrte. In zwei Sprachen forderte es sie auf, nicht weiterzugehen. Einen Moment lang joggte sie auf der Stelle. Das lange, blonde Haar klebte am Schweiß auf ihren Schultern, und sie sah sich die Polizisten an, die größtenteils auch sie betrachteten. Dann drehte sie sich um und kam wieder an Bosch vorbei. Er folgte ihr mit seinem Blick, und ihm fiel auf, dass sie, als sie am Pumpenhaus vorbeikam, ihren Kurs änderte, um irgendetwas auszuweichen. Er ging hinüber und fand Glas auf dem Gehweg. Er sah hoch und bemerkte die zerbrochene Birne in der Fassung über der Tür zum Pumpenhaus. In Gedanken machte er eine Notiz, dass er den Aufseher fragen wollte, ob die Birne in letzter Zeit überprüft worden war.

      Als Bosch wieder zu seiner Stelle am Geländer zurückkam, bemerkte er eine undeutliche Bewegung unter sich. Er blickte nach unten und sah einen Kojoten, der zwischen den Kiefernnadeln und dem Müll herumschnüffelte, der den Boden unter den Bäumen vor dem Damm bedeckte. Das Tier war klein, sein Fell zerzaust, und an manchen Stellen war es vollkommen kahl. Nur wenige waren in den abgesperrten Teilen der Stadt noch übrig, suchten nach Aas im Müll der menschlichen Aasgeier.

      »Sie holen ihn jetzt raus«, sagte eine Stimme hinter ihm.

      Bosch drehte sich um und sah einen der Uniformierten, der dem Tatort zugeteilt war. Er nickte und folgte ihm den Damm hinunter, unter dem gelben Band hindurch und zurück zu der Röhre.

      Grunzen und schweres Keuchen hallten aus dem Schlund der mit Graffiti übersäten Röhre. Ein Mann ohne Hemd, sein muskulöser Rücken zerkratzt und schmutzig, kam rückwärts heraus und zerrte an einer dicken, schwarzen Plastikfolie, auf der die Leiche lag. Das Gesicht des Toten blickte noch immer nach oben, und die Arme waren unter dem schwarzen Hemd verborgen. Bosch sah sich nach Donovan um und fand ihn an der Heckklappe eines blauen Einsatzfahrzeugs beim Verstauen eines Videorekorders. Harry ging hinüber.

      »Du musst leider noch mal rein. Der ganze Abfall da drinnen, Zeitungen, Dosen, Tüten, ich hab ein paar Spritzen gesehen, Watte, Flaschen, ich will das alles mitnehmen.«

      »Kannst du haben«, sagte Donovan. Er wartete kurz und fügte hinzu: »Ich will ja nichts sagen, Harry, aber ich meine, glaubst du wirklich, da ist was dran? Ist die Sache es wert, dass wir uns dafür den Arsch aufreißen?«

      »Ich schätze, wir werden es erst wissen, wenn sie ihn aufgeschnitten haben.«

      Er wandte sich ab, blieb aber stehen.

      »Hör zu, Donnie, ich weiß, es ist Sonntag, aber danke, dass du noch mal reingehst.«

      »Kein Problem. Das sind alles Überstunden.«

      Der Mann ohne Hemd und ein Helfer des Coroners hockten am Boden und beugten sich über die Leiche. Beide trugen weiße Gummihandschuhe. Der Techniker war Larry Sakai, ein Mann, den Bosch seit Jahren kannte und noch nie gemocht hatte. Neben ihm stand eine offene Angelkiste am Boden. Er nahm ein Skalpell heraus und machte einen zwei Zentimeter langen Schnitt an der Seite der Leiche, kurz über der linken Hüfte. Es trat kein Blut aus der Wunde. Er holte ein Thermometer aus der Kiste und befestigte es am Ende einer gebogenen Sonde. Er schob es in den Einschnitt, drehte es geschickt, wenn auch etwas grob, und trieb es bis hinauf in die Leber.

      Der Mann ohne Hemd verzog das Gesicht, und Bosch fiel auf, dass er an seinem rechten Auge eine blau tätowierte Träne hatte. Es war sicher der einzige Ausdruck von Mitgefühl, den der Tote zu erwarten hatte.

      »Die Todeszeit dürfte