Филип Уилкинсон

Big Ideas. Das Geschichts-Buch


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aus Dentalium-Muscheln in den italienischen Arene Candide oder den beeindruckenden Speeren aus Mammutelfenbein zweier Kinder im russischen Sunghir. Einige Archäologen nehmen an, dass solcherart reich geschmückte Individuen – insbesondere Kinder, die in ihrem kurzen Leben gewiss nicht die Möglichkeit hatten, eine Reputation zu erwerben, um das besondere Begräbnis zu rechtfertigen – bereits auf soziale Hierarchie- und Statusunterscheidungen in manchen Gruppen hinweisen. Sie scheinen sich allerdings erst viel später verbreitet zu haben. In jedem Fall beschäftigten sich die Menschen nun zunehmend mit dem Tod und dem Danach – sowie damit, wie Tote ins Jenseits gelangten.

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      Historiker sind bis heute nicht sicher, ob die Höhlenmalereien eine Bedeutung haben oder nicht. Sie könnten sowohl Ausdruck reiner Kunst als auch territorialer Markierungen, der Spiritualität sowie Initiationsriten oder auch einer Methode zur Vermittlung wertvoller Jagdinformationen sein

       Territoriale Markierungen

      Einer Reihe von Archäologen fiel auf, dass die meisten »klassischen« Höhlenmalereien in Südwestfrankreich und Nordspanien auftraten. Dies war wohl eine von Menschen bevorzugte Region, denn selbst zur Zeit des Letzteiszeitlichen Maximums war es hier wärmer, und die fruchtbaren Lebensräume zogen weithin große Tierherden an. Folglich werden auch hier viele Menschen dicht gedrängt gelebt haben – was zu Spannungen zwischen einzelnen Gruppen, die um Nahrung und Territorien kämpften, geführt haben wird.

      Genau wie heute Gruppen, z. B. Fußballfans oder Nationalstaaten, Symbole wie Flaggen, Uniformen und Zeichen zur Abgrenzung ihrer Territorien und Gruppenidentitäten benutzen, werden im Paläolithikum Gruppen von Menschen in Europa aus ähnlichen Gründen ihre Höhlen in Zeiten vermehrten Wettkampfs um Nahrungsgrundlagen geschmückt und gekennzeichnet haben.

      »Menschen sahen sich selbst als Teil der lebenden Welt, in der Tiere, Pflanzen, selbst Orientierungspunkte und Objekte auf gewisse Art lebendig waren.«

      Brian Fagan Cro Magnon: Das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen (2012)

       Kooperation zum Überleben

      Solche komplexen sozialen Interaktionen helfen zu verstehen, wie der Homo sapiens unter den harschen Bedingungen der Eiszeit in Europa überleben konnte. Wahrscheinlich lebten relativ kleine Jäger- und Sammlergemeinschaften weit verstreut voneinander. Die meisten archäologischen Fundstätten aus dieser Zeit weisen keinerlei Anzeichen komplexer Gebäude auf; die Menschen zogen wohl meistens umher – je nach Wetterlage oder Umgebung – und folgten den jahreszeitlich bedingten Wanderungen großer Tiere wie Rentieren.

      Die Fähigkeit des Homo sapiens, neue Verbindungen einzugehen, ließ Gruppen von Jägern bei Notwendigkeit zusammenarbeiten. Wenn es reichlich Nahrung gab, jagten sie gemeinsam und fingen Herden da ab, wo sie am gefährdetsten waren, z. B. in engen Tälern oder bei Flussfurten. In mageren Zeiten lösten sie sich voneinander und jagten verstreut, um genug zum Leben zu finden.

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      Jagdwerkzeuge wie dieser Speerwerfer wurden häufig in Gestalt des Tieres angefertigt, das erlegt werden sollte – wohl als Teil eines magischen Rituals, um die Erfolgschancen der Jagd zu erhöhen

       Frühe Jagdgeräte

      Diese Jäger- und Sammlerkulturen unternahmen große Anstrengungen bei der Verbesserung ihrer Methoden und Werkzeuge – entschieden sie nicht selten über Leben und Tod. So befestigten sie behauene Steinspitzen an Speere, die mithilfe einer Speerschleuder geworfen wurden, die die Reichweite und die Kraft, mit der die Beute getroffen wurde, enorm vergrößerte und über den Erfolg einer Jagd entschied. Die Speerschleudern wurden daher oft reich beschnitzt und mit den Bildern erbeuteter Tiere verziert. Ähnlich schmuckvoll wurden aus Knochen und Geweihstücken akribisch geschnitzte Harpunen für den Fischfang angefertigt.

       Keimzellen einer Gesellschaft

      Fein gearbeitete Ahle und Nadeln aus Knochen lassen vermuten, dass Steinzeitmenschen warme Kleidung aus Fellen und Tierhäuten weit sorgfältiger als ihre Vorfahren herstellten – außerdem Schmuckstücke aus Tierzähnen und Muscheln sowie Steinfiguren oder solche aus Lehm. Im Zuge des Lebens in sozialen Verbünden werden diese Gegenstände auch als Handelsware, Geschenk oder Tauschobjekt gedient haben.

      Die Lebensbedingungen in Europa während des Letzteiszeitlichen Maximums brachten es mit sich, dass eine in üppigen Jahren geteilte Beute sich später auszahlte: Großzügigkeit und Zusammenarbeit von damals galt als Schutz in mageren Zeiten. Ein solcher Tauschhandel aus individuellen und Gruppenbeziehungen – den wahrscheinlich auch weit entfernt lebende Gruppen betrieben –, sicherte das Überleben unter den harten Bedingungen. image

       Venusfigurinen

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      Weibliche Figurinen aus Stein, Elfenbein oder Lehm gehören zu Artefakten des Paläolithikums, die man vielerorts in Europa fand. Solche Figurinen weisen einige markante und gemeinsame Merkmale auf: Während Details wie Gesichtszüge und Füße meistens fehlen, sind weibliche Charakteristika (Brüste, Bauch, Hüften, Schenkel und Vulva) häufig übertrieben dargestellt. Das Augenmerk auf Sexual- und Fruchtbarkeitsmerkmale sowie füllige Körper (während der Eiszeit wird Körperfett ein wertvolles Gut gewesen sein) legen nahe, dass die Figurinen eine symbolische Rolle spielten – z. B. als Geburts- oder Fruchtbarkeitsamulett.

      Manche Forscher sehen in den Figurinen eine Art »Muttergöttin«; Belege für diese Interpretation gibt es jedoch nicht. Andere sehen in ihnen einen Ausdruck weithin gemeinsamer kultureller Ideale und Symbole – die in sozialen Interaktionen und beim Austausch von Ressourcen, Informationen, aber auch von potenziellen Heiratspartnern nicht unerheblich gewesen sein dürften.

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      DIE GRUNDLAGEN DES AKTUELLEN EUROPAS WURDEN AM ENDE DER EISZEIT GELEGT

      DIE GROSSE EISZEIT (UM 21 000 V. CHR.)

       IM KONTEXT

      FOKUS

       Klimawandel

      FRÜHER

      vor 2,58 Mio. Jahren Die Eiszeit, das Pleistozän, beginnt

      vor 200 000 Jahren Der Homo sapiens entwickelt sich als Spezies

      SPÄTER

      um 9700 v. Chr. Mit dem Ende des Pleistozäns beginnt das bis heute andauernde Zeitalter relativer Wärme und Klimastabilität: das Holozän

      um 9000–8000 v. Chr. Im Nahen Osten entwickelt sich die Landwirtschaft

      um 5000 v. Chr. Der Meeresspiegel erreicht ungefähr sein aktuelles Level; darunter liegende Landpartien versinken

      um 2000 v. Chr. Die letzten Mammuts sterben vermutlich auf der Wrangelinsel (Russland) aus

      Wissenschaftler untersuchen erst seit Kurzem, wie die wechselseitige Beziehung zwischen Mensch und Umwelt die Entwicklung unserer Gesellschaften beeinflusst hat. Der moderne Mensch entwickelte sich während der letzten Eiszeit und durchlebte drastische Klimawechsel: von extrem kalten (Eiszeit-) bis hin zu