Lutz Kreutzer

Taubenblut


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willst du schon wieder hier? Scher dich zum Teufel, wohin du gehörst!«, schimpfte Qamil mit tiefer Stimme.

      »Wo ist Mutter?«, fragte er.

      »Sie schläft und will dich nicht sehen, nie wieder, hörst du?«, rief Qamil verächtlich.

      »Qamil, hör zu, so kannst du mich nicht behandeln. Niemals hab ich dir etwas getan. Ich hab immer mit dir Frieden haben wollen. Aber du …«

      »Aber was, häh? Ein Muttersöhnchen bist du!«, brüllte er. »Verkriechen willst du dich in Mutters Schoß, häh? Mach, dass du das Dorf verlässt. Hau ab, für immer. Hau endlich ab!« Mit wedelnden Händen, die seine Abscheu noch unterstrichen, stand Qamil vor ihm und hörte nicht auf, ihn zu beschimpfen.

      Adnan antwortete nicht. Mit kaltem Blick verharrte er vor Qamil und starrte ihm in die Augen. Wie erbärmlich Qamil sich aufspielte, als wäre er das natürliche Oberhaupt der Familie. Nein, der Hausherr, das war er, Adnan, der Gedemütigte.

      Das Messer hatte er bereits geöffnet in der Hosentasche getragen. Nur ein Zucken in Adnans Blick, dann streckte er Qamil kurzerhand mit einem einzigen Stich nieder.

      Qamil sank zusammen, doch Adnan fing ihn auf. Qamil blutete heftig, er legte den Kopf in Adnans Armbeuge. Die Zigarette fiel von seinen Lippen auf den steinernen Boden. Seine Augen stellten Fragen, aber er gab keinen Laut von sich. Je stärker das Leben aus Qamil floss, desto zarter wurde sein Gesicht, das über die Jahre hinweg verhärtet war und hinter dem er sich ein halbes Leben lang versteckt hatte. In dem Moment, als Qamil in Adnans Armen starb, kehrten für einen Augenblick die sanften Züge seiner Jugend zurück, und Adnan weinte bittere Tränen.

      Taubenblut

      Frühjahr 2015

      Es war kalt an diesem Apriltag. Sperber fühlte sich, als wäre er unter eine Dampfwalze gekommen. Er saß im Johanniscafé in München-Haidhausen und starrte auf die Fototapete an der Stirnwand mit dem großen Bild vom Watzmann.

      Der Wirt jonglierte ein Glas Whisky zu seinem Tisch. »Mal wieder auf der Straße geschlafen, Fritz?«, fragte er bräsig und grinste.

      Die Schmerzen quälten Sperber wie der Teufel. Vor Jahren im Kongo hatte ihm ein deutscher Arzt in einem Feldlazarett zwei Halswirbel zusammengeschraubt, nachdem ein paar Kindersoldaten ihn mit einer Machete fast umgebracht hatten. Der Arzt hatte ihm damals prophezeit, dass er von dieser Attacke noch lange etwas haben würde. Sperber fasste sich an den Hals, legte den Kopf kurz nach hinten und grinste schief, als ihm die Notoperation von damals durch den Kopf ging. Der Watzmann vor ihm wurde vor seinen Augen größer und kleiner. In seinem Kopf hörte er das Echo eines Jodlers.

      Mist, diese Scheißopiate. Schmerzmittel bis zum Abwinken. Dazu der Whisky. Noch ein VAT 69, und sein Hirn finge zu kochen an. Aber was soll’s, dachte er, besser als diese verfluchten Schmerzen. An den anderen Tischen unterhielten sich fremde Leute und tranken Bier. Er saß allein in seiner Ecke und winkte dem Wirt zu.

      Der Wirt brachte ihm einen Doppelten und legte ihm die Hand auf den Oberarm. »Hey Fritz, du kippst mir doch nicht um? Siehst nicht gut aus, Junge.«

      »Hier kann ich nicht weit kippen, und die Bänke bei dir sind weich«, sagte Sperber, lächelte dünn und starrte sein Glas an. »Die beste Medizin seit Ernest Shackleton.« Er trank und atmete tief durch. Mist, wann hörten diese Scheißschmerzen endlich auf, dachte er flehend, legte den Kopf nach vorn und griff sich erneut an den Nacken. »Noch einen!«, rief er dem Wirt hinterher.

      Er brauchte dringend Geld. Ich sollte Martha anrufen, überlegte er. Sie muss mir wieder einen Job geben. Sperbers ersten Fall, den mit dem kongolesischen Prinzen, hatten sie gemeinsam gelöst, er, Kriminaloberkommissarin Martha Kieninger und ihr Team vom bayerischen Landeskriminalamt. Sperber war damals als externer Berater engagiert worden. Doch danach war Ebbe gewesen. Kein neuer Fall. Keine Kohle. Schon seit Monaten nichts mehr. Sie ließ einfach nichts von sich hören. Seitdem lungerte Sperber umher wie ein Zombie. Er brauchte neuen Elan. Einen neuen Fall. Doch Martha meldete sich nicht. Und er hatte gedacht, sie wären Freunde geworden. »Blöde Nuss!«, fluchte er leise. Aber er mochte sie. Er trank den letzten Schluck aus seinem Glas und griff dann zu seinem Handy.

      »Martha, ja, hier ist Fritz.«

      »Ah, sieh an, der Silikon-Fritz. Na, was gibt’s?«, fragte Martha. Dieser bescheuerte Spitzname! Weil Sperber einen Arzt beim Landeskriminalamt bei einer Computertomographie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass die schwarzen Flecken auf dem Bild Silikon in der Brust einer Toten waren, hatte man ihm dort diesen Namen für immer verpasst, nagelfest. Er ärgerte sich, nahm sich jedoch zusammen.

      »Martha, ich brauche einen Job!«, stöhnte er.

      »Fritz, ich weiß. Und wenn wir hier einen exotischen Toten hätten, dann hätte ich dich längst engagiert. Zurzeit ist München einfach zu friedlich für dich! Ich melde mich, wenn wir dich wieder brauchen. Versprochen«, sagte sie sanft.

      »Kein toter Toter, aber eine tote Stadt! Was für ein albernes Leben. Nix los in Bayern«, beschwerte sich Sperber und legte auf.

      Wie langweilig war ihm, wie lustlos das Leben hier war. Keine Gefahren, keine Abenteuer, keine Idioten. Nur nette Leute um ihn herum mit ganz viel Verständnis!

      Damals, vor dem Anschlag auf seinen Hals, da war er herumgereist in der Welt und hatte an den unmöglichsten Stellen in den hinterwäldlerischsten Ländern nach Bodenschätzen gesucht. Rund um den Planeten. Und zum Mond wäre er auch geflogen, wenn ihn jemand mitgenommen hätte. Mit seinem Kumpel McMullen.

      Hach, McMullen, dieser Verrückte. Leise vor sich hin lachend fiel ihm das Husarenstück wieder ein, das McMullen und er im Norden Thailands vollbracht hatten, ein paar Tage, nachdem er McMullen damals in Mogok während des Erdbebens aus dem Stollen gezogen hatte.

      Sperber trank erneut einen kleinen Schluck Whisky. Der Schnaps kroch durch seine Adern in den Kopf, und sein pochender Schmerz ging in eine dumpfe Erinnerung über, die ihn fast dreißig Jahre nach Birma zurückversetzte.

      Sommer 1987

      Es war heiß und feucht, als Sperber und McMullen damals in Mogok angekommen waren. Mogok, hier begann das verbotene Tal. Wohin man auch einen Stein warf, so sagte man, sprangen einem die Rubine entgegen. Der Marmor in dieser Gegend war voll davon.

      Sein bester Freund McMullen, der Kanadier, hatte die kuriose Idee gehabt, für dieses Projekt in Birma anzuheuern. Eine kanadische Bergbaugesellschaft hatte von der Militärregierung Birmas den Auftrag erhalten, den Abbau der Rubine umzustrukturieren, den Bergbau wieder zum Laufen zu bringen. »Komm, mach mit!«, hatte McMullen Sperber aufgefordert, kurz nachdem sie beide ihr Studium abgeschlossen hatten. Nach ein paar Bier und einer halben Flasche Scotch hatte Sperber eingewilligt. Die Kanadier hatten den beiden tatsächlich einen vielversprechenden Vertrag gegeben. Ein Glücksfall, der ihnen viel Geld bescheren sollte. Sie waren jung, von Tatendrang beseelt und als Freunde unzertrennlich.

      Als sie nach Mogok kamen und die Minen besichtigten, holten die Arbeiter die Edelsteine barfuß und halbnackt aus den engen Gängen, die sie fast ohne Sicherung und Verbauung ins Gestein getrieben hatten. An den engsten Stellen wurden Kinder in die Minen geschickt. Auf Schritt und Tritt wurden die Arbeiter von Soldaten bewacht.

      »Was ist denn das für ein widerlicher Scheiß?«, hatte Sperber McMullen angepfiffen, als sie sich der Zustände zum ersten Mal gewahr wurden. »Hast du das gewusst?«

      McMullen stand sprachlos vor ihm und schüttelte langsam den Kopf. Ein kleiner Junge kam auf ihn zu und zeigte auf die Flasche in McMullens Hand. Er gab ihm zu trinken. Er sog an der Flasche, spuckte den milchigen Brei aus, der sich aus dem Marmorstaub der Mine und dem Wasser gebildet hatte, und trank die halbe Flasche leer. McMullen streichelte ihm den Kopf. Der Junge lächelte ihn an, drehte sich um und verschwand im Laufschritt.

      »Der hat Angst vor den Soldaten«, sagte Sperber.

      Hier gab es zwar die edelsten Rubine der Welt. Ihre göttliche Farbe machte sie wertvoller als gleich schwere Diamanten. Aber der Preis dafür war hoch. Die Menschen