Auch Agnes schien es zu fühlen, denn sie griff ein und lenkte das Gespräch ab. Als Diederich sich verabschiedet hatte, ging sie mit hinaus und flüsterte ihm zu:
„Morgen um drei bei dir.“
Vor jäher Freude griff er nach ihr und küßte sie, zwischen den Türen, während gleich daneben das Mädchen mit dem Geschirr rasselte. Sie fragte traurig: „Denkst du denn gar nicht daran, was mir passiert, wenn jetzt jemand kommt?“ Er war betroffen und verlangte als Zeichen ihrer Verzeihung noch einen Kuß. Sie gab ihn.
Um drei Uhr pflegte Diederich aus dem Café ins Laboratorium zurückzukehren. Statt dessen war er schon um zwei Uhr wieder in seinem Zimmer. Richtig kam sie noch vor drei. „Wir haben es beide nicht erwarten können! Wie wir uns liebhaben!“ Es war schöner als das erstemal, viel schöner. Keine Träne mehr, keine Furcht; und die Sonne schien herein. Diederich breitete Agnes’ Haar in der Sonne aus und badete sein Gesicht darin.
Sie blieb, bis es fast schon zu spät war, die Einkäufe zu machen, die sie zu Hause vorgeschützt hatte. Sie mußte laufen. Diederich, der mitlief, war sehr besorgt, daß es ihr schaden könne. Aber sie lachte, sah rosig aus und nannte ihn ihren Bären. Immer endeten nun so die Tage, an denen sie kam. Immer waren sie glücklich. Herr Göppel stellte fest, daß es Agnes besser gehe als je, und das verjüngte ihn selbst. Daher wurden auch die Sonntage jedesmal heiterer. Es dauerte bis abends, dann ward Punsch gemacht, Diederich mußte Schubert spielen, oder er und der Schwager sangen Burschenlieder und Agnes begleitete sie. Manchmal sahen sie sich nacheinander um, beiden war zumut, als werde ihr Glück gefeiert.
Es kam vor, daß im Laboratorium der Diener zu Diederich hintrat und ihm meldete, draußen sei eine Dame. Er stand sofort auf, stolz errötend unter den verständnisvollen Blicken der Kollegen. Und dann bummelten sie, gingen ins Café, ins Panoptikum; und da Agnes gern Bilder sah, erfuhr Diederich auch, daß es Kunstausstellungen gab. Agnes liebte es, vor einem Bild, das ihr gefiel, einer sanften, festtägigen Landschaft aus schöneren Ländern, lange stehenzubleiben, mit halbgeschlossenen Augen, und Träume auszutauschen mit Diederich.
„Sieh nur recht hin, dann merkst du, das ist kein Rahmen, es ist ein Tor mit goldenen Stufen, die gehen wir hinunter und über den Weg, und biegen die Weißdornbüsche weg und steigen in den Kahn. Fühlst du wohl, wie er schaukelt? Das kommt, weil wir die Hand durch das Wasser schleifen, es ist so warm. Drüben am Berg, der weiße Punkt, du weißt schon, es ist unser Haus, dahin fahren wir. Siehst du, siehst du?“
„Ja, ja“, sagte Diederich voll Eifer. Er kniff die Lider [pg 81]ein und sah alles, was Agnes wollte. Er geriet so sehr in Feuer, daß er ihre Hand nahm, um sie zu trocknen. Dann setzten sie sich in einen Winkel und sprachen von den Reisen, die sie machen wollten, dem sorgenlosen Glück in sonniger Ferne, von Liebe ohne Ende. Diederich glaubte, was er sagte. Im Grunde wußte er wohl, daß er bestimmt sei, zu arbeiten und ein praktisches Leben zu führen, ohne viel Muße für Überschwenglichkeiten. Aber was er hier sagte, war von einer höheren Wahrheit als alles, was er wußte. Der eigentliche Diederich, der, der er hätte sein sollen, sprach wahr. – Aber Agnes: wie sie nun aufstanden und gingen, war sie blaß und schien müde. Ihre schönen blonden Augen hatten einen Glanz, der Diederich beklommen machte, und sie fragte leise und zitternd:
„Wenn unser Kahn nun umgeschlagen wäre?“
„Dann hätte ich dich gerettet!“ sagte Diederich entschlossen.
„Aber es ist weit vom Ufer, und das Wasser ist schrecklich tief.“
Da er ratlos war:
„Wir hätten ertrinken müssen. Sag’, wärst du gern mit mir gestorben?“
Diederich sah sie an; dann schloß er die Augen.
„Ja“, sagte er mit einem Seufzer.
Nachher aber bereute er ein solches Gespräch. Er hatte wohl gemerkt, warum Agnes plötzlich in eine Droschke steigen und heimfahren mußte. Sie hatte krampfhafte Röte bis in die Stirn gehabt, und er sollte nicht sehen, wie sie hustete. Den ganzen Nachmittag bereute Diederich nun. Solche Sachen waren ungesund, führten zu nichts und machten Ungelegenheiten. Sein Professor [pg 82]hatte schon von den Besuchen der Dame erfahren. Es ging nicht länger, daß sie ihn wegen jeder Laune von seiner Arbeit wegholte. Er setzte es ihr schonend auseinander. „Du hast wohl recht“, sagte sie darauf. „Ordentliche Menschen brauchen feste Stunden. Aber wenn ich nun um halb sechs zu dir kommen soll, und am meisten geliebt hab’ ich dich schon um vier?“
Er fühlte Spott heraus, vielleicht sogar Geringschätzung, und ward grob. Eine Geliebte, die ihn an seiner Karriere hindern wollte, könne er überhaupt nicht brauchen. So habe er sich die Sache nicht vorgestellt. Da bat Agnes um Verzeihung. Sie wollte ganz bescheiden werden und in seinem Zimmer auf ihn warten. Wenn er noch zu tun hatte, oh! er brauchte keine Rücksicht zu nehmen. Das beschämte Diederich, er ward weich und überließ sich, zusammen mit Agnes, den Klagen über eine Welt, in der es nicht nur Liebe gab. „Muß es denn sein?“ fragte Agnes. „Du hast ein wenig Geld, ich auch. Warum Karriere machen und dich abhetzen? Wir könnten es so gut haben.“ Diederich sah es ein – nachträglich aber nahm er ihr es übel. Nun ließ er sie warten, halb mit Absicht. Sogar den Besuch politischer Versammlungen erklärte er für eine Pflicht, die der Zusammenkunft mit Agnes vorangehe. Eines Abends im Mai, wie er verspätet heimkam, traf er vor der Tür einen jungen Mann in Einjährigenuniform, der ihn zögernd ansah. „Herr Diederich Heßling?“ – „Ach ja,“ stammelte Diederich, „Sie – du – Sie sind wohl Herr Wolfgang Buck?“
Der jüngste Sohn des großen Mannes von Netzig hatte sich endlich entschlossen, dem Befehl seines Vaters zu folgen und Diederich aufzusuchen. Diederich nahm ihn mit hinauf, er fand so schnell keinen Vorwand, um ihn [pg 83]zu entfernen, und drinnen saß Agnes! Im Flur sprach er laut, damit sie es höre und sich verstecke. Mit Bangen öffnete er. Im Zimmer war niemand; auch ihr Hut lag nicht auf dem Bett; aber Diederich wußte wohl: sie war noch soeben dagewesen. Er sah es dem Stuhl an, der nicht ganz am Fleck stand, er fühlte es an der Luft, die noch leise zu schwingen schien vom Hindurchstreifen ihres Kleides. Sie mußte in dem fensterlosen kleinen Gelaß sein, wo sein Waschtisch stand. Er schob einen Sessel davor und murrte, unwirsch vor Verlegenheit, über die Wirtin, die nicht aufräume. Wolfgang Buck meinte, er komme wohl ungelegen. „O nein!“ versicherte Diederich. Er lud den Gast zum Sitzen ein und brachte Kognak. Buck entschuldigte sich wegen der ungewöhnlichen Stunde; der Dienst lasse ihm keine Wahl. „Das kennen wir“, sagte Diederich; und um Fragen zuvorzukommen, berichtete er sofort, daß ein Jahr schon hinter ihm liege. Er sei begeistert vom Militär, es sei das Wahre. Wer ganz dabei bleiben könnte! Leider riefen ihn Familienpflichten. Buck lächelte, ein weiches, skeptisches Lächeln, das Diederich mißfiel. „Nun ja, die Offiziere: man ist wenigstens unter Leuten mit guten Manieren.“
„Sie verkehren mit ihnen?“ fragte Diederich, und er meinte es höhnisch. Aber Buck erklärte einfach, daß er zuweilen in die Offiziersmesse geladen werde. Er zuckte die Achseln. „Ich gehe hin, weil ich es für nützlich halte, mich in allen Lagern umzusehen. Andererseits verkehre ich viel mit Sozialisten.“ Er lächelte wieder. „Manchmal möchte ich nämlich General werden und manchmal Arbeiterführer. Auf welche Seite ich schließlich fallen werde, darauf bin ich selbst neugierig.“ Und er trank das zweite Glas Kognak aus. „Ein ekelhafter Mensch“, dachte [pg 84]Diederich. „Und Agnes in der Dunkelkammer.“ Er sagte: „Mit Ihren Mitteln steht es Ihnen ja frei, sich in den Reichstag wählen zu lassen oder was Ihnen sonst Spaß macht. Ich bin auf praktische Arbeit angewiesen. Die Sozialdemokratie betrachte ich übrigens als meinen Feind, denn sie ist der Feind des Kaisers.“
„Wissen Sie das ganz genau?“ fragte darauf Buck. „Ich traue eher dem Kaiser eine heimliche Liebe für die Sozialdemokratie zu. Er wäre gern selber der erste Arbeiterführer geworden. Sie haben nur nicht gewollt.“
Diederich empörte sich. Das sei beleidigend für Seine Majestät. Aber Buck ließ sich nicht stören. „Erinnern Sie sich nicht, wie er Bismarck gegenüber gedroht hat, er wolle den reichen Leuten seinen militärischen Schutz entziehen? Er hat, wenigstens anfangs, gerade solche Rancüne gegen die Reichen gehabt wie die Arbeiter – wenn auch natürlich aus abweichenden Gründen, weil er sich nämlich schwer damit abfindet,