wenn sie meint, man weiß es nicht?“
„Mich nicht“, sagte Diederich noch geringschätziger. „Ich pfeife auch darauf.“
„Ihr Schade!“ Mahlmann lachte tobend – worauf er vorschlug, einen Bummel zu machen. Daraus ward eine Bierreise. Die ersten Gaslichter sahen sie beide betrunken. Etwas später, in der Leipziger Straße, bekam Diederich ohne Anlaß von Mahlmann eine mächtige Ohrfeige. Er sagte: „Au! Das ist aber doch eine –“ Vor dem Wort „Frechheit“ schrak er zurück. Der Mecklenburger klopfte ihm auf die Schulter. „Recht freundlich, Kleiner! Alles bloß Freundschaft!“ – und überdies nahm er Diederich die letzten zehn Mark ab ... Vier Tage später fand er ihn schwach vor Hunger und teilte ihm von dem, was er inzwischen anderswo gepumpt hatte, großmütig drei Mark mit. Am Sonntag bei Göppels – mit weniger leerem Magen wäre Diederich vielleicht nicht hingegangen – erzählte Mahlmann, daß Heßling all sein Geld verlumpt habe und sich heute mal satt essen müsse. Herr Göppel und sein Schwager lachten verständnisvoll, aber Diederich hätte lieber nie geboren sein wollen, als von Agnes so traurig prüfend angesehen werden. Sie verachtete ihn! Verzweifelt tröstete er sich. „Es ist alles [pg 23]eins, sie hat es schon immer getan!“ Da fragte sie, ob das Konzertbillett vielleicht von ihm gewesen sei. Alle wandten sich ihm zu.
„Unsinn! Wie sollte ich dazu wohl kommen“, entgegnete er so unliebenswürdig, daß sie ihm glaubten. Agnes zögerte ein wenig, bevor sie wegsah. Mahlmann bot den Damen Pralinees an und stellte die übrigen vor Agnes hin. Diederich kümmerte sich nicht um sie. Er aß noch mehr als das vorige Mal. Da doch alle meinten, er sei nur deswegen da! Als es hieß, der Kaffee solle im Grunewald getrunken werden, erfand Diederich sofort eine Verabredung. Er setzte sogar hinzu: „Mit jemand, den ich unmöglich warten lassen kann.“ Herr Göppel legte ihm seine gedrungene Hand auf die Schulter, blinzelte ihn aus gesenktem Kopf an und sagte halblaut: „Keine Angst, Sie sind natürlich eingeladen.“ Aber Diederich beteuerte entrüstet, daß es nicht daran liege. „Na, wenigstens kommen Sie wieder, sobald Sie Lust haben“, schloß Göppel, und Agnes nickte dazu. Sie schien sogar etwas sagen zu wollen, aber Diederich wartete es nicht ab. Er ging den Rest des Tages in selbstzufriedener Trauer umher, wie nach Vollziehung eines großen Opfers. Am Abend in einem überfüllten Bierlokal saß er den Kopf aufgestützt und nickte von Zeit zu Zeit auf sein einsames Glas hinab, als verstehe er jetzt das Schicksal.
Was war zu machen gegen die gewalttätige Art, in der Mahlmann seine Anleihen aufnahm? Am Sonntag hatte dann der Mecklenburger einen Blumenstrauß für Agnes, und Diederich, der mit leeren Händen kam, hätte sagen können: „Der ist eigentlich von mir, Fräulein.“ Indessen schwieg er, mit noch mehr Groll gegen Agnes als gegen Mahlmann. Denn Mahlmann forderte zur Bewunderung [pg 24]heraus, wenn er des Nachts einem Unbekannten nachlief, um ihm den Zylinder einzuschlagen – obwohl Diederich keineswegs die Warnung verkannte, die solch ein Vorgang für ihn selbst enthielt.
Ende des Monats, zu seinem Geburtstag, bekam er eine unvorhergesehene Summe, die seine Mutter ihm erspart hatte, und erschien bei Göppels mit einem Bukett, keinem zu großen, um sich nicht bloßzustellen, und auch, um Mahlmann nicht herauszufordern. Das junge Mädchen hatte, wie sie es nahm, ein ergriffenes Gesicht, und Diederich lächelte herablassend und verlegen zugleich. Dieser Sonntag deuchte ihm unerhört festlich; er war nicht überrascht, als man in den Zoologischen Garten gehen wollte.
Die Gesellschaft rückte aus, nachdem Mahlmann sie abgezählt hatte: elf Personen. Alle Frauen unterwegs waren, wie Göppels Schwestern, vollständig anders angezogen als in der Woche: als seien sie heute von einer höheren Klasse oder hätten geerbt. Die Männer trugen Gehröcke: nur wenige in Verbindung mit schwarzen Hosen, wie Diederich, aber viele mit Strohhüten. Kam man durch eine Seitenstraße, war sie breit, gleichförmig und leer, ohne einen Menschen, ohne einen Pferdeapfel. Einmal doch tanzte ein Kreis kleiner Mädchen in weißen Kleidern, schwarzen Strümpfen und ganz behangen mit Schleifen, schrill singend, einen Ringelreihen. Gleich darauf, in der Verkehrsader, stürmten schwitzende Matronen einen Omnibus; und die Gesichter der Kommis, die unnachsichtlich mit ihnen um die Plätze rangen, sahen neben ihren heftig roten zum Umfallen blaß aus. Alles drängte vorwärts, alles stürzte einem Ziel zu, wo endlich das Vergnügen anfangen sollte. Alle Mienen sagten hart: „Nu los, gearbeitet haben wir genug!“
Diederich kehrte vor den Damen den Berliner heraus. In der Stadtbahn eroberte er ihnen mehrere Sitze. Einen Herrn, der im Begriff stand, einen wegzunehmen, hinderte er daran, indem er ihn heftig auf den Fuß trat. Der Herr schrie: „Flegel!“ Diederich antwortete ihm im selben Sinn. Da zeigte es sich, daß Herr Göppel ihn kannte, und kaum einander vorgestellt, bekundeten Diederich und der andere die ritterlichsten Sitten. Keiner wollte sitzen, um den anderen nicht stehen zu lassen.
Am Tisch im Zoologischen Garten geriet Diederich neben Agnes – warum ging heute alles glücklich? –, und als sie gleich nach dem Kaffee zu den Tieren wollte, unterstützte er sie stürmisch. Er war voll Unternehmungslust. Vor dem engen Gang zwischen den Raubtierkäfigen kehrten die Damen um. Diederich trug Agnes seine Begleitung an. „Da nehmen Sie doch lieber mich mit hinein“, sagte Mahlmann. „Wenn wirklich eine Stange losgehen sollte –“
„Dann machen Sie sie auch nicht wieder fest“, entgegnete Agnes und trat ein, während Mahlmann sein Gelächter aufschlug. Diederich blieb hinter ihr. Ihm war bange: vor den Bestien, die von rechts und links auf ihn zustürzten, ohne anderen Laut als den des Atems, den sie über ihn hinstießen – und vor dem jungen Mädchen, dessen Blumenduft ihm voranzog. Ganz hinten wandte sie sich um und sagte:
„Ich mag das Renommieren nicht!“
„Wirklich?“ fragte Diederich, vor Freude gerührt.
„Heute sind Sie mal nett“, sagte Agnes; und er:
„Ich möchte es eigentlich immer sein.“
„Wirklich?“ – Und jetzt war es an ihrer Stimme, ein wenig zu schwanken. Sie sahen einander an, jeder mit [pg 26]einer Miene, als verdiente er das alles nicht. Das junge Mädchen sagte klagend:
„Die Tiere riechen aber furchtbar.“
Und sie gingen zurück.
Mahlmann empfing sie. „Ich wollte nur sehen, ob Sie nicht ausreißen würden.“ Dann nahm er Diederich beiseite. „Na? Was macht die Kleine? Geht es bei Ihnen auch? Ich habe es gleich gesagt, daß es keine Kunst ist.“
Da Diederich stumm blieb:
„Sie sind wohl scharf ins Zeug gegangen? Wissen Sie was? Ich bin nur noch ein Semester in Berlin: dann können Sie mich beerben. Aber so lange warten Sie gefälligst –“ Auf seinem ungeheuren Rumpf ward sein kleiner Kopf plötzlich tückisch anzusehen. „– Freundchen!“
Und Diederich war entlassen. Er hatte einen heftigen Schrecken bekommen und wagte sich gar nicht mehr in Agnes’ Nähe. Sie hörte nicht sehr aufmerksam auf Mahlmann, sie rief rückwärts: „Papa! Heute ist es schön, heute geht es mir aber wirklich gut.“
Herr Göppel nahm ihren Arm zwischen seine beiden Hände und tat, als wollte er fest zudrücken, aber er berührte sie kaum. Seine blanken Augen lachten und waren feucht. Als die Familie Abschied genommen hatte, versammelte er seine Tochter und die beiden jungen Leute um sich und erklärte ihnen, der Tag müsse gefeiert werden; sie wollten die Linden entlang gehen und nachher irgendwo essen.
„Papa wird leichtsinnig!“ rief Agnes und sah sich nach Diederich um. Aber er hielt die Augen gesenkt. In der Stadtbahn benahm er sich so ungeschickt, daß er weit von den anderen getrennt ward; und im Gedränge der Friedrichsstadt blieb er mit Herrn Göppel allein zurück. Plötz[pg 27]lich hielt Göppel an, tastete verstört auf seinem Magen umher und fragte:
„Wo ist meine Uhr?“
Sie war fort mitsamt der Kette. Mahlmann sagte:
„Wie lange sind Sie schon in Berlin, Herr Göppel?“
„Jawohl!“ – und Göppel wendete sich an Diederich. „Dreißig Jahre bin ich hier, aber das ist mir denn doch noch nicht passiert.“ Und stolz trotz allem: „Sehen Sie, das gibt’s in Netzig überhaupt nicht!“
Nun