Augustinus von Hippo

Ausgewählte Briefe


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einpräge.

       1.

      Wider Erwarten habe ich eine eigentümliche Erfahrung gemacht. Als ich nachsah, auf welche von deinen Briefen ich noch zu antworten hätte, da habe ich nur einen gefunden, mit dessen Beantwortung ich noch im Rückstande bin.Du verlangst in ihm, wir sollten bei der vielen Muße, die wir nach deiner Ansicht haben oder die du mit uns wünschest, dir anzeigen, welche Fortschritte wir inder Unterscheidung der geistigen und sinnlichen Natur gemacht hätten. Allein es kann dir nicht unbekannt sein: wenn Irrtümer den Geist je mehr umstricken, je mehr und je liebevoller man sich mit ihnen beschäftigt, so ist dies bei der Wahrheit in erhöhtem Maße der Fall.So schreiten wir zwar vorwärts, jedoch nur allmählich, gleichsam wegen Unreife des Alters. Denn da ein großer Unterschied zwischen einem Kinde und einem Jüngling ist, so wird jemand, der täglich seine Kindheit zu empfinden hat, sich nie für einen Jüngling erklären.

       2.

      Fasse bitte diese unsere Worte nicht so auf, als hätten wir in diesen Dingen durch die Kraft gesicherterer Erkenntnis eine gewisse Jugendfrische des Geistes erlangt. Denn wir sind noch Kinder, aber, wie man zu sagen pflegt, brave, nicht böse. Denn meistens bringt jene dir wohlbekannte Schlußfolgerung6 unseren umdüsterten und durch die Verstrickung in Sinnlichkeit ermüdeten Geistesaugen eine Erleuchtung, daß Verstand und Einsicht wertvoller seien als unsere Augen und der allen gemeine Anblick. Dies könnte nicht der Fall sein, wenn nicht auch der Gegenstand unseres Erkennens höher stünde als der unseres leiblichen Schauens. Erwäge nun bitte mit mir, ob gegen diese Schlußfolgerung etwas mit Grund einzuwenden ist. Indem ich vorläufig an ihr mich erfreue, Gott um Hilfe bitte und mich allmählich mehr und mehr zu ihm und zur Quelle aller Wahrheit erhebe, erfüllt mich mitunter ein solcher Vorgeschmack der ewigen Dinge, daß ich mich bisweilen wundere, jener Schlußfolgerung zu bedürfen, um zu glauben, was so offenbar gegenwärtig ist, als jeder sich selbst gegenwärtig ist. Denke auch du darüber nach; denn ich muß gestehen, daß du hierin sorgfältiger bist. Auch möchte ich nicht etwa ohne mein Wissen dir noch eine Antwort schuldig sein. Die so schnelle Entlastung von so vielen Geschäften, die mich früher drückten, hat mir nicht eingetragen, was ich davon erhofft hatte7. Übrigens zweifle ich nicht daran, daß du meinen Brief erhalten hast, obwohl ich die Antwort noch nicht in Händen habe.

      III. (Nr. 7.) An Nebridius

      Geschrieben im Jahre 389.

       An Nebridius.

      Inhalt. Nebridius hatte in einem Briefe8 behauptet: 1) die Erinnerung könne ohne Phantasie nicht bestehen; dagegen habe 2) die Phantasie ihre Bilder nicht von der sinnlichen Wahrnehmung, sondern sie bringe sie aus sich selbst hervor. Beide Ansichten werden von Augustinus bestritten; er behauptet gegenteilige Ansichten und erörtert sie. Schließlich warnt er seinen Freund vor der Gewalt der Phantasie.

       I. 1.

      Ohne eine lange Einleitung vorauszuschicken, will ich gleich von der Sache selbst sprechen, die ich nach deinem Wunsche erörtern soll, besonders da ich nicht so bald zum Ende kommen werde. Nach deiner Ansicht kann offenbar von Erinnerung keine Rede sein ohne Bilder und bildliche Vorstellungen, die du Phantasien zu nennen beliebt hast; ich bin anderer Meinung. Zuerst muß man hierbei beachten, daß wir uns nicht immer an schon vergangene Dinge erinnern, sondern häufig auch an noch bestehende. Wenn darum die Erinnerung die Kraft hat, die Vergangenheit festzuhalten, so ist daraus ersichtlich, daß sie sich erstreckt auf die Dinge, die uns verlassen haben, wie auf jene, die von uns verlassen werden. Wenn ich mich zum Beispiel an meinen Vater erinnere, so erinnere ich mich an das, was mich verlassen hat und jetzt nicht mehr vorhanden ist, wenn aber an Karthago, so erinnere ich mich an etwas noch Vorhandenes, das ich selbst verlassen habe. In beiden Fällen aber hält mein Gedächtnis die Vergangenheit fest. Denn an jenen Mann und an jene Stadt erinnere ich mich, insoferne ich sie gesehen habe, nicht weil ich sie sehe.

       2.

      Vielleicht fragst du hier „Was soll das?“ Zumal da du bemerkst, es finde in beiden Fällen die Erinnerung nur statt, weil man gesehen hat, was man sich vorstellt. Aber ich begnüge mich vorläufig, nachgewiesen zu haben, daß man auch von einer Erinnerung an Dinge, die noch fortdauern, sprechen kann. Nun aber merke recht genau auf, inwiefern diese Feststellung meine Beweisführung unterstützt. Es ereifern sich einige gegen jenen hochberühmten Satz des Sokrates9, in dem er behauptet: was wir lernen, werde nicht als etwas Neues in uns hineingelegt, sondern uns nur durch Wiedererwähnung ins Gedächtnis zurückgerufen; diese behaupten, die Erinnerung beziehe sich nur auf vergangene Dinge, was wir aber beim Lernen mit dem Verstande erfassen, sei nach Platos eigener Behauptung etwas Bleibendes und Unvergängliches, also nichts Vergangenes. Aber sie beachten dabei nicht, daß jenes Schauen, in dem wir jene Dinge einst geistig gesehen haben, in der Vergangenheit liegt und daß wir es jetzt, weil es uns entschwunden ist und wir nun andere Dinge sehen, in der Erinnerung, d. h. durch das Gedächtnis wiederschauen müssen. Wenn darum, um von anderem zu schweigen, die Ewigkeit selbst immer dauert und es keiner Phantasiegebilde bedarf, durch deren Vermittelung der Begriff Ewigkeit in unsere Seele gelangt, dieser Begriff aber andererseits nur durch Wiedererinnerung in unsere Seele kommen kann, so kann allerdings eine Erinnerung ohne irgendwelche Tätigkeit der Phantasie stattfinden.

       II. 3.

      Wenn du ferner der Ansicht bist, die Seele könne sich auch ohne den Gebrauch der Sinne materielle Gegenstände vorstellen, so erweist sich die Unhaltbarkeit dieser Behauptung auf folgende Weise. Wenn die Seele, noch ehe sie sich des Körpers zur Wahrnehmung sinnlicher Dinge zu bedienen vermochte, sich eben diese sinnlichen Dinge vorstellen konnte, wenn sie ferner, woran kein Vernünftiger zweifelt, sich in besserem Zustande befand, ehe sie in diese so leicht der Täuschung unterworfenen Sinne verstrickt war, so ist die Seele im Schlafe besser daran als im Wachen, besser im Wahnsinn als bei gesundem Verstande; denn sie schaut dann jene Bilder, die ihr vor jener überaus trügerischen Vermittelung der Sinne vorschwebten. Dann ist entweder die Sonne, die man im Schlafe oder im Wahnsinne sieht, wirklicher als die, die man wachend und bei gesundem Verstande sieht, oder es ist überhaupt die Täuschung der Wahrheit vorzuziehen. Wenn diese Annahme nun, wie es tatsächlich der Fall ist, ungereimt ist, so sind jene Phantasiegebilde, mein Nebridius, nichts anderes als eine uns von den Sinnen beigebrachte Wunde; es ist nicht, wie du schreibst, eine durch die Sinne angeregte Erinnerung, die solche Gebilde in der Seele erzeugt, sondern das Eindringen oder, deutlicher zu sagen, der Eindruck der Lüge selbst. Dein Einwand, wie es dann kommt, daß wir uns auch nie gesehene Gestalten und Formen vorstellen, besticht nur für den ersten Augenblick. Ich will deshalb bei diesem Briefe das gewohnte Maß überschreiten; bei dir darf ich es tun, da dir jener Brief am angenehmsten ist, in dem ich mich vor dir am redseligsten zeige.

       4.

      Alle jene Vorstellungen, die du mit vielen anderen Phantasiegebilde nennst, kann man, so viel ich sehe, am bequemsten und richtigsten in drei Gattungen einteilen. Die erste Gattung wird uns durch die Sinneswahrnehmung eingeprägt, die zweite durch willkürliche Annahme, die dritte durch Verstandestätigkeit. Beispiele der ersten Gattung sind es, wenn mir die Seele dein Antlitz oder Karthago oder unseren früheren Genossen Verecundus oder sonst eine entweder noch vorhandene oder bereits entschwundene Sache, die ich jedoch gesehen oder sonst mit den Sinnen wahrgenommen habe, vor Augen stellt. Zur zweiten Gattung sollen die Dinge gehören, von denen wir glauben, daß sie sich in einer bestimmten Weise verhalten haben oder noch verhalten; das ist der Fall, wenn wir der Erklärung halber bestimmte Beispiele setzen, die die Wahrheit beleuchten, und hierher gehören auch die Vorstellungen beim Lesen geschichtlicher Dinge oder wenn wir von seltsamen Vorkommnissen hören, solche selbst erdichten oder befürchten. So stelle ich mir ganz nach Belieben vor das Angesicht des Äneas, das der Medea mit ihren eingespannten geflügelten Schlangen, das eines gewissen Chremes oder Parmeno10. Hierher gehört auch, was entweder weise Männer vorgetragen haben, indem sie die Wahrheit in solche Bilder kleideten, oder was die törichten