Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes: Ein Skandal in Böhmen und andere Krimis (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch)


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schärfte sich so, daß ich nicht allein das ruhige Atmen meiner Gefährten vernahm, sondern sogar die tieferen, schweren Atemzüge des dicken Jones von dem leisen Gestöhn des Bankdirektors zu unterscheiden vermochte. Von meinem Platz aus konnte ich über die Kiste hinweg auf die Steine am Boden sehen. Plötzlich gewahrte ich einen winzigen Lichtstreifen.

      Erst zeigte sich nur ein fahler Schein auf den Steinfliesen; bald verlängerte sich dieser zu einem gelben Streifen, und ohne jeglichen Laut oder sonstiges Vorzeichen öffnete sich ein Spalt. Eine Hand erschien – eine zarte, weiße Hand, fast eine Frauenhand, die im Zentrum des kleinen Lichtkreises umhertastete. Etwa eine Minute lang ragte die Hand mit den suchenden Fingern aus dem Boden hervor. Dann verschwand sie plötzlich, wie sie erschienen, und es wurde wieder finster bis auf den einzigen fahlen Streifen, der die Spalte zwischen den Steinen verriet. Einen Moment war alles still. Jetzt erfolgte ein harter Stoß, eine Steinplatte hob sich und kippte um, und aus dem gähnenden Loch im Boden strömte das Licht einer Laterne. Ein scharfgeschnittenes, knabenhaftes Gesicht erschien in der Öffnung und blickte spähend umher; dann faßten zwei Hände an den Rand der Öffnung, herauf schwang sich ein Oberkörper, und im Nu kniete eine Gestalt am Boden. Rasch richtete sich der Mann auf und zog einen Gefährten nach – schmal und schmächtig wie er selber, mit einem blassen Gesicht und einer Fülle roten Haares.

      »Alles klar«, flüsterte der erste. »Hast du den Meißel und die Säcke? – Himmel und Hölle! Lauf Archi, lauf – ich laß mich an deiner Stelle hängen!«

      Sherlock Holmes war hervorgesprungen und hatte den Einbrecher am Kragen gepackt. Der andere verschwand im Loch; Jones erwischte gerade noch seinen Rockschoß, von dem ihm ein Fetzen in der Hand blieb. Das Licht schien in diesem Augenblick auf den Lauf eines Revolvers, aber Holmes’ Hirschfänger traf des Mannes Handgelenk, sodaß die Waffe klirrend auf den Steinboden fiel.

      »Es hilft alles nichts, John Clay«, sagte Holmes schmeichelnd, »Sie kommen nicht durch.«

      »Das merke ich«, erwiderte der andere mit völliger Gelassenheit. »Aber, wie mir scheint, kommt mein Gefährte glücklich davon, obwohl Sie, wie ich sehe, seinen Rockschoß haben.«

      »Drei Männer erwarten ihn an der Tür.«

      »Ah, wirklich! Sie scheinen die Sache recht gründlich gemacht zu haben. Ich muß Ihnen gratulieren.«

      »Und ich Ihnen«, erwiderte Holmes. »Ihr Einfall war neu und sehr wirksam.«

      »Sie werden Ihren Helfershelfer sogleich wiedersehen«, meinte Jones. »Der kriecht schneller durch die Löcher, als ich es vermag. Warten Sie, ich lege Ihnen gleich die Fesseln an.«

      »Ich bitte, mich nicht mit Ihren schmutzigen Händen zu berühren«, bemerkte unser Gefangener, als die Handschellen an seinen Gelenken rasselten. »Vielleicht wissen Sie nicht, daß fürstliches Blut in meinen Adern fließt. Haben Sie die Güte, mich ›Herr‹ zu nennen und ›bitte‹ zu sagen, wenn Sie mit mir reden.«

      »Ganz recht«, versetzte Jones und kicherte verdutzt. »So bitte ich den Herrn, sich gefälligst hinauf zu begeben, wo wir einen Wagen nehmen können, um Eure Hoheit nach der Polizei zu geleiten.«

      »Das klingt besser«, meinte John Clay zufrieden. Er verneigte sich höflich vor uns dreien und schritt gelassen unter der Führung des Detektivs davon.

      »Herr Holmes«, rief Merryweather, als wir den beiden aus dem Keller folgten, »ich weiß wirklich nicht, wie Ihnen die Bank das danken und vergelten soll. Sie haben ohne Zweifel den frechsten Bankeinbruch, der je geplant wurde, auf wunderbare Weise entdeckt und vereitelt.«

      »Ich hatte noch von früher her einiges mit John Clay abzurechnen«, erwiderte Holmes. »Mehrere kleine Ausgaben, die mir durch diese Angelegenheit erwachsen sind, wird die Bank wohl tragen, sonst aber finde ich reichliche Entschädigung in der gemachten Erfahrung, die in vieler Hinsicht einzig dasteht, sowie in meinem Vergnügen an der ergötzlichen Erzählung vom Bunde der Rothaarigen.«

      »Siehst du, Watson«, erklärte er mir, als wir in früher Morgenstunde in seiner Wohnung bei einem Glase Whisky und Sodawasser saßen, »es war vom ersten Moment an vollkommen klar, daß diese etwas tolle Geschichte mit der Anzeige des Bundes und dem Abschreiben der Encyklopädie keinen anderen Zweck haben konnte, als den nicht sehr ›hellen‹ Trödler täglich auf einige Stunden aus dem Wege zu schaffen. Das Mittel, dies zu erreichen, war sonderbar, aber ein besseres ließe sich schwerlich ersinnen. Ohne Zweifel kam John Clays erfinderischer Geist durch die Haarfarbe seines Mitschuldigen auf den Einfall. Die vier Pfund wöchentlich waren der Köder, und was lag an diesem Betrag, wo es sich um Tausende handelte. Sie rückten die Anzeige ein; der eine Taugenichts führt das zeitweilige Geschäft, der andere Taugenichts veranlaßt den Mann, sich um die Stelle zu bewerben, und zusammen sorgen sie dafür, daß er jeden Morgen in der Woche abwesend ist. Sobald ich erfuhr, der Gehilfe arbeite für halben Lohn, war es zweifellos, daß für ihn ernste Gründe vorlagen, sich die Stellung zu wahren.«

      »Aber wie konntest du seine Beweggründe erraten?«

      »Wären Frauen im Hause gewesen, so hätte ich einfach eine alltägliche Intrigue vermutet. Doch stand eine solche außer Frage. Das Geschäft des Mannes war bescheiden, und nichts im Hause vermochte solche abgefeimten Vorbereitungen und Auslagen zu rechtfertigen. Also mußte es sich um etwas außerhalb des Hauses handeln. Aber um was? Ich dachte an des Gehilfen Liebhaberei für das Photographieren, an seine Vorliebe im Keller zu verschwinden. Der Keller! Da lag die Lösung des Rätsels. – Ich zog Erkundigungen ein über diesen geheimnisvollen Gehilfen, und bald war es mir klar, daß ich es mit einem der kecksten und verschmitztesten Verbrecher Londons zu tun hatte. Er machte sich im Keller zu schaffen – und zwar mit etwas, das für Monate täglich viele Stunden erforderte. Was mochte das nur sein? Ich konnte mir nichts anderes denken, als daß er einen Gang zu einem anderen Gebäude grub.«

      »So weit war ich gekommen, als wir die Örtlichkeiten besuchten. Du stauntest, als ich mit dem Stock auf das Pflaster schlug; ich wollte dadurch herausbringen, ob sich der Keller nach vorn oder nach rückwärts erstreckte. Nach vorn war es nicht. Dann klingelte ich, und wie ich gehofft, erschien der Gehilfe. Obwohl sich unsere Wege schon einigemale gekreuzt, hatten wir einander doch noch nie gesehen. Ich blickte kaum auf sein Gesicht. Nur seine Kniee interessierten mich. Sie sprachen deutlich von jenem stundenlangen Graben. Nun fragte es sich nur noch, wonach gegraben wurde. Ich ging um die Ecke, fand, daß die City-und Vorstandtbank an das Grundstück unseres Freundes stieß, und wußte, daß ich des Pudels Kern gefunden hatte. Als du nach dem Konzert heimfuhrst, begab ich mich nach Scotland-Yard und suchte dann die Direktoren der Bank auf – mit welchem Erfolg hast du gesehen.«

      »Wie konntest du voraussetzen, daß sie heute nacht ihren Anschlag ausführen würden?« fragte ich.

      »Nun, daß sie das Kontor ihres Bundes schlossen, bewies, daß sie Herrn Wilsons Gegenwart nicht mehr fürchteten; mit anderen Worten: ihr Tunnel war vollendet. Sie hatten allen Grund, denselben schnell zu benutzen, da er entdeckt oder der Schatz fortgeschafft werden konnte. Der Sonnabend mußte ihnen günstiger sein als jeder andere Tag, weil er ihnen zwei Tage zur Flucht gewährte. Aus all diesen Gründen erwartete ich sie heute nacht.«

      »Das hast du prachtvoll ausgetüftelt«, rief ich, voll aufrichtiger Bewunderung. »Die Kette ist lang, und doch schließt jedes Glied.«

      »Mich rettet dieser Zeitvertreib vor Langeweile«, erwiderte er gähnend. »Ach! ich fühle schon, wie sie mich beschleicht. Mein Leben ist eine fortdauernde Anstrengung mich dem Alltäglichen zu entziehen. Diese kleinen Probleme verhelfen mir dazu.«

      »Und du wirst damit zum Wohltäter der Menschheit«, sagte ich.

      Er zuckte die Achseln. »Nun ja, vielleicht ist’s schließlich doch ein klein wenig nützlich«, bemerkte er. »›L’homme, c’est rien – l’oeuvre c’est tout‹, wie Gustave Flaubert an George Sand schrieb.«

       Englisch

      Ein Fall geschickter Täuschung