Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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als diese kulturelle Erweiterung des Weltwissens um die Idee Rußlands (denn diese hätte vielleicht schon Puschkin erreicht, wäre ihm nicht im 37. Jahre die Duellkugel durch die Brust gefahren) ist jene ungeheure Erweiterung unseres seelischen Selbstwissens, die ohne Beispiel ist in der Literatur. Dostojewski ist der Psychologe der Psychologen. Die Tiefe des menschlichen Herzens zieht ihn magisch an, das Unbewußte, das Unterbewußte, das Unergründliche ist seine wahre Welt. Seit Shakespeare haben wir nicht soviel vom Geheimnis des Gefühls und den magischen Gesetzen seiner Verschränkung gelernt, und wie Odysseus, der einzige, der vom Hades wiederkehrt, von der unterirdischen Welt, erzählt er von der Unterwelt der Seele. Denn auch er, wie Odysseus, war begleitet von einem Gotte, von einem Dämon. Seine Krankheit, ihn aufreißend zu Höhen des Gefühls, die der gemeine Sterbliche nicht erreicht, ihn niederschmetternd in Zustände der Angst und des Grauens, die schon jenseits des Lebens liegen, ließen ihn erst atmen in dieser bald frostigen, bald feurigen Atmosphäre des Unbelebten und Überlebendigen. Wie die Nachttiere in der Finsternis sehen, sieht er in den Dämmerzuständen klarer als andere am lichten Tag. Atemnah hat er dem Wahnsinn ins Gesicht geleuchtet, wie ein Mondsüchtiger ist er sicher über die Spitzen des Gefühls geschritten, von denen die Wachenden und Wissenden in Ohnmacht abstürzen. Dostojewski ist tiefer in die Unterwelt des Unbewußten gedrungen als die Ärzte, die Juristen, die Kriminalisten und Psychopathen. Alles, was die Wissenschaft erst später entdeckte und benannte, was sie in Experimenten gleichsam wie mit einem Skalpell von toter Erfahrung losschabte, alle die telepathischen, hysterischen, halluzinativen, perversen Phänomene, hat er voraus geschildert aus jener mystischen Fähigkeit des hellseherischen Mitwissens und Mitleidens. Bis an den Rand des Wahnsinns (den Exzeß des Geistes), bis an die Klippe des Verbrechens (den Exzeß des Gefühls) hat er den Phänomenen der Seele nachgespürt und unendliche Strecken seelischen Neulandes damit durchschritten. Eine alte Wissenschaft schlägt mit ihm das letzte Blatt zu in ihrem Buch, Dostojewski beginnt in der Kunst eine neue Psychologie.

      Eine neue Psychologie: denn auch die Wissenschaft der Seele hat ihre Methoden, auch die Kunst, die vorerst durch die Zeiten eine unendliche Einheit scheint, ewig neue Gesetze. Auch hier gibt es Wandlungen des Wissens, Fortschritte des Erkennens durch immer neue Auflösung und Determinierung, und so wie etwa die Chemie durch Experimente die Anzahl der Urelemente, der anscheinend unteilbaren, immer mehr verringert hat und im scheinbar Einfachen noch die Zusammensetzungen erkennt, so löst die Psychologie durch immer weiter schreitende Differenzierung die Einheit des Gefühls in eine Unendlichkeit von Trieb und Widertrieb auf. Trotz aller vorausschauenden Genialität einiger einzelner Menschen ist eine Grenzlinie zwischen der alten Psychologie und der neuen nicht zu verkennen. Von Homer und weit bis nach Shakespeare gibt es eigentlich nur die Psychologie der Einlinigkeit. Der Mensch ist noch Formel, eine Eigenschaft in Fleisch und Knochen: Odysseus ist listig, Achilles mutig, Ajax zornvoll, Nestor weise… jede Entschließung, jede Tat dieser Menschen liegt klar und offen in der Schußfläche ihres Willens. Und noch Shakespeare, der Dichter an der Wende der alten und der neuen Kunst, zeichnet seine Menschen so, daß immer eine Dominante die widerstreitende Melodik ihres Wesens auffängt. Aber gerade er ist es auch, der den ersten Menschen aus dem seelischen Mittelalter in unsere neuzeitliche Welt voraussendet. In seinem Hamlet erschafft er die erste problematische Natur, den Ahnherrn des modernen differenzierten Menschen. Hier ist zum erstenmal im Sinne der neuen Psychologie der Wille durch Hemmungen gebrochen, der Spiegel der Selbstbetrachtung in die Seele selbst gestellt, der um sich selbst wissende Mensch gestaltet, der zwiefach lebt, außen und innen zugleich, im Handeln denkend, im Denken sich verwirklichend. Hier lebt der Mensch zum erstenmal sein Leben, wie wir es fühlen, fühlt, wie wir Gegenwärtigen fühlen, freilich noch aus einer Dämmerung des Bewußtseins heraus: noch ist er, der Dänenprinz, umwoben vom Requisit einer abergläubischen Welt, noch wirken Zaubertränke und Geister auf seinen beunruhigten Sinn, statt bloß Wahn und Ahnung. Aber doch, hier ist es schon vollendet, das ungeheuere psychologische Geschehnis der Verzweifachung des Gefühls. Der neue Kontinent der Seele ist entdeckt, die zukünftigen Forscher haben freie Bahn. Der romantische Mensch Byrons, Goethes, Shelleys, Child Harold und Werther, den leidenschaftlichen Widerspruch seines Wesens zur nüchternen Welt im ewigen Gegensatz empfindend, fördert durch seine Unruhe die chemische Zersetzung der Gefühle. Die exakte Wissenschaft gibt inzwischen noch manche wertvolle Einzelerkenntnis. Dann kommt Stendhal. Er weiß schon mehr als alle Früheren von der kristallinischen Bildung der Gefühle, der Vieldeutigkeit und Verwandlungsfähigkeit der Empfindungen. Er ahnt den geheimnisvollen Widerstreit der Brust um jeden einzelnen ihrer Entschlüsse. Aber die seelische Trägheit seines Genies, die spaziergängerische Lässigkeit seines Charakters vermögen noch nicht die ganze Dynamik des Unbewußten zu erhellen.

      Erst Dostojewski, der große Zerstörer der Einheit, der ewige Dualist, dringt ein in das Geheimnis. Er oder keiner schafft die vollkommene Analyse des Gefühls. Bei Dostojewski ist die Einheit des Gefühls in eine Masse zerrissen, als wäre seinen Menschen eine andere Seele eingebaut wie all den früheren. Die kühnsten Seelenanalysen aller Dichter vor ihm scheinen irgendwie oberflächenhaft neben seinen Differenzierungen, sie wirken, wie etwa ein Lehrbuch der Elektrotechnik wirken mag, das dreißig Jahre alt ist, in dem eben nur die Anfangsgründe angedeutet und das Wesentliche noch nicht einmal geahnt ist. Nichts ist in seiner Seelensphäre einfaches Gefühl, unteilbares Element – alles Konglomerat, Zwischengangsform, Durchgangsform, Übergangsform. In unendlicher Verkehrung und Verwirrung taumelt und schwankt die Empfindung zur Tat, ein rasender Tausch von Wille und Wahrheit schüttelt die Gefühle durcheinander. Immer meint man, schon am letzten Grunde eines Entschlusses, eines Begehrens angelangt zu sein, und immer wieder deutet es wieder weiter zurück in ein anderes. Haß, Liebe, Wollust, Schwäche, Eitelkeit, Stolz, Herrschgier, Demut, Ehrfurcht, alle Triebe sind ineinander verschlungen in ewigen Verwandlungen. Die Seele ist eine Wirrnis, ein heiliges Chaos in Dostojewskis Werk. Es gibt bei ihm Trunkenbolde aus Sehnsucht nach Reinheit, Verbrecher aus Gier nach der Reue, Mädchenschänder aus Verehrung der Unschuld, Gotteslästerer aus religiösem Bedürfnis. Wenn seine Menschen begehren, tun sie es ebenso aus Hoffnung auf Zurückgestoßensein wie auf Erfüllung. Ihr Trotz, faltet man ihn ganz auf, ist nichts anderes als eine verborgene Scham, ihre Liebe ein verkümmerter Haß, ihr Haß eine verborgene Liebe. Gegensatz befruchtet den Gegensatz. Es gibt bei ihm Lüstlinge aus Gier nach dem Leiden und wieder Selbstquäler aus Gier nach der Lust, in rasendem Kreislauf dreht sich der Wirbel ihres Wollens. In der Begierde genießen sie schon den Genuß, im Genuß schon den Ekel, in der Tat genießen sie die Reue und in der Reue wieder, rückfühlend, die Tat. Es gibt gleichsam ein Oben und Unten, eine Vervielfachung der Empfindungen bei ihnen. Die Taten ihrer Hände sind nicht die ihrer Herzen, die Sprache ihrer Herzen wieder nicht die ihrer Lippen, jedes einzelne Gefühl ist so Zerspaltenheit, Vielfalt und Vieldeutigkeit. Nie wird es gelingen, bei Dostojewski eine Einheit des Gefühls zu fassen, nie, einen Menschen im Netz eines Sprachbegriffes zu fangen. Man nenne Fedor Karamasow einen Wüstling: der Begriff scheint ihn zu erschöpfen, aber doch, ist nicht Swidrigailow auch einer und jener namenlose Student in den »Werdenden«, und doch: welche Welt zwischen ihnen und ihren Gefühlen! Bei Swidrigailow ist die Wollust eine kalte, seelenlose Ausschweifung, er ist der berechnende Taktiker seiner Unzucht. Karamasows Wollust wieder ist Lebenslust, Ausschweifung bis zur Selbstbeschmutzung betrieben, ein tiefer Trieb, sich in das Niederste des Lebens noch einzumengen, nur weil es Leben ist, sein Unterstes, seinen Absud noch zu genießen aus einer Ekstase der Vitalität. Jener ist Wollüstling aus Mangel, der andere aus Exzeß des Gefühls, was bei diesem kranke Erregung des Geistes, ist bei jenem eine chronische Entzündung. Swidrigailow wieder ist der Mittelmensch der Wollust, der »Lasterchen« hat statt der Laster, ein kleines schmutziges Tierchen, ein Insekt der Sinne, und jener, der namenlose Student der »Werdenden« wiederum, ist Perversion geistiger Bosheit ins Sexuelle. Man sieht, Welten des Gefühls stehen zwischen diesen Menschen, die sonst ein einziger Begriff zusammenfaßt, und so wie hier die Wollust differenziert ist und aufgelöst in ihre geheimnisvollen Verwurzlungen und Komponenten, so ist bei Dostojewski jedes Gefühl, jeder Trieb immer zurückgeführt in die letzte Tiefe, in den Ursprung aller Kraftströmung, in jenen letzten Gegensatz zwischen Ich und Welt, Behauptung und Hingabe, Stolz und Demut, Verschwendung und Sparsamkeit, Vereinzelung und Gemeinschaft, zentripetale und zentrifugale Kraft, Selbststeigerung oder Selbstvernichtung, Ich oder Gott. Man mag die Gegensatzpaare nennen, wie es der Augenblick fordert, immer sind es letzte, sind es Urgefühle jener Welt zwischen Geist und Fleisch. Nie haben wir vor ihm von dieser wimmelnden Vielfalt des Gefühls, von unserer