Singen oder brüllt sein Mißfallen in rauhen Aufschreien ins Tal und wühlt sich endlich spät in der Nacht mit knurrenden Lauten zu kurzer Ruhe in den Waldhöhen ein.
In solchen Nebelnächten des Spätherbstes hört dann das Leben auf der Straße von Steindorf noch eher auf als sonst. Auch das Glockentürmchen auf dem Freirichtergute, das sonst immer als standhafter Wächter über die Dächer späht, verkriecht sich gar zeitig irgendwohin. Ganz stille schläft es. Nur beim wilden Aufschrei des zornigen Windes wacht es auf, und sein Glöckchen schlägt stotternd einigemal an, wie ein furchtsames Herz pocht, das sich seiner Pflichtvergessenheit bewußt wird. Dann eilt das Türmchen jedesmal auf das hohe, steile Dach des Wohnhauses, zerteilt mit seiner Fahne die schlafenden Nebel, lugt das Dorf hinauf und hinab und hüpft beruhigt wieder in sein Nest tief in der Finsternis.
Die Häuslein Steindorfs sind eine gar artige Schar. Sie gehen auch an hellen Abenden zeitig zur Ruh; in diesen Nebelnächten aber lassen sie ihren Bewohnern kaum soviel Zeit, die Geschirre des Abendessens vom Tisch zu räumen, rufen sie auf ihr Lager und löschen die Lichter aus.
August Klose, der Schuster-Guste genannt, aber hat ein waches Häuslein. Das erträgt das Licht des Lämpchens immer am längsten im Dorfe.
Alle Bewohner sind darüber ungehalten.
»Der Schuster ist eben nie gescheide! Was macht er denn aso lange? Beim teuern Lichte sitzen und Faxen aus a Bichern lesen, mehr wird ebens nie«, räsonieren sie.
Allein ihnen zum Trotze bleibt der Schuster oft bis um zehn Uhr nachts, sogar noch länger auf.
Heute aber hat er Gesellschaft in seiner niedrigen Stube. Die zerlesenen Schwarten liegen unberührt auf dem Wandbrett über der Holzbank, die um den Tisch läuft, und er sieht, die Ellenbogen gemächlich aufgestützt, durch den kleinen Lichtkreis auf sein Gegenüber.
Er sieht gespannt hinüber, mit jener Leidenschaftlichkeit in den Mienen, wie sie die Armut trägt, die ein Recht verteidigt.
»Nee, da darfst du nich erst kommen, dummer Kerle«, ruft er erregt, »dorte hat's Wasser. Verlaß dich of mich, ich bin mit'm Forstassessor Winkelmann vermessen gegangen, wer weeß wieviel Wochen. Ich kenn de Steene; aus m Grunde kenn ich se! Und dadruf alleene kommt's an. Bei dir aber is der beste Steen of Gotts Erdboden für een Born. Was denkst du denn! Plenter – Unterlage! 's hat ja nischt Scheeneres! Das is dir ein Steen, harte wie ne Ofenplatte. Zehn Jahre kann ein Troppen Wasser drauf stehn und sinkt nich ein.
Kurasche! Schaufel und Axt und druf! Eh's einwintert, bist du fix und fertig.«
Sein Gast hatte bei der Rede still dagesessen, den Kopf auf die Brust geneigt, die Hände zwischen die Knie geklemmt.
Nun hob er sein Gesicht, starrte über den Tisch und nickte mit seinem großen Kopfe nachdenklich ein paarmal. Dann erwiderte er: »Und wenn ich 's Geld neistecke und 's bleibt aus ...«
Schuster-Guste strich sich ärgerlich den gelben, harten Schnauzbart: »Nu, Karl, wenn du, und du gleebst's eben nie, da kann dir niemand helfen! Da bleibt dir eben weiter nischt ibrig, du verkeefst dei Wirtschaftl; denn ein Haus ohne Wasser is wie ein Kopf ohne Maul. Keefer findste ja. Der Freirichter paßt ja bloß druf. Verkeefs, zieh fort und pfeif of de Marie.«
Karl Exners bartloses Gesicht ward mürrisch wie ein Astknorren.
»Du sollst mir den Namen nich ins Maul nehmen!« schrie er ärgerlich.
»Ich wer dir se nich abspenstig machen. Wenn ich auch wollte. Da bin ich viel zu ein armer Teifel. Die will een, der mit'm Daumen fort kann. Das weeß ma schon.«
Mit einer bitter-ernsten Miene sah er vor sich nieder, indem er an seinem Schnurrbart kaute.
Mit tiefem Atemzuge, als schüttle er etwas ab, begann er von neuem.
»Na, die kann ja auch, wie die just is. Wie ne Pekunichruse und Haare wie geradewegs vom Goldschmiede. Die Marie!!«
Exners Backen ballten sich grimmig; er schluckte gewaltsam. Plötzlich hieb er auf den Tisch, daß es dröhnte.
Hinter der kleinen Tür an der rechten Wand regte es sich, und leise wankende Worte, einer Seele heimlich entflohen, stumm eine Strecke in die Luft gewandelt, wurden laut um sie. Gestaltloses Sprechen, das aus jener Stube zu rühren schien, in der die alte Mutter des Schusters schlief, und doch so klang, als ob der geformte Atem, fern von den Lippen, denen er entstammt, sich willkürlich zur Hörbarkeit rühre.
»Hörst's!« stotterte Exner. »Hörst's denn nie?« fragte er dringender in Angst, da der Schuster gleichmütig blieb.
»O ja«, antwortete er endlich, »de Mutter redt im Traume.«
Die Uhr holte zum Schlage aus und schlug sogar »zwölf«.
»Guste, 's is Mitternacht. Das is a Anzeechen«, redete Exner noch immer in tiefem Schrecken und starrte ins Leere.
»Wer denn? De Mutter? Nu, ja, 's a Anzeechen, daß se glei wach sein wird, wenn mr noch lange hier sitzen und plappern.«
»Treib kee Geheie, Schuster!« ermahnte Exner den Spötter. Der aber ward ärgerlich.
»Esel! mecht ma sprechen. Gleebst du denn wirklich an solche Tummheet?« fragte er geringschätzig. Dann kam er hinterm Tische hervor und streckte ihm die Hand entgegen.
»Aber gegraben wird!« mahnte er noch einmal. »Was will ich denn sonst anders machen!« antwortete Exner, noch immer aus einer Betäubung heraus und ging, ohne zu grüßen.
Draußen hing der dichte Nebel zwischen den Bäumen, daß es vollkommen finster war.
Exner wurde von dem Vorgefallenen noch ganz beherrscht und tat einige Schritte aufs Geratewohl vorwärts. Als er das weiche Gras unter seinen Füßen fühlte, erinnerte er sich, daß er nach Hause wolle, suchte in der Finsternis vergeblich nach dem Wege und blickte, um sich zurechtzufinden, in die Höhe. Da sah er zwischen den dunkleren Baumkronen die Richtung, die er zu nehmen hatte, als einen blassen Streifen stehen. Diesem folgte er, mit den Füßen auf der steinigen, steil ansteigenden Straße weitertastend. Je höher er hinaufstieg, desto heller wurde das bleiche Band über ihm, und desto deutlicher hoben sich eine Menge schimmernder Flecken darin ab. Nun trat er aus dem Nebel heraus, und spitz glitzerten über ihm in der tiefen Bläue der Nacht die Sterne. Darunter schwamm die milchweiße, schmale Sichel des Mondes wie der schimmernde Scherben eines zerschlagenen Bechers. »Derheeme«, murmelte er erleichtert, als gleich darauf ein einsames Gehöft an dem Walde im Dunkel sichtbar wurde.
Düster wie der Hintergrund, von dem es sich abhob, hatte es weit und breit keinen Gefährten. Verschlossen und stumm lag es da. Wie gierige Augen starrten seine kleinen glitzernden Fenster auf seine Wiesen und Äcker umher. Auch am Tage trat es nur wenige Stunden aus dem Dämmern des Waldes in das frohe, friedliche Licht der Erde.
Im Bannkreis dieses Geistes war Exner aufgewachsen, und nicht umsonst, er trug sein Vaterhaus in seiner Seele umher.
Vor zwanzig Jahren war er ein lustiger, wilder Junge gewesen. Kein Stein war ihm zu hoch, kein Graben zu tief: er hatte den Sprung gewagt. Da hatte er eines Tages, stundentief im Walde, auf seinen waghalsigen Streifereien den Fuß gebrochen. Lange hatte er hilflos allein gelegen und geschrien, bis aus seinem wunden Halse nur noch ein rauhes Stöhnen gedrungen war. Gegen Abend hatten ihn heimkehrende Holzmacher gefunden und auf einer Nähre aus grünen Tannenzweigen nach Hause getragen. Als der Vater den Knaben sah, geriet er in Wut, hieb ihn zur Hilfe durch und ging ärgerlich hinaus. Am andern Tage erbarmte er sich wohl seiner und sah sich den Fuß an, der nur mehr ein blutunterlaufener Klumpen war. »Kamillen und laues Wasser druf«, knurrte er mühsam und entfernte sich, ohne noch einmal zurückzusehen. Nach einem halben Jahre ging der Knabe aufrecht in der Stube; aber sein Fuß war klumpförmig verkrüppelt. Die Mutter weinte, als sie ihn so über die Diele humpeln sah. Der Vater erblaßte bis an die Zähne und verließ eilig das Zimmer.
Karl aber saß stundenlang auf einem Fleck und starrte stumm vor sich nieder. Wenn man ihn ängstlich aufriß, damit er »sich nicht versinne«, blickte er mit einem harten Ausdruck im Gesicht auf seine Umgebung. Die wilde Lustigkeit war seit dem Unglück ganz aus ihm geschwunden,