Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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auf dem Vorplatz auf, um Faber noch vor Beginn der Versammlung nahezutreten und ein Zusammensein in irgendeinem Gasthause mit ihm zu besprechen. Er kam nicht, und als nach Ablauf der zehnten Stunde aus der Tür des geistlichen Heims die schwarze Gestalt des Dr. Pfister trat, mußte auch ich das Klassenzimmer aufsuchen. Dort hockte die ganze Lehrerschaft der Umgegend schon mit seitwärts gedrückten Knien und ließ bei meinem eiligen Eintritt sofort von ihrem Geplauder ab. Eine Weile nach mir, noch ehe das Gespräch sich wieder erholt hatte, schritt durch die weit geöffnete Tür der geistliche Herr. Alle erhoben sich, so gut es ging, zum Zeichen der Achtung, und als nach dieser kleinen Aufregung jeder in den Marterbänken die bequemste Stellung wieder eingenommen hatte, saß vor mir in der ersten Bank Franz Faber. Er mußte unmittelbar hinter dem Konferenzleiter hineingeschlüpft sein und nahm so ruhig seinen Platz ein, als sitze er schon seit langem da, die linke Hand zwanglos um einige Blätter geschlossen. Dr. Pfister ernannte einen der städtischen Lehrer, der lang und mager war und ein spitzbübisches Slavengesicht hatte, mit einer wehmütigen Weiberstimme zum Protokollführer, nachdem er unter einem stereotypen Lächeln, als erzähle er Witzchen, die Konferenz eröffnet hatte. Während er stehend sprach, streckte er hin und wieder seine Fetthand über die Brüstung des Katheders und hob dabei den Zeigefinger, an dem der Ring der geistlichen Räte mit dem großen blauen Steine steckte. Bald danach stand Faber vor uns, sah einen Augenblick sinnend in sein Manuskript und begann dann, seine Arbeit vorzulesen. Das war nicht die volle und mutige Baritonstimme, mit der er mich vor dem Walde abgeschüttelt hatte, sie klang müde, wie erschöpft von langem, schnellen Laufen, hatte keine Tragkraft mehr, und alle Sätze wurden wie eine ganz belanglose Gleichgiltigkeit durch sie laut. So, als habe eine Krankheit von ihm Besitz genommen, klang sie. Still und bescheiden stand er da, die Schultern gesenkt, das scharfgeschnittene Gesicht blaß, mit dem Ausdruck einer bitteren Weichheit. Der Eindruck dieser Resignation fiel um so mehr auf, weil er in schroffem Widerspruch zu dem Geiste des Vortrages stand. Dieser begann mit der Feststellung der vollkommenen Rätselhaftigkeit des Lebens und der Seele des Menschen. Dann zeichnete er mit scharfen, sicheren Strichen die Stückhaftigkeit und den Widerspruch verschiedener philosophischer Systeme, um im Anschluß daran vor der urteilslosen Verhimmelung von Lehren zu warnen, deren alte Sätze nur durch rücksichtslosen Zwang als Wahrheiten aufrecht erhalten werden, und die nur durch Anwendung von Gewalt die große Zahl der Anhänger bei ihren Standarten erhalte. Denn auch sie ist wie aller Menschenwahn nur ein Weg zur Wahrheit. Ihre Wahrheit ist Suchen, und sie bringt nur jenen Ruhe, die bereit sind, sich innerlich zu töten. Ein unhörbarer Ruck ging bei diesen Worten durch die Zuhörer, viele senkten verschämt das Gesicht, als hätten sie eine Blasphemie gegen »die heilige Mutter Kirche« ausgesprochen, andere bekamen jenes blicklose Auge, womit feige Männer in den Augenblicken der Entscheidung sich wappnen, die mutigste Servilität aber räusperte sich ostentativ. Dr. Pfister langte mit mildem Lächeln seinen Bleistift her und schrieb etwas in sein Taschenbuch, darauf nahm er sein Haupt so in die Hand, daß uns der Ausdruck seines Gesichtes entzogen wurde. Die Luft war stockend und beklemmend von der Feindseligkeit der Seelen und schwer zu atmen. Faber sammelte mit einem flüchtigen Blick den Erfolg seiner Worte, bekam davon den Ansatz zu einem ironischen Lächeln um seinen Mund und las unbeirrt weiter, nur ein wenig gelassener, nein, demütig. Seine Arbeit beschäftigte sich nun mit dem Schlendrian der Ansichten innerhalb der gültigen Pädagogik, die weniger der Ausdruck des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft, als vielmehr der Standpunkt der staatlichen Auffassung von dem Zwecke des Menschen sei. Mit bitterem Sarkasmus sprach er von dem niemals existierenden Typus, den die Lehrer zwangsweise in das Kind hineinkonstruieren müssen, ohne mehr als sentimentale Aussicht auf das wirkliche Wesen des Kindes zu nehmen, das, jedes für sich, eine einzigartige Offenbarung des Universums, eine nie sich zum zweiten Male wiederholende Schöpfung darstelle.

      In den Sätzen glühte das verheimlichte Feuer eines einsamen Grüblers. Die müde Gelassenheit, mit der er diese Rebellion aussprach, wirkte direkt tragisch. Mir schnürte es die Brust zusammen, und ich rief mitten in seine Worte ein lautes »Bravo«, nur um mich innerlich zu entlasten. Denn das alles berührte mich weniger als Sache, sondern als das Bekenntnis eines Mannes, an dessen Ringen ich in so vielen Gesichtern der Nacht hatte Anteil nehmen dürfen. Ich sah kaum, wie Dr. Pfister seine Hand vom Gesicht nahm und mit mißbilligendem Erstaunen nach mir schaute, mir ging der folgende Hauptteil des Vortrages fast spurlos verloren, der von der Benutzung der Phrenologie, der Handkunde und noch anderen Hilfsmitteln für die Erkenntnis der Wesensart des Kindes handelte, ich saß da und starrte versunken in das Wesen dieses Mannes, das sich mir auftat wie ein geheimnisvoller, tiefer Gang. Plötzlich stockte der Redner. Ich schrak aus dem sinnenden Hinschwinden auf und bemerkte, wie Faber seine Blätter mit zitternder Hand senkte und mit einer tiefen Traurigkeit über uns hinsah. Doch nur einen Augenblick dauerte diese Unentschlossenheit. Eine trotzige Falte grub sich zwischen die Brauen, und mit erhobener Stimme las er die kurzen unvergeßlichen Schlußworte: »Die Freiheit der Menschheit gibt es nicht. Wir sollen die Kinder nicht von sich, sondern zu sich, – von uns erlösen. Seien wir demütige Diener, daß jeder Mensch zu seiner Freiheit gelange, die der unzerbrechliche Zwang und der Halt in aller Not ist. Vermögen wir uns zu der Ehrfurcht vor diesem ihrem Gott nicht hindurchzuringen, dann ist unsere Erziehung eine Gefahr, und wir sollten als Hinberufene von bannen gehen.«

      Er verbeugte sich. Keine Hand, sein Mund rührte sich zur Anerkennung. Voll Galle rief ich mein »Bravo!« Faber warf mir einen verweisenden Blick zu, und indem er die wenigen Schritte an seinen Platz tat, faltete er bedächtig die Blätter zusammen und ließ sie in seine Seitentasche gleiten. Die Erwartung eines Strafgerichtes erfüllte den Raum.

      Dr. Pfister drehte lächelnd den Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger, genoß eine Weile den Schrecken kleiner Seelen, dankte dann mit seiner Wöchnerinnenstimme dem »jungen Herrn« für seine Mühe und stellte den Vortrag zur Diskussion.

      Alles blieb still.

      »Da sich niemand zum Wort meldet,« fuhr er dann in weinerlicher Milde fort, »so möchte ich einiges erwähnen, was ich mir aufgeschrieben habe. Der Herr Vortragende hat mit viel Fleiß und Mühe vieles zusammengelesen und uns dargeboten, und wenn die Gesamtwirkung eine andere war, als er wohl erwartete, so habe ich nicht nötig, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Denn das hieße ihm das Vorrecht seiner Jugend verargen. Auch Ausdrücke wie »Tugendbold« und ähnliche sind wohl auf nichts als auf eine vorübergehende Vorliebe für Extravaganzen zurückzuführen. Nein, was mich schmerzlich berührt hat, das ist allein die Tatsache, daß in der Arbeit, die doch von der Erziehung der Kinderseele handelte, mit keinem Worte Jesu Christi, unseres einzigen Vorbildes gedacht worden ist.« Und nun gab er die Gallerte gewohnter Phrasen von sich, um zu schließen: »Alles Menschenstreben hat in alle Ewigkeit die Erkenntnis zum Ausgang, daß wir zum Wissen kommen, nichts zu wissen. Wir christ-katholischen Lehrer haben diesen langen Irrweg nicht notwendig, wenn wir uns bei Anfechtungen der Eitelkeit mit den Worten zu Gott wenden: Führe uns nicht in Versuchung!«

      Der spitzbübische Slave am Protokolltisch verzeichnete mit eifrigem Wohlgefallen die zerreibenden Sätze des guten Hirten.

      Franz Faber erhob sich und erklärte mit unsicherer und gepreßter Stimme, daß sein Thema laute: »Hilfsmittel der Erziehung«, daß aber Jesus Christus einem katholischen Lehrer doch mehr als ein Hilfsmittel sein müsse, und er habe es vermeiden wollen, die Anwesenden mit Beweisen eines Axioms zu langweilen.

      Trotz des starken Hiebes gegen Dr. Pfister waren seine Worte nichts als eine vollkommene Unterwerfung.

      In Scham starrte ich auf seinen Rücken, der sich ruhig gegen die niedrige Bank preßte.

      Der Vorsitzende nahm keine Notiz von Fabers Entgegnung; eine böse Falte legte sich quer über seine gut gepolsterte Stirn, und mit unterdrücktem Widerwillen in seiner Kastratenstimme lud er die Anwesenden ein, Erfahrungen und Fragen aus dem Amtsleben zum Besten zu geben. Niemand fühlte den Mut, Erfahrungen gehabt zu haben, und so erhob sich nach einer gewaltigen Prise der Slave zur Verlesung des Protokolls.

      Er hatte die Absicht des geistlichen Rates nur zu gut verstanden und dem Protokoll eine Fassung gegeben, die eine nur leicht verkappte Denunziation Fabers wegen unchristlicher Gesinnung enthielt, denn die Entgegnung des Vortragenden war unterschlagen worden.

      »Ich denke, es ist gut so?« fragte der Slave nach Beendigung der Vorlesung zu Dr. Pfister hinauf, und dieser lächelte zurück.