Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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sogar ihren Nachmittagsschlaf, um für die Krieger zu arbeiten und gleichzeitig Nesthäkchen zu beaufsichtigen. Na ja, alte Damen stricken eben gern, aber wenn man erst elf Jahre alt ist …

      Ob sie es einfach machen sollte wie Klaus, und sich heimlich davonschleichen?

      Ach nee, nee – dann ängstigte sich Großmama nachher, glaubte am Ende, sie sei vom Balkon gestürzt. Das wäre eine schlechte Vergeltung für all ihre treue Fürsorge.

      Da – horch – Militärmusik – gleichmäßiges Klappen vieler Füße auf dem Straßenpflaster. Hui – flog das Strickzeug in die Ecke und Nesthäkchen an die Balkonbrüstung.

      Aber auch Großmama war emporgeflogen, jäh aus ihrem Nickerchen aufgeschreckt. Jetzt stand sie hinter der Kleinen und hielt das sich weit über das Gitter lehnende Kind angstvoll am Schürzenbande fest.

      Mit »Gloria-Viktoria«, mit Schingderassa und Schnetteretteng marschierten wieder neue Regimenter blumengeschmückt dem unweit gelegenen Bahnhofe zu. Ihnen zur Seite Frauen und Kinder, die den Söhnen, Männern und Vätern das Geleit gaben. Früh und spät erschallte jetzt der Sang ausrückender Truppen durch die sonst so stille Straße. Er bildete Nesthäkchens schönste Abwechslung.

      Auf einen Schlag waren alle Balkone belebt. Aus allen Fenstern lugten Köpfe, Hände und Tücher winkten den Ausziehenden ein Lebewohl zu.

      Auch Nesthäkchen wedelte mit ihrem rotgerandeten Tüchlein, was Zeug hielt – Großmama mußte sich entsetzlich aufregen. Wie leicht konnte das Kind dabei hinunterstürzen! Aber das kümmerte Annemarie nicht. Alle Langeweile war verflogen. Von den Pelargonien und Bethunien des Balkons riß sie sämtliche Blüten, welche die Augustsonne noch hervorgelockt, zu Großmamas Entsetzen ab, und streute sie auf die lachend heraufwinkenden Feldgrauen.

      »Kind – Kind – die schönen Blumentöpfe zerstörst du«, vorwurfsvoll gebot Großmama Einhalt.

      »Für unsere Krieger müssen wir Daheimbleibenden Opfer bringen«, meinte die Kleine eifrig mit denselben Worten, welche die alte Dame vor kurzem ihr selbst ans Herz gelegt hatte.

      Da mußte Großmama über das drollige Mädel lächeln. Doch das Lächeln erstarb ihr auf den Lippen – »mein Tuch – mein Taschentuch – – –« bei einem Haar wäre Nesthäkchen ihrem davonflatternden Tüchlein hinterdrein auf die Straße gestürzt.

      »Ich bin gleich wieder oben«, ehe Großmama den Wildfang zurückhalten konnte, war er schon die Treppen hinunter.

      Einer der Feldgrauen hatte das rotrandige Tüchlein lachend auf sein Gewehr gespießt, wie eine Fahne wehte es.

      Annemarie, die in Wittdün stets ohne Hut und Mantel auf die Straße gegangen, lief auch hier in Berlin, wie sie ging und stand, hinter ihrem flatternden Taschentuch her. Es war schwer, sich bei der Musik verständlich zu machen, oder wollte der Soldat aus Scherz ihre Bitte um das Tuch nicht verstehen? Ausgelassen marschierte sie neben dem »Fahnenträger« her und fiel mit heller Stimme in den Soldatensang ein:

      »Die Vöglein im Walde,

       Die singen so wunder–wunderschön,

       In der Heimat, in der Heimat,

       Da gibt’s ein Wiedersehn.«

      Herzklopfend sah Großmama den winzigen roten Punkt unter all dem Staubgrau sich weiter und weiter entfernen. Du Grundgütiger, kam denn das Kind nicht wieder?

      Da endlich am Ende der langen Straße, ehe die graue Menschenschlange um die Ecke bog, erhielt Nesthäkchen ihr Eigentum zurück. In großen Sätzen sprang es wieder dem elterlichen Hause zu.

      So – das war eine Aufmunterung zur rechten Zeit gewesen. Ordentlich erfrischt fühlte sich Annemarie nach dem kleinen Ausflug.

      Großmama war anderer Ansicht.

      »Kind – Kind – wie habe ich mich wieder um dich gebangt – und dann ohne Hut, mit der Schürze bist du auf die Straße gelaufen, das tut ein wohlerzogenes kleines Mädchen doch nicht.« Die gute Großmama pflegte niemals böse auf ihren Liebling zu sein, um so mehr Eindruck machten heute ihre Worte.

      »Ach Großmuttchen, wenn du dich immerzu um uns sorgst, wirst du ja deines Lebens gar nicht froh hier bei uns. Vielleicht kannst du dich lieber immer erst hinterher ängstigen, weil du es doch so oft umsonst tust«, schlug die Kleine teilnehmend vor.

      Dann aber griff sie von selbst wieder nach ihrem Strickzeug. Die Krieger, die so freudig in den Kampf hinauszogen, sollten nicht frieren. Vielleicht bekam gerade der nette Soldat, der ihr das Taschentuch wiedergegeben, die Pulswärmer. Nesthäkchen quälte sich mit dem dicken Wollzeug, daß Schweißtropfen auf die gebräunte Kinderstirn traten. Es sah nicht auf, bis Hanne mit der Kaffeekanne erschien und Großmama ihr liebkosend über das Blondhaar fuhr: »So, für heute wollen wir es genug sein lassen, Herzchen.«

      »Hurra – für heute habe ich genug Opfer gebracht!« Nesthäkchen jubelte so laut los, daß ein kecker Spatz, der sich bis auf die Balkonbrüstung gewagt hatte, erschreckt aufflatterte.

      2. Kapitel

       »Extrablatt!«

       Inhaltsverzeichnis

      Hanne, die treue Alte, die Doktors Nesthäkchen schon auf den Armen getragen, war ganz aus dem Häuschen durch die Kriegsaufregung und die vielen Reden ihrer Freunde, des Grünkramhändlers, Milchmanns und Portiers. Sie wußte gar nicht mehr, was sie tat.

      Auch heute legte sie Großmama neben die Kaffeekanne zu Nesthäkchens heimlichem Entzücken die silberne Suppenkelle hin.

      »Ei, Hanne, soll ich den Kaffee mit der Kelle austeilen«, Großmama lachte mit ihrem Enkelchen um die Wette.

      »Nein, wir sollen sie gewiß als Kaffeelöffel benutzen und den Zucker in der Tasse damit umrühren«, rief Annemarie übermütig.

      »Nee, diese Russen, die machen mich doch reine varrickt«, Hanne griff kopfschüttelnd nach dem etwas groß geratenen Kaffeelöffel.

      »Na, warten Sie nur, Hanne, wenn die Russen erst vor Berlin stehen, dann wird’s noch ganz anders sein«, neckte Nesthäkchen. Es kannte die Russenfurcht der treuen Seele.

      Die war denn auch gleich Feuer und Flamme.

      »Um Jottes willen, tu dir nich versündigen, Kindchen. Bis vor Küstrin sollen ja schon die Kosaken streifen, hat der Portier, der heut mit sein Rejiment fortjemacht is, jesagt. Und der Milchmann hat heut morjen janz deutlich Kanonendonner jehört. Und was der Jrünkramfritze von nebenan is, der meint, kommen tun se sicher, die Russen, indem daß wir nämlich zu ville Feinde haben. Mit eenen werden wa woll fertig, aber nich mit det viertel Dutzend!« Hanne reckte ihre dicken, roten Arme, als sei ihr die schwere Aufgabe zugefallen, ganz allein Deutschland gegen all seine Feinde zu verteidigen.

      »Na, beruhigen Sie sich nur, Hanne«, Großmama, die sich vor kurzem selbst deshalb Sorgen gemacht, schaute jetzt belustigt drein. »Unsere tapferen Feldgrauen werden uns schon vor russischem Besuch zu schützen wissen. Auf sie müssen wir vertrauen in dieser schweren Zeit. Vor allem aber auf den Helfer da droben!«

      »Jotte doch, ja – wenn man der Herr Doktor und unsere jnädige Frau zu Hause wären, denn wär’ mich auch lang’ nich so miesepetrig zumut. Aber so auseinanderjerissen, wie man nu is, da fiehlt man natierlich die Verantwortung für die janze Familie. Denn Jroßmamachen ist doch auch jrade kein Jüngling nich mehr. Und man is doch nu schon über zehn Jahr im Haus.«

      »Ja, ja, Hanne, wir wissen ja, daß Sie’s gut meinen.« Großmama, die schon selbst besorgt genug war, mochte sich ihr gemütliches Kaffeestündchen nicht verstören lassen.

      Aber Hannes Mundwerk war mit Ausbruch des Krieges ebenfalls mobil gemacht, wenn sie jetzt anfing zu reden, hörte sie so schnell nicht auf.

      »Ja, und was ich noch sagen wollte, die Leute reden ja alle, es jibt sicher ’ne Hungersnot. Wie wild kaufen se ein. Was der Kaufmann von de