Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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      »Mein Portemonnaie – mein kleines Muschelportemonnaie mit zwanzig Mark«, stieß die Kleine, die doch so leicht nicht einzuschüchtern war, ganz ängstlich hervor.

      Da wurde die Miene des Unteroffiziers freundlicher.

      »Leute, hat einer von euch ein Portemonnaie mit zwanzig Märkern gefunden?«

      Keiner von all den vielen Soldaten. Nur der ältere Landwehrmann, der vorher schon so nett zu ihr gewesen, trat vor.

      »Melde gehorsamst, daß die Kleine in der Klasse, in der wir einquartiert sind, vorhin gewesen ist und ihr Taschentuch herausgezogen hat: vielleicht ist es ihr dabei entfallen.«

      »Gehen Sie mit, Müller, und suchen Sie mal nach«, befahl der Unteroffizier.

      Annemarie atmete auf. Sie machte dem Herrn Unteroffizier ihren schönsten Knicks und trabte hinter dem netten Landwehrmann her.

      Die Tische und Bänke waren bereits aus der Klasse herausgeräumt, Matratzenlager aufgeschlagen. Soviel die beiden auch suchten, das kleine Muschelportemonnaie blieb unsichtbar.

      Schweren Herzens mußte Doktors Nesthäkchen sich entschließen, den Heimweg wieder anzutreten. Unterwegs nahm Annemarie sich vor, Großmama zu bitten, den Verlust dem Junghelferinnenbund aus der eigenen Sparkasse ersetzen zu dürfen. Das würde ihr Gewissen dem kleinen Flüchtling gegenüber entlasten.

      Aber als Annemarie heimkam, lag mitten auf ihrem Kinderstubentisch das gesuchte und so heißbeweinte Muschelportemonnaie aus Wittdün mit den verlorengeglaubten zwanzig Mark für den Junghelferinnenbund. Das vergeßliche kleine Fräulein hatte es überhaupt nicht eingesteckt.

      10. Kapitel

       Vera

       Inhaltsverzeichnis

      Es regnete von morgens bis abends, tagelang, unaufhörlich. Echter, rechter Novemberregen. Die Straßen Berlins lagen blankgewaschen da, die Menschen hasteten, so schnell wie möglich wieder unter Dach zu kommen. Aber das Regengrau vermochte die siegesfreudige Stimmung der Bevölkerung nicht davonzuspülen. Keiner dachte an sich, wenn er bis auf die Haut durchnäßt heimkam, nur an die draußen.

      »Unsere armen Soldaten im Schützengraben!« so seufzte fast ein jeder, wenn er in das ungemütliche Wetter hinausblickte. Und legte man sich des Abends in sein warmes Bett, während der Regen gegen das Fensterblech trommelte, dann gönnte man es sich nicht, daß man es so gut hatte, während die tapferen Verteidiger in den feuchten Erdhöhlen lagen.

      Selbst Doktors Nesthäkchen kamen jetzt solche Gedanken, wenn sie sich in ihrer hübschen Kinderstube abends zur Ruhe legte. Es dachte dabei nicht nur an seinen Vater und an Onkel Heinrich, sondern an die vielen Tausende, die draußen freudig alle Entbehrungen auf sich nahmen.

      Nesthäkchen war in diesen grauen Regentagen mit seinem Frohsinn wieder mal der Sonnenschein des Hauses. Wie notwendig brauchte Großmama denselben. Woran lag es nur, daß ihre Tochter Elsbeth nicht schrieb? Es kamen doch Briefe aus England herüber, bekannte Familien hatten welche erhalten. Warum schrieb nur sie nicht? Auch die Abreise war in den ersten Tagen nach Ausbruch des Krieges deutschen Frauen noch gestattet worden. Aus welchem Grunde war sie dort geblieben, wo es sie in dieser Zeit doch sicher doppelt heimgetrieben? Großmama zerbrach sich ihren alten, weißhaarigen Kops und auch die Kinder ihren jungen. Nur daß es bei der Jugend nicht so nachhaltig war wie beim Alter.

      Annemarie hatte auch jetzt eine große Menge anderes zu denken. Ihre Schule war aufs neue verlegt worden. Diesmal nach dem Norden der Stadt. Das war für die meisten Schülerinnen, wie für die Lehrer, die im Westen Berlins wohnten, recht unbequem. Aber fürs Vaterland stand man sogar gern eine Stunde früher auf. Soviel Zeit mußte auf den weiten Schulweg gerechnet werden.

      Ganz dunkel war es des Morgens noch, wenn die beiden Freundinnen Margot und Annemarie sich auf den Schulweg machten. Hin und wieder brannten an den trüben Regentagen sogar noch die Gaslaternen auf der Straße. Eigentlich hätten sie eine halbe Stunde später aufbrechen können, denn sie bekamen von Hause jede zwanzig Pfennige zur Hin-und Rückfahrt mit der elektrischen Bahn. Doch die beiden kleinen Mädchen zogen es vor, bei dem schauderhaften Regenwetter zu Fuß zu gehen – die gesparten Groschen aber wanderten in die Schulkasse für die Weihnachtslazarettbescherung.

      Fräulein mußte es natürlich auffallen, daß Annemarie zeitiger als notwendig von Hause fortging, und daß sie so spät heimkam. Auch daß ihr Lodenmantel triefte, war merkwürdig, da sie eigentlich die ganze Strecke fahren konnte.

      Natürlich forschte Fräulein der Ursache nach, und die ehrliche Annemarie erzählte wahrheitsgemäß, wo ihre Fahrgroschen blieben.

      »Aber nicht wahr, liebes Fräulein, du verbietest es mir nicht? Unsere Krieger ertragen mehr als das bißchen Regen für uns.«

      Fräulein war nicht ihrer Meinung. »Ihr könnt euch auf den Tod erkälten, Annemiechen, wenn ihr mit feuchten Strümpfen und in den nassen Sachen den ganzen Vormittag in der Schule sitzt. Es genügt, wenn ihr bei trockenem Wetter den Groschen für die Verwundeten spart.« Dabei blieb es, trotz Nesthäkchens Bitten. Auch Margots Mutter hatte zum Glück die feuchten Wanderungen untersagt, so machten die Freundinnen nach wie vor den Schulweg gemeinsam.

      Nicht nur die Gegend und das Gebäude, es hatte sich auch vieles andere in der Schule geändert. Von den jüngeren Lehrern waren jetzt fast alle einberufen, überall wurden Lehrerinnen statt ihrer angestellt. Zwei der Lehrer waren bereits gefallen, das hatten die Schulkinder tief empfunden. Da war wohl keins, das ein ganz reines Gewissen besaß, daß es nicht mal Unsinn in den Stunden getrieben oder die Lehrer nicht zufriedengestellt hatte. Wie gern hätte man jetzt, da es zu spät war, gut gemacht.

      Aber auch der Schülerinnenkreis hatte manche Veränderung erfahren. Ostpreußenkinder, die mit ihren Eltern die Heimat verlassen mußten, waren eingeschult worden, manche auf Monate, manche nur auf Wochen. Aus Deutsch-Rußland und Polen waren viele deutsche Familien ausgewiesen oder geflüchtet, die ihre Kinder nun in Berlin in die Schule schickten.

      Auch in die sechste Klasse war ein kleines Mädchen aus Czernowitz eingeschult worden. Es hieß Vera Burkhard und sprach, trotzdem der Vater Deutscher war, fast nur Polnisch. Ein bildhübsches Kind war es, mit langen, schwarzen Locken, zartem Gesichtchen und ängstlichen, blauen Augen. Das arme Ding kam sich ganz verlassen unter all den fremden Kindern vor. Von ihrer Sprache verstand es nur das Wenigste. Auch was die Lehrerinnen in der Stunde sagten, vermochte die kleine Vera nicht zu erfassen. Meistens saß sie gelangweilt während des Unterrichtes dabei, oder sie trieb inzwischen etwas anderes. Statt mitzuschreiben, malte sie Püppchen und Tiere auf ihr Löschblatt. Die Lehrerinnen konnten sie nicht mal tadeln, denn die Kleine verstand sie ja nicht.

      Am schlimmsten aber erging es der kleinen Fremden in den Zwischenpausen. Wenn die andern Schülerinnen zusammen kicherten und lachten, wenn sie innig umschlungen oder zur langen Reihe eingehakt auf dem Schulhof auf und ab spazierten, dann stand Vera mit sehnsüchtigen Augen irgendwo allein in einer Ecke. Keins ging mit ihr von all den vielen Mädchen, keins forderte sie auf, an den lustigen Spielen im Hof teilzunehmen.

      Wie kam es denn bloß, daß die kleine Vera so vereinsamt war, daß sich alle Kinder geflissentlich von ihr zurückhielten? Sie hatten doch sonst weiche, warme Herzen, die empfänglich waren für fremdes Unglück. Und Vera war doch eine kleine Heimatlose wie all die anderen, die vor den russischen Kosaken geflüchtet!

      Gleich am ersten Tage war es gewesen. Da hatten Margot und Annemarie das fremde, kleine Mädchen, mit dem sie Mitleid hatten, aufgefordert, mit ihnen in der Pause zu gehen. Die Verständigung war auf die einfachste Art und Weise erfolgt. Von einer Seite hatte Annemarie, von der andern Margot den Arm der schwarzlockigen Vera durch den ihren gezogen, und dann hatten sie sich gegenseitig angelacht. Auch weiter wäre alles gut gegangen. Margot strich über das nette, grünschottische Kleid der neuen Freundin, zum Zeichen, daß es ihr gefiel, und Annemarie steckte ihr die Hälfte von der Schokolade, welche die gute Großmama ihr in die Frühstücksbüchse gelegt hatte, in den Mund. Dann sprachen die beiden Freundinnen