Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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      Ilse stand ratlos und nahm aus Verlegenheit einen ihrer langen Blondzöpfe in den Mund.

      »Flöhhatz,« trompetete es da plötzlich durch die Stille. Einen Augenblick saßen die Mädels starr über Annemaries Unverfrorenheit. Dann aber brach die Klasse in ein lautes, nicht zu bändigendes Gelächter aus.

      »Ruhe – ich verlange augenblickliche Ruhe!« Die Stimme der Oberlehrerin legte sich eisig auf das helle Mädchenlachen. »Annemarie Braun, du verläßt unverzüglich die Klasse.«

      »Ich habe nichts weiter getan, als ein Werk von Fischart genannt.« Annemarie schlug ihren Racine mit lautem Knall zu und verließ erhobenen Hauptes den Schauplatz ihrer Heldentaten.

      Aber so gleichgültig, wie sie sich äußerlich den Anschein gab, war ihr innerlich ganz und gar nicht zumute. Grenzenlos gedemütigt fühlte sie sich in ihrer Sekundanerwürde. Rausgeflogen war sie aus der Klasse – an die Luft gesetzt worden – die ganze Untersekunda war Zeuge ihrer Schmach gewesen – – Annemarie stieß wütend mit dem Fuß gegen den steinernen Flurboden, daß es laut durch die Stille hallte. Tränen der Auflehnung schossen ihr heiß in die Augen.

      So ließ sie sich nicht behandeln. O nein! Fräulein Neubert hatte kein Recht, sie vom Unterricht auszuschließen. Heute noch gründete sie einen Schülerrat, der beim Direktor vorstellig werden mußte. Das ließ sie sich nicht gefallen!

      Am liebsten wäre Fräulein Heißsporn sofort auf frischer Tat zum Direktor gelaufen und hätte sich über die ihr zugefügte Behandlung beschwert. Aber alles muß seine Ordnung haben. Gemeinsam mußten sie vorgehen, nur Einigkeit macht stark. Und wenn sie allein Beschwerde erhob, war es nichts weiter als ganz gemeines Petzen. Das hatte Annemarie Braun von klein auf verachtet.

      Piefkes Glocke erlöste Annemarie aus ihrer Verbannung. Möglichst unauffällig mischte sie sich unter die anderen Schülerinnen. Die hatten sofort, nachdem Fräulein Neubert die Klasse verlassen, das Katheder gestürmt.

      »Ihr seid alle fünf unter Tadel geschrieben, und Annemarie Braun hat einen Doppeltadel,« rief eine, die als erste das Klassenbuch erwischt hatte.

      Jämmerliches Schluchzen übertönte sie.

      »Ruhig, Kinder! Heule doch nicht wie ein mondsüchtiger Mops, Marianne. Der Tadel wird ja wieder gestrichen.« Vergeblich versuchte Annemarie Braun sich Gehör zu schaffen. Da sprang sie kurz entschlossen auf den Lehrerstuhl.

      »Ruhe!« schrie sie mit ihrer ganzen Lungenkraft in den Tumult hinein. Und nochmals: »Ruhe!«

      Wirklich, die Wogen der Erregung glätteten sich. Neugierig schaute alles zu der jungen Sprecherin hoch oben auf dem Kathederstuhl.

      »Schließt die Tür,« befahl Doktors Nesthäkchen. »Ich habe euch Wichtiges zu sagen.« Selbst Marianne Davis hielt im Jammern inne und spitzte neugierig die Ohren. »So geht das nicht weiter,« verkündete Annemarie den aufhorchenden Mädeln. »Wir dürfen uns eine derartige unwürdige Behandlung nicht länger gefallen lassen. Wißt ihr, was wir tun werden?«

      Keine wußte es.

      »Wir gründen einen Schülerrat!« Wie eine Offenbarung klang es.

      »Einen – was – – –?« Die Untersekunda wußte jetzt nicht mehr als zuvor.

      »Einen Schülerrat – habt ihr denn noch nie was davon gehört?« Doktors Nesthäkchen kam sich ungeheuer überlegen vor, trotzdem es selbst noch nicht allzulange das Wort in seinem Sprachschatz aufgenommen hatte.

      »Was ist denn das für ein Ding, so ein Schülerrat?« Dichter umdrängte man das Katheder.

      »Ein Schülerrat, das ist eben – na, wie kann man so was bloß nicht wissen! Ein Schülerrat ist eben ein – ein Schülerrat,« setzte die junge Rednerin höchst klar auseinander.

      Verdutzt sahen sich die Schulkameradinnen an.

      »Versteh’ ich nicht,« sagte Marlene Ulrich ehrlich.

      »Na, Schülerräte werden jetzt gegründet, damit wir uns nicht alles mehr von den Lehrern gefallen lassen müssen. Wir Schülerinnen haben auch unser Recht, seitdem wir eine Republik sind. Habt ihr in der Zeitung noch nichts von Arbeiterrat und Soldatenrat gelesen? Na also. Schülerrat ist so was Ähnliches.« Annemarie war ungeheuer stolz auf ihre Kenntnisse.

      »Ja, wie machen wir das denn, wenn wir solchen Schülerrat gründen wollen?« fragte eine zweifelnd.

      Annemarie zog die Stirn kraus und dachte angestrengt nach. Eine derartige Gründung war eine feierliche Handlung, die würdig begangen werden mußte. »Wir heben die rechte Hand hoch und sprechen alle zusammen die Worte der Eidgenossen auf dem Rütli: ›Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern – ach nee, Schwestern, in keiner Not uns trennen und Gefahr‹.«

      Das fanden sie alle sehr schön und feierlich. Nur Marlene gab zögernd zu bedenken: »Wenn uns Fräulein Neubert nur nicht wieder einen Tadel deswegen einschreibt.«

      »Kann sie ja gar nicht mehr, wenn wir erst unseren Schülerrat haben,« triumphierte Annemarie. »Also hebt die Hand hoch – die rechte, Vera – sprecht nach: ›Wir wollen sein ein einig Volk von Schwestern, in keiner Not uns trennen und Gefahr‹.« Laut und feierlich erschallte es durch die Untersekunda. Dreißig Hände hoben sich empor.

      »Nanu – führen Sie Wilhelm Tell hier auf?« erklang es da verwundert von der Tür her in den Schwur hinein. Professor Möbus betrat die Klasse zur französischen Stunde.

      Hui – war der Schwarm auseinandergestoben und auf den Plätzen. Keine dachte mehr an den soeben geleisteten Eid, in keiner Not sich zu trennen und Gefahr. Einsam thronte Doktors Nesthäkchen aus seiner Höhe. Annemarie war so verblüfft durch den plötzlichen Eintritt des Lehrers, daß sie das Heruntersteigen vergaß.

      »Nanu?« Kopfschüttelnd besah sich der Herr Professor die zu einer Statue erstarrte junge Dame. »Wollen Sie die Berolina vom Alexanderplatz darstellen, Braun?«

      Da kam wieder Leben in Annemarie. »Nee,« machte sie und war mit einem Satz herunter auf ihren Platz.

      Sehr viel Aufmerksamkeit war heute nicht in der französischen Stunde. Der Schülerrat spukte in den blonden und braunen Mädchenköpfen.

      »Um Mitternacht müssen wir zusammenkommen und den Eid ablegen, bei Mondschein, sonst ist es nicht ein bißchen poetisch,« flüsterte Ilse Hermann.

      »I wo, Bonbons müssen wir morgen alle mitbringen zur würdigen Feier,« schlug Marianne vor. Da war es wohl kein Wunder, daß die Übersetzung der »Athalie« nicht sehr flott ging, und die Nummern, die sich der französische Lehrer in sein Büchlein schrieb, nicht besonders ausfielen.

      Nach Beendigung der Stunde scharte man sich wieder um die Gründerin des Schülerrates.

      »Wir müssen einen Vorstand wählen,« schlug eine vor, deren Vater in vielen Vereinen tätig war.

      »Ja, natürlich« – »Annemarie Braun muß in den Vorstand« – »sie soll sich selbst die übrigen wählen.« Eine überschrie die andere.

      »Schön.« Annemarie nahm gnädig die Wahl an. »Ich wähle Marlene, Ilse, Vera und Marianne in den Vorstand.« Denn das war doch ganz selbstverständlich, daß sie vor allem erst ihre Kränzchenschwestern berücksichtigte.

      »Nee, lauter Freundinnen, das geht nicht,« erhob eine Widerspruch.

      »Und ich möchte auch gar nicht in den Vorstand,« wandte Marlene ein. »Erst muß ich sehen, wie die Sache mit dem Tadel verläuft. Muttchen wird schrecklich böse sein.«

      »Wir wollen gleich zum Direktor gehen und Beschwerde wegen der ungerechten Tadel erheben,« versuchte Annemarie sie zu überreden. Aber auch Ilse und Marianne hatten plötzlich die Lust verloren, in den Vorstand einzutreten. Zum Direktor gehen und Beschwerde gegen eine Lehrerin erheben – nein, das war doch zu riskant.

      Nur Vera, die Intima, blieb ihrem Schwur treu, in keiner Not sich zu trennen und Gefahr.

      »Drei müssen wir mindestens