Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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      Annemies Herz zitterte – nein, Tante Albertinchen war gut, die nahm eine Brezel. Aber morgen würde sie ganz sicher an verdorbenem Magen im Bett liegen!

      »Hast du gar keine Angst, daß du sterben mußt, Tante?« fragte die Kleine teilnehmend.

      »Meinst du, weil ich schon so alt bin, Herzchen?« erkundigte sich die Tante verwundert.

      »Nein – wegen des vielen – – – aber Muttchens verweisender Blick ließ Annemie ihre gastfreundliche Rede nicht zu Ende bringen.

      »Es ist Zeit für dich, wieder in das Kinderzimmer zu gehen«, sagte Mutti nachdrücklich.

      Tante bat für ihren Liebling.

      »Laß sie mir doch noch ein bißchen, ich habe sie ja so selten«, sagte sie und zog Nesthäkchen an sich.

      So mußte Annemie aus nächster Nähe mit ansehen, wie sich Tante die Brezel schmecken ließ. Was das bloß für eine dumme Mode war, daß Kinder immer nur den übriggebliebenen Kuchen erhielten!

      Wieder reichte Mutti der Tante den Kuchenkorb, wieder zitterte Klein-Annemaries Herzchen. Tante wollte durchaus nicht mehr nehmen, aber Mutti quälte: »Nur noch ein kleines Stückchen!«

      Tante Albertinchen griff, während sie sich mit Mutti weiter unterhielt, ohne hinzusehen, nach dem Kuchen.

      Nesthäkchens Augen wurden schreckensweit, und auch Gerda schaute entgeistert drein.

      Da lag er, der schöne Mohrenkopf – auf Tante Albertinchens Teller!

      Grenzenlose Enttäuschung quoll in Klein-Annemie empor, mit tränenerstickter Stimme rief sie: »Mein Mohrenkopf – das ist meiner!«

      Gerda war erstarrt über die Ungezogenheit ihrer kleinen Mama. Noch viel erstarrter aber war Mutti. Die kannte ihr sonst so artiges Nesthäkchen heute gar nicht wieder.

      Tante Albertinchen jedoch wandte sich freundlich um.

      »Ach, den wolltest du wohl haben?« Und mit gütigem Lächeln reichte sie der Kleinen ihren Teller mit dem ersehnten Mohrenkopf.

      Da aber legte sich Mutti ins Mittel.

      »Annemie hat heute keinen Kuchen verdient, sie war zu unartig! Ich hatte ihr die Marzipankartoffel verwahrt, aber das ist nur was für artige Kinder!«

      Soviel auch das gute Tante Albertinchen für Nesthäkchen bat, Mutti blieb fest.

      Die Marzipankartoffel bekam Hans, und der Mohrenkopf, den Tante Albertinchen nun auch nicht mehr essen mochte, wanderte in den Magen von Klaus.

      Annemarie aber hatte das Zusehen – etsch – das kam davon!

      11. Kapitel

       Knabber – knabber – Mäuschen

       Inhaltsverzeichnis

      Selten hatte auf Annemie eine Strafe solchen nachhaltigen Eindruck gemacht wie der Verlust des erträumten Mohrenkopfes. Tagelang dachte Naschmäulchen noch mit tiefem Bedauern an sein schönes, braunes Schokoladenkleid. Ihr liebstes Spiel war seitdem: Konditor.

      Die Mehl-und Vorkostbude wurde in einen Konditorladen umgewandelt. Annemie machte einen Knoten in jede Ecke ihres Taschentuches, da, hatte sie die feinste Konditormütze. Auch ihr Kurt bekam eine Taschentuchmütze. Er war der Konditorjunge und wurde »Fritze mit der Zippelmütze« genannt.

      Auf dem Ladentisch der Mehlbude aber baute der Herr Konditor gar verlockende Sachen auf. Da gab es Sandtorten in allen Größen, jeden Tag im Tiergarten frisch gebacken und dick mit Zucker bestreut. Aus einem von Mutti erbettelten Apfel fabrizierte Annemie Apfelkuchen, Apfelstrudel und Apfeltorte in ihrer kleinen, runden Blechform. Aus Pappe wurden kleine Torteletts ausgeschnitten und mit Kirschkernen belegt. Schokoladenplätzchen ergaben tadellose Schokoladentorten, statt Marzipankartoffel wurde eine richtige Schalkartoffel auf durchbrochenem Tortenpapier ausgestellt. Aber der Mohrenkopf – wo sollte sie den bloß hernehmen? Denn ohne Mohrenkopf war ein Konditorladen doch undenkbar!

      Annemie kam auf die seltsamsten Ideen. Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte sie ihrem Kinde, ihrer Lolo, den Kopf abgedreht, denn die Negerpuppe hatte doch einen Mohrenkopf. Aber zum Glück für die arme Lolo fiel Nesthäkchens Blick auf Fräuleins Strumpfkorb.

      Das braune Wollknäuel dort, das gab ja einen prächtigen Mohrenkopf, da würden sich die Puppen alle Finger nach lecken.

      Nun konnte das Spiel beginnen. Der Herr Konditor setzte seine Mütze auf, stellte Puppentischchen und Puppenstühle zurecht, falls jemand in der Konditorei Kaffee oder Schokolade zu trinken wünschte, und ließ »Fritze mit der Zippelmütze« als Kellner antreten.

      Klinglingling – da ging ja schon die Türschelle. Die erste Kundin kam hereingetrippelt. Es war Irenchen, aber sie stellte eine alte Dame vor und sprach mit zitternder Stimme.

      »Was wünscht die gnädige Frau?« Der Herr Konditor dienerte höflich bis zur Erde.

      »Ich möchte ein Kirschtortelett mit Schlagsahne«, bestellte die alte Dame und zitterte so sehr mit der Stimme, daß Annemie, die Konditor und Gäste in einer Person spielen mußte, ganz heiser wurde.

      »Jawohl – gnädige Frau – bitte einen Augenblick, Schlagsahne wird sogleich frisch geschlagen!«

      Die alte Dame nahm an dem kleinen Tischchen Platz und der Konditor nebst Fritze mit der Zippelmütze rasten zur Waschtoilette. Dort schlug der Herr Konditor mit seinem kleinen Schneeschläger aus der Puppenküche im Seifnapf herrlichen Seifenschaum. Der wurde über das Kirschtortelett aus Pappe gekleckst und von Fritze serviert. Leider tauchte ein Zipfel seiner etwas zu großen Zipfelmütze dabei in die Schlagsahne. Aber das störte die alte Dame durchaus nicht, sie ließ es sich trotzdem schmecken.

      Der Herr Konditor aber hatte schon wieder neue Kunden zu bedienen.

      Diesmal war es ein niedliches, kleines Schulmädchen. Gerda hieß es, und hatte Irenchens Schulmappe aufgeschnallt. Aber da gleich hinterher noch ein schönes Fräulein die Ladenglocke in Bewegung setzte, die sogar einen roten Sonnenschirm hatte, bediente der Herr Konditor erst das Fräulein. Denn Kinder können warten.

      »Was bekommt die Dame?« wandte er sich höflich an die Zuletztgekommene.

      »Für zwanzig Pfennig Streußelkuchen«, verlangte das Fräulein und zeigte mit der Porzellanhand auf den Apfelkuchen.

      »Das ist Apfelkuchen, meine Dame, darf es der vielleicht sein?« fragte der Konditor diensteifrig.

      »Ja, bitte, ich bin nämlich so kurzsichtig«, entschuldigte sich Mariannchen mit den verklebten Augen, denn sie war das schöne Fräulein.

      »Sonst noch etwas gefällig, meine Dame?«

      »Schicken Sie mir zu morgen noch eine Schokoladentorte, mein Name ist Fräulein Magenweh, gleich um die Ecke – adieu«, damit verschwand das Fräulein.

      »Empfehle mich – empfehle mich, meine Dame«, Annemie machte ganz genau die Stimme des dicken Konditors, der nebenan wohnte, nach. Aber da sie die Ähnlichkeit noch nicht treffend genug fand, stopfte sie sich noch ein Puppenbett unter die Schürze, um ebenso wohlbeleibt auszusehen.

      »Na, spielt meine Lotte schön – siehst du, heute bist du artig, da kann man dich liebhaben«, lobte die durchs Zimmer kommende Mutter. Sie unterzog mit Fräulein die Sommergarderobe ihrer drei Sprößlinge einer gründlichen Musterung. Darum mußte die Kleine sich allein beschäftigen.

      Nesthäkchen strahlte über das ganze Gesicht bei Muttis Lob. Es hatte ihr doch schwer auf der Seele gelegen, daß Mutti neulich, als Tante Albertinchen zu Besuch war, so unzufrieden mit ihrem Töchterchen gewesen war.

      Gleich aber erinnerte sich Annemie wieder ihrer Würde und sagte mit einem tiefen Diener: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau, Sie irren sich, ich bin nämlich der Herr Konditor und nicht Ihre Lotte! Wünscht die Dame vielleicht einen Mohrenkopf?«